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GZ #20 Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte

Gofigramm

Das Cover des Buches von Hassan Ali Djan: "Afghanistan. Deutschland. Ich." vom Herder Verlag.

In der Woche, in der ich noch kaputt von meiner OP auf dem Sofa gelegen habe, habe ich ein Buch gelesen, das mich sehr beeindruckt hat (Öffnet in neuem Fenster). Es ist die autobiographische Geschichte eines jungen Mannes aus dem Zentralgebirge Afghanistans, der mit 16 Jahren nach Deutschland flieht. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen, der Fußboden der Hütte ist aus Lehm, der Ofen ist ein Loch im Boden, geheizt wird mit Holz, Wasser gibt’s im Bach hinter dem Haus. Die Winter sind schneereich und hart.

Als Hassan 11 Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Und es ist klar: Jetzt ist es seine Verantwortung, die Mutter und die Geschwister zu versorgen, denn er ist der älteste Sohn. Mit 11. Er verdingt sich als Tagelöhner, wird geschlagen, hungert. Mit 12 hält er es nicht mehr aus und lässt sich mit Männern zusammen in den Iran schleusen. Dort schuftet er auf Baustellen. Mit 16 beschließt er, dass er nach Europa gehen muss, denn dort lässt sich leichter mehr Geld verdienen. Schließlich muss er noch immer die Familie versorgen. Er schlägt sich bis nach Griechenland durch. Dort gelingt es ihm, sich im Ersatzreifen eines LKW zu verstecken, der nach Norden fährt. Es ist Oktober. Hassan ist nur mit Jeans und T-Shirt bekleidet. 48 Stunden lang liegt er zusammengekrümmt im Reifen, der unter der Ladefläche des LKWs befestigt ist, atmet Dieselabgase, wird von Steinen getroffen, erleidet die Kälte. Mehrmals denkt er, er muss sterben. Als er München erreicht, fällt er halbtot auf den Asphalt.

Hassan ist stark und klug. Er kann weder lesen, schreiben noch rechnen, aber jetzt lernt er es. Er muss sehr viel Zeit totschlagen in seiner Flüchtlingsunterkunft, weil er nicht arbeiten darf, aber die nutzt er. Irgendwann hat er eine eigene Wohnung, später einen Job, macht eine handwerkliche Ausbildung. Zeitweilig arbeitet er in zwei Jobs gleichzeitig, denn er möchte seinen Schwestern das Studium in Kabul ermöglichen. Noch immer ist er der Versorger der Familie. Er heiratet eine junge Frau aus Marokko, stellt irgendwann fest, dass er inzwischen mehr deutsch, als afghanisch ist. 2005 erhält er die deutsche Staatsbürgerschaft. Er fühlt sich in Deutschland zu Hause.

Ich habe das Buch gelesen, weil einer meiner Charaktere in ‚Huchting‘ (und nachfolgenden Büchern) ebenfalls aus Afghanistan ist. Auch Sadiq ist mittlerweile Deutscher. Aber wenn ich versuche, mir vorzustellen, wie er wohl denkt und fühlt, fällt mir immer wieder auf, wie wenig ich über ihn weiß. So geht es mir mit vielen, die ganz normaler Teil der Gesellschaft sind, in der auch ich lebe. Ich würde das gerne ändern, denn wir können viel voneinander lernen. Hassan zum Beispiel ist ein Mensch, von dem ich mir einiges abschauen kann an Pflichtbewusstsein, Hartnäckigkeit und Hingabe.

Ja, natürlich denke ich jetzt auch an den jungen Afghanen, der in Aschaffenburg ein Kleinkind und einen Mann erstochen hat. Und ich bin sicher, auch Hassan hat die Nachrichten gelesen und ist genauso schockiert und entsetzt wie wir. Mich würde seine Meinung zu der Sache interessieren. Ich würde gerne wissen, ob er in den Jahren in den Flüchtlingsunterkünften, zusammengepfercht mit Menschen aus der ganzen Welt, auch solche getroffen hat, die psychisch am Abgrund standen. Wie könnte unsere Gesellschaft ihnen helfen? Wie sollte man mit ihnen umgehen? Vielleicht hätte er darauf eine Antwort, vielleicht auch nicht.

Ich vermute aber, dass er sagen würde: Bitte verwechsle nicht seine Geschichte mit meiner, auch wenn wir beide aus Afghanistan sind. Jeder Mensch steht für sich selbst, für das, was er tut und wie er lebt. Das gilt für jeden Menschen, egal, wo er herkommt und was er glaubt.

Ich wünsche Dir eine tolle Woche. Bis nächsten Montag!

Dein Gofi

Alternative zum Doom Scrolling

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Art2Go

Annett Günther: Das Portal

„Das Portal“, 34×48 cm, Mixed Media auf Acrylmalpapier, 2025

Annett schreibt zu diesem Bild: “Begonnen habe ich dieses Bild vor ein paar Monaten im Rahmen eines Online-Workshops, es ging um Seelenmedizin. Wie man durch die eigene künstlerische Auseinandersetzung Herausforderungen genau wie schöne Erfahrungen in das eigene Leben integrieren kann. Ein Thema, was mich schon länger begleitet und welches ich auch in meinen Workshops und in der Kunsttherapie anderen Menschen vermittle.”

Annett Günther ist Heilpädagogin, Künstlerin, Kunsttherapeutin, Naturliebhaberin und lebt in Aue/Sachsen. Sie malt seit sie ein Kind ist, probiert gerne unterschiedlichste Techniken aus und lässt gerne andere an ihren Erfahrungen teilhaben. (Zu ihrer Instagram-Seite (Öffnet in neuem Fenster))

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Podcast

Hossa Talk #252 Das göttliche Gebetsdilemma 

HOSSA TALK beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Christsein in einer komplexen, widersprüchlichen und manchmal chaotischen Welt leben lässt - tiefgründig, witzig und hemmungslos ehrlich.

Du kannst Hossa Talk überall abonnieren, wo es Podcasts gibt.

Was wenn sich unsere Gebetsanliegen widersprechen? 

Stell dir vor, du bist Christ*in und gehst in deiner Stadt zu einer Demo. Du tust das nicht zuletzt auch aus deiner christlichen Überzeugung heraus. Auch im Gebet bittest du Gott für die Anliegen, für die du auf die Straße gehst. Stell dir, du bist Christ*in und gehst in deiner Stadt zur Gegenveranstaltung der oben beschriebenen Demo. Du tust dies nicht zuletzt auch aus deiner christlichen Überzeugung heraus. Auch im Gebet bittest du Gott für die Anliegen, für (oder gegen) die du auf die Straße gehst. 

Ja, was ist denn dann eigentlich, wenn Gott von beiden Seiten bestürmt wird mit Anliegen, die sich widersprechen und gegenseitig ausschließen? Diese spannende Frage wurde zuletzt in der Hossa Talk-App diskutiert und Jay, Marco und Gofi haben das zum Anlass genommen sich diesem Thema nochmal ausführlicher zu widmen. 

Was passiert, wenn wir beten? Welche konkreten Auswirkungen hat das und macht das wirklich einen Unterschied? Oder ist es eher eine innere Haltung, die damit eingeübt wird? Und mal ganz ehrlich, was davon glauben wir eigentlich wirklich? 

Ein Gespräch über Gebet, Haltung und Empathie. 

https://open.spotify.com/episode/4FVMOXlXYGHe47XHGTYwYe?si=80c3d3cb5ab64be6 (Öffnet in neuem Fenster)

Micro Story der Woche

Endlich: eine Perspektive

Jens hat sich die Haare abgeschnitten. Seine Fingernägel hält er kurz. Jeden Morgen macht er Yoga direkt nach dem Aufstehen. Er atmet tief in sich hinein und versucht seinen Geist zu leeren. Katzenbuckel. Haltung des Kindes. Die Sphinx. Und über seine Variante zurück in den herabschauenden Hund. Anschließend Liegestütze. Er schafft inzwischen dreißig, sein Ziel sind hundert. Rückenmuskeltraining. Sit-ups. Zweimal die Woche geht er zum Boxen. Die letzte Mahlzeit des Tages isst er spätestens um fünf, die erste frühestens um neun. Alkohol trinkt er nur noch am Wochenende und das auch nur einmal im Monat. Meistens an einem Freitagabend und dann möglichst früh, damit der seinen Schlaf nicht zu sehr beeinträchtigt.

