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Was ist gerecht in einer ungerechten Welt?

Affirmative Action, so nennt sich das Instrument, das in den USA seit den 1960er Jahren angewendet wird, um mehr Bildungsgerechtigkeit an Universitäten zu erreichen. Diskriminierten Studierenden (zum Beispiel Schwarzen Studierenden) sollte dadurch der Zugang zu Universitäten erleichtert werden. Außerdem sollten dadurch strukturelle Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden. Damit ist es nun vorbei. Der oberste Gerichtshof der USA hat die Affirmative Action gekippt. Die Richter, die das entschieden haben, argumentierten damit, dass dieses Instrument auch eine (positive) Diskriminierung darstelle. Wer Diskriminierung bekämpfen wolle, sollte das in jeder Art und Weise tun, so die Richter.

Zwischen den USA und Deutschland gibt es viele Unterschiede, wenn wir über Diskrimierung sprechen. Was aber gleich ist: In beiden Ländern gibt es Rassismus, in beiden Ländern haben weiße Menschen und rassifizierte Menschen nicht die gleichen Chancen, nicht die gleichen Zugänge. In Deutschland haben 39 Prozent der Schüler*innen eine sogenannte nichtdeutsche Herkunft, aber nur 20 Prozent der Studierenden. Schüler*innen mit Migrationsgeschichte erreichen oft das (Fach-)Abitur, scheitern aber am Übergang zum Studium. Wie also kann mehr (Chancen-)Gerechtigkeit erreicht werden?

Mich erinnert die Diskussion um die Affirmative Action an die Diskussionen rund um die Frauenquote für Vorstände und Aufsichtