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Inside Arbeiterkind

Hindernisse auf dem Weg zu beruflichem Erfolg jenseits einer Überforderung am ersten Unitag

Die österreichische Journalistin Barbara Blaha hat letzte Woche für ein bisschen Wirbel in den sozialen Medien gesorgt, als sie in einem Twitter-Thread (Öffnet in neuem Fenster) und einem Tiktok-Video (Öffnet in neuem Fenster) auf die Schwierigkeiten von Arbeiterkindern aufmerksam machen wollte. Unglücklicherweise hat sie dafür ein Beispiel gewählt, das kaum etwas mit dem Bildungststatus zu tun hat, nämlich die Überforderung am ersten Tag in der Uni, den richtigen Seminarraum zu finden. Diese unglückliche Wahl führte dazu, dass ihr wichtiges Anliegen mehr Spott als Unterstützung hervorgerufen hat.

Ich bin kein klassisches Arbeiterkind, weil meine beiden Eltern nicht in Fabriken gearbeitet haben, aber da ich im weiteren Familienumfeld eins von drei Kindern mit Abitur und die einzige Akademikerin bin, entsprechen meine Erfahrungen sicher eher denen "einfacher" Kinder als denen von Kindern des Bildungsbürgertums. Auch wenn ich als weiße, einigermaßen normschöne junge Frau sicher weniger Steine in meinem Weg hatte als etwa Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund.

Meine Mutter war zeitlebens Schreibkraft mit Realschulabschluss, mein Vater der klassische Under-Achiever, also ein Hochbegabter, der sich in einem Dickicht aus Prägung, mäandernden Interessen, Einzelkämpferei und der unbarmherzigen Forderung der Gesellschaft nach Stromlinienförmigkeit verhedderte und seine Intelligenz sehr lange nicht in beruflichen Erfolg übersetzen konnte. Er war Zeitsoldat, bis ich acht Jahre alt war, danach folgen mehrere unglückliche Versuche, sich in unterschiedlichen Branchen selbstständig zu machen, und Phasen der Arbeitslosigkeit, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch emotional eine tiefe Wunde in unsere Familie rissen. Meine Eltern haben mich immer zu einem Studium ermutigt und auch mit meinen Lehrkräften hatte ich seit der Grundschule viel Glück. Sie haben unterstützt, gefördert, ermutigt, was weder damals noch heute eine Selbstverständlichkeit ist und mir viele zusätzliche Hindernisse erspart hat. Dennoch bestand mein soziales Umfeld bis zum Studium vorwiegend aus anderen Nicht-Akademikerkindern, mit und ohne Migrationshintergrund. Das nur als Einleitung zu meinem persönlichen Hintergrund.

Die nicht-schulische Bildung ist begrenzt

Wo Akademikerkinder ganz organisch in Kontakt mit nicht-schulischer, kultureller Bildung kommen, weil die Eltern Bücher, Filme, Musik konsumieren, die über das tägliche TV- und Radioniveau hinausgehen, fehlt diese organische Nähe bei Nichtakademikerkindern. Meine beiden Eltern haben zwar immer viel gelesen, aber es fand sich eher Bestseller-Bellestristik als Hochliteratur. Das, was man heute so als klassische Bildung bezeichnet, gab es bei uns nicht, weder musikalisch noch literarisch.

Die Klassiker der Literatur? Never heard of her. Klassiche Musik? Ich hörte das erste Mal bewusst klassische Musik, als der Film "Amadeus" von Milos Forman im Fernsehen lief – ich war vielleicht 14. Ich kann mich nicht daran erinnern, vorher je diese Art von Musik überhaupt gehört zu haben.

Als ich während der Pubertät und noch später im Studium durch Freundinnen erfuhr, dass es auch Musik außerhalb der Radiocharts gab, war ich richtiggehend perplex. Das klingt erschütternd naiv, aber ich musste diese Welt außerhalb meines Zuhauses erst entdecken.