Er hat abgenommen, sieht jünger aus. Fitter. Nur seine Augen wirken müde, denn das rapide Abnehmen in kurzer Zeit kostet Energie. Und wenn er ehrlich ist, auch Lebensfreude. Aber Jens hat ein Ziel. Er will nicht alleine bleiben. Er ist noch nicht am Ende. Ihm ist aufgefallen, dass er viele Lebensträume noch gar nicht erlebt hat, ja, dass er sich von ihnen verabschiedet hat, ohne es zu merken, weil es klar zu sein schien, dass sie sowieso unrealistisch waren. Eines Tages gab es Esther, dann war da plötzlich Sebastian und schließlich Dorith. Das Projekt Familie war bereits im vollen Gang, als er merkte, dass es für alles andere zu spät war. 

Dieses Projekt ist gescheitert. Er ist unehrenhaft entlassen worden. Rausgeschmissen. Auf seine Mitarbeit kann verzichtet werden, da er ohnehin keine Hilfe gewesen zu sein scheint. Jens sieht das anders. Er weiß, dass er mehr Einsatz hätte zeigen können. Aber Esther wird sich schon noch wundern, wie sehr er jetzt fehlt. 

Egal. Er hat noch ein weiteres Ziel. Er will bei Franco anheuern. Türsteher werden. Warum nicht? Klar, er ist keine Sportskanone, kein Draufgänger. Er ist Fotograf, Feingeist, mehr der nachdenkliche Typ. Aber, sagt er sich, das sind doch gerade gute Qualitäten für den Job. Ich habe Menschenkenntnis. Ich bin besonnen. Ich kann Situationen entschärfen, bevor es rau wird. Und das bisschen Physis, auf das es dann doch ankommt, schaffe ich mir drauf. Muskeln lassen sich leichter aufbauen als Hirn. 

Franco überzeugt das nicht wirklich. Er ist bereit, ihm eine Chance zu geben. Mehr aber auch nicht. Wenn ihm klar werden sollte, dass der Job nichts für Jens ist, wird er ihm das sagen, Freundschaft hin oder her. 

Jens ist einverstanden. Er macht sich keine Sorgen. Bisher ist er aus jeder brenzligen Situation gut wieder herausgekommen. Das mit Esther ist eine Ausnahme, aber das ist ja auch etwas anderes.

An einem Abend im Januar ist es so weit. Franco plant ihn ein für einen Job in Ritterhude. Kohl-und-Pinkel-Essen, ältere Leute. Es sollte ein ruhiger Job werden. Denken sie. Aber dann eskaliert die Situation. Zu viel Alkohol macht auch in die Jahre gekommene Herrschaften unberechenbar. 

Als Jens einen Mann Mitte fünfzig an den Schultern packt, um ihn davon abzuhalten, einen anderen Mann um die sechzig zu schlagen, weil der einer Dame um die vierzig an die Brüste gegriffen hat, bekommt er einen Faustschlag auf das Auge und verliert die Kontrolle über sich. 

Bevor er sein Training bei der Kampfsportschule in Bremen-Süd begonnen hat, hat er noch nie zuvor einen Menschen geschlagen. Und auch beim Training schlägt er natürlich nur auf Pads oder beim Sparring auf den Kopfschutz des anderen. Doch die Technik hat er inzwischen ein wenig gelernt. Und die setzt er jetzt ein, ohne nachzudenken, ohne überhaupt zu realisieren, was er da tut. Seine Faust landet am Kiefer des Mannes und schickt ihn zu Boden. Franco ist da, packt ihn, dreht ihn zur Tür und brüllt, er solle rausgehen, eine rauchen oder sonst was machen.

Später, als sie zurück sind im Blanken Hans, macht er Jens klar, dass er dessen Zukunft nicht in der Türsteherei sieht. Und mittelfristig übrigens auch nicht auf seinem Sofa. Er fordert ihn auf, sich einen anderen Job und eine eigene Wohnung zu suchen. 

Das ist okay, denkt sich Jens. Er hat eine neue Idee. In Zukunft wird er besonders für andere Männer da sein. Als Coach und Influencer auf Instagram. Für Verbundenheit und inneren Frieden. Er möchte anderen dabei helfen, authentisch zu sein und emotional sicherer und sichtbarer zu werden. Als er sich auf Francos Sofa zusammenrollt, schläft er zufrieden ein. Endlich hat er eine Perspektive.

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