Und dann feststellen, dass ich vieles, was zu einer klassischen Bildung gehört, nicht kannte, was wiederum Scham auslöste. Ich schämte mich meiner Bildungslücken. Sie waren lange ein wunder Punkt, und wenn man einen wunden Punkt hat, merkt man überhaupt erst, wie oft auf diese Bildung referenziert wird, wie oft wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass man weiß, worum es geht. Solange mein kindlicher und pubertärer Freundeskreis aus Kindern bestand, deren eigener Horizont meinem weitgehend entsprach, war das nicht wild, aber spätestens mit dem Sprung ins Studium und damit einem vollständigen Wechsels des Milieus wurde mit meine unzureichende Bildung unangenehm bewusst.

Natürlich kann man an dem Punkt beginnen, einiges aufzuholen, aber ein Rückstand blieb immer bestehen. Und damit immer auch die Erinnerung daran, dass ich meine nicht-schulische, nicht-universitäre Bildung von einer anderen Position aus begonnen habe als Kinder, deren Familie seit Generationen aus Akademikern besteht.

Der innere Widerstand

Ohne den organischen Kontakt mit diesen Bildungsgütern erscheinen sie immer fremd. Natürlich kann ich mir "Die Buddenbrooks" vornehmen oder mich durch die siebzehn wichtigsten Stücke von Bach und Beethoven kämpfen, aber es fühlt sich immer ein wenig so an, als beschäftige ich mich mit etwas, "das nichts für mich ist". Bis heute ist mein erster Impuls, wenn mir jemand ein philosophisches Buch empfiehlt, zu denken, dass das ohnehin zu hoch für mich ist. Ich muss immer erst einen inneren Widerstand bekämpfen, um mir "höhere" Bildungsgüter zu erschließen. Nicht, weil es mich nicht interessiert, sondern weil ich diese Güter immer als außerhalb meiner Welt wahrgenommen habe. Außerhalb meiner Reichweite. Und damit auch irgendwie außerhalb meiner Berechtigung.

Durch die Ehe mit meinem damaligen Mann kam ich plötzlich in die Reichweite von Menschen, die ich als "Intellektuelle" empfand. Und die Idee, ihnen zu begegnen, mit ihnen zu sprechen, und dabei als ungebildete Proletin erkannt zu werden, löste inneren Stress aus. Vieles davon habe ich überwunden, ich tausche mit heute mit klugen Köpfen ohne diese krasse Versagensangst aus, aber diese leise Stimme, die mir sagt, "Du gehörst da nicht hin, die sind intellektuell und du nicht" ist immer geblieben. Die Frage, ob ein Kind organisch mit Hochkultur aufwächst oder eben nicht, trägt eben auch zu einem Selbstbild und Selbstverständnis bei. Ich habe mich immer viel, viel näher an der "Arbeiterschicht" gesehen als am Bildungsbürgertum. Als mich das erste Mal jemand als intellektuell und Bildungsbürgerin bezeichnet hat, bin ich fast wütend geworden, weil diese Begriffe so fern von meinem familiären Hintergrund waren.

Das heißt, um mit Menschen mit höherem Bildungshintergrund gleichzuziehen, muss man nicht nur die empfundene Fremdheit bestimmter Bildungsgüter überwinden, sondern auch einen inneren Widerstand.

Keine Unterstützung durch ähnliche Erfahrungen

Als Akademikerkind aus einer Nichtakademikerfamilie macht man alle Erfahrungen zum ersten Mal. Keine Mutter, kein Vater kann aus eigener Erfahrung Tipps geben. Tipps für das Lernen, wo es die günstigsten Fachbücher gibt, welche Instanz an der Uni man wofür braucht, wo man sich einbringen sollte, wo nicht. Universitäre Grundsätzlichkeiten. Über nichts, was an der Uni passierte – weder soziale Dynamiken noch administrative Prozesse – konnte ich mich mit meinen Eltern austauschen. Natürlich habe ich ihnen vieles erzählt und sie waren auch interessiert, aber sie konnten mangels eigener Erfahrungen nur wenig beitragen. Irgendwann stößt man im Gespräch immer an eine Wand.

Zusätzlich zu der Fremdheit, die man umgeben von Studierenden mit anderem Bildungsstand an der Uni empfindet, kommt also eine gewisse Isolation innerhalb der eigenen Familie hinzu. Die emotionale Unterstützung durch meine Eltern war bei mir meistens gegeben, aber viele Arbeiterkinder erleben nicht einmal das. Das Eltern und Kind trennende Element – die akademische Ausbildung des Kindes – wird ausgespart und weggeschwiegen, mitunter sogar schlecht geredet. Das hat vermutlich etwas mit der gefühlten Unzulänglichkeit oder Unterlegenheit der Eltern zu tun, aber dennoch ist es ein weiteres Gewicht am Fußgelenk des Arbeiterkindes auf dem Weg in die akademische Welt.

Dieser Mangel an Erfahrung zeigt sich auch im Verdienst. Im ersten Job nach dem Studium setzen Nichtakademikerkinder Gehaltsforderungen zu niedrig an, denn sie wissen nicht, welches Gehalt angemessen wäre (Öffnet in neuem Fenster).

Weniger finanzielle Mittel

Apropos Geld: Studieren kostet Geld, den Horizont erweiternde Erfahrungen kosten Geld. Neben Studiengebühren und unfassbar teurer Fachliteratur kommen ggf. Ausgaben für Ausrüstung (zu den Anforderungen in Biologie gehörten ein komplettes Sezierbesteck, Laborkittel, Schutzbrille) und Freilandexkursionen hinzu. Zusätzliche Weiterbildungsangebote wie Auslandssemester oder unbezahlte Praktika fressen zusätzliche Geldmittel.

Nun verdienen Akademiker und Nichtakademiker deutlich unterschiedlich. Auf das gesamte Arbeitsleben gerechnet verdienen Akademiker über zwei Millionen Euro, während ausgebildete Fachkräfte nur gut eine Million erarbeiten (Öffnet in neuem Fenster). Im Schnitt verdient jemand mit Studium 68.000€ im Jahr, jemand ohne nur 45.000€ (Öffnet in neuem Fenster). Diese Durchschnittswerte verschleiern natürlich die enorme Einkommensspreizung akademischer Berufe. Während es sehr gut bezahlte Fachrichtungen gibt, etwa Medizin oder Ingenieurwissenschaften, gibt es ebenso eher mager bezahlte, z.B. Geisteswissenschaften. Dennoch bleibt hier ein Vorsprung. Während zwei Drittel aller nichtakademischen Studierenden neben dem Studium jobben müssen, ist es nur ein Drittel der akademischen.

Ich selbst habe mit 14 zum ersten Mal das Ausland gesehen, nachdem beim Schüleraustausch mit Frankreich eine Freundin abgesprungen ist und meine Eltern mit viel Mühe und Not das Geld für die Reise zusammengekratzt haben. Auslandsaufenthalte blieben für mich immer außerhalb der Reichweite, sie waren für mich aus finanziellen Gründen genauso fremd wie "Hochkultur". Ich habe während meines gesamten Studium gejobbt, aber große Würfe, die meinen privaten oder beruflichen Horizont hätten erweitern können, waren mit meinem Einkommen als studentische Hilfskraft ebenso wenig drin wie über das Mindestmaß hinausgehende Fachliteratur oder Ausrüstung. Sowohl im Privaten wie im Studium konnte ich aufgrund der finanziellen Situation meiner Eltern bzw. meiner eigenen bestimmte Erfahrungen nicht machen, die es mir erleichtert hätten, mit anderen Akademikerinnen und Akademikern gleichzuziehen. Die meine empfundene und tatsächliche Unterlegenheit ausgleichen hätten können.

Kein Vitamin B

Was ich persönlich für den wichtigsten Unterschied zwischen Nichtakademikar- und Akademikerkinder halte, weil es maßgeblich für die Undurchdringlichkeit von Gesellschaftsschichten verantwortlich ist, ist das Fehlen jeder Art von Beziehungen, die einem den Start ins Berufsleben oder den späteren Aufstieg erleichtern.

Für beruflichen Erfolg sind Beziehungen immer ein Faktor. Sie öffnen Türen, verringern Hürden, schaffen Möglichkeiten. Natülich hat nicht jede Akademikerfamilie eine Fülle von Berufsmöglichkeiten in der Hinterhand, und es kommt sicher auch darauf an, ob das Kind in eine ähnliche Branche will wie die Eltern. Aber in Nichtakademikerfamilien gibt es in der Regel keine Option.

Soziale Blasen entstehen nun einmal dadurch, dass Menschen sich mit anderen Menschen umgeben, die ihnen ähnlich sind. Solange mein Vater noch aktiver Soldat war, bestand der Freundeskreis meiner Eltern aus anderen Soldatenfamilien. Meine Mutter, von Natur aus eine introvertierte Person, fand ihre Kontakte vornehmlich in ihrer eigenen Familie. Man umgibt sich mit Menschen ähnlicher Bildung, ähnlicher Berufe, ähnlichen Hintergrunds. Weder als ich kurzzeitig Journalistin werden wollte, noch auf meinem späteren Weg in die Biologie hatten meine Eltern irgendwelche Möglichkeiten, mir durch Beziehungen Praktika oder Festanstellungen zu verschaffen.

Dieser Weg liegt allein auf den Schultern des Kindes. Das ist grundsätzlich vollkommen in Ordnung, wird aber in dem Moment zu einem Nachteil, in dem Akademikerkinder durch gute Kontakte an Job, Projekte, Wohnungen, Weiterbildungen kommen, die für das Nichtakademikerkind nie zugänglich waren, weil sie durch Vitamin B vergeben wurden, ohne je öffentlich ausgeschrieben worden zu sein.

Jeder einzelne dieser Faktoren ist zu bewältigen, aber in der Summe ergibt sich eine Fülle an Hürden und Widerständen, die ein Arbeiterkind auf dem Weg zum beruflichen Erfolg im Gegensatz zu einem Akademikerkind erst überwinden muss (Öffnet in neuem Fenster). Es muss mehr leisten als ein Akademikerkind – nicht in Form von Prüfungsergebnissen oder Noten, sondern in Form von Gewichten an seinen Fußgelenken. Es muss Steine aus dem Weg räumen, die ihm zwar niemand aktiv in den Weg gelegt hat, die aber dennoch da sind. In Akademikerfamilien sind diese Hürden und Widerstände zwar auch möglich, aber eher die Ausnahme. Die Regel ist ein Selbstbild, in dem es normal ist, bestimmte Posten, Gehälter, Privilegien für sich zu beanspruchen. Ich meine damit nicht eine überzogene Anspruchshaltung, obwohl es die sicher auch gibt, sondern ein ganz normales und gesundes Gefühl dafür, was der eigenen Arbeit und Bildung angemessen ist. Als Arbeiterkind, als Nichtakademikerkind spürt man bei Anfragen, Angeboten oder sonstigen Möglichkeiten eher "Es ist eine Ehre für mich" – und fordert nur wenig.

Wie gesagt, bin ich aus verschiedenen Gründen kein Arbeiterstereotyp. Trotz der durchschnittlichen formalen Bildung meiner Eltern hatte ich Privilegien, die andere nicht haben. Und dennoch - abgesehen von meiner Zeit als "Ehefrau von" habe ich finanziell immer kämpfen müssen. Jeden Job selbst finden, jedes Praktikum, jedes Gehalt, meine Richtung im Leben. Und das hat auch etwas damit zu tun, dass mein Vater Soldat und meine Mutter Sekretärin waren und sie mir deshalb weder Erfahrungen noch Möglichkeiten geben konnten.

Und bei all dem Spott über das unglückliche Beispiel von Barbara Blaha sollten Akademiker nicht vergessen, dass es keineswegs für alle selbstverständlich ist, schon als Kind Auslandserfahrungen zu machen, Urlaube, Schüleraustausch, Auslandssemester. Es ist nicht für alle selbstverständlich, dass Mama/Papa jemanden kennen, der jemanden für Posten X oder Wohnung Y sucht. Es ist nicht für alle selbstverständlich, an dem Punkt zu stehen, wo sie stehen. Einige von uns (sic!) empfinden es als Ehre, in bestimmte Kreise einzudringen, und die Ehrfurcht vor diesen Kreisen bewirkt, dass wir weniger für uns fordern.

Statt jemanden dafür auszulachen, dass er ein blödes Beispiel gewählt hat, könnte man ja auch mal darüber nachdenken, was einen als Akademikerkind dahin gebracht hat, wo man jetzt ist. Und sich ein Leben ausmalen, in dem diese Privilegien schlicht nicht existieren.

Es beginnt immer mit Empathie, immer.

(Artikelbild (Öffnet in neuem Fenster) von rawpixel.com)

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Kategorie Kessel Buntes

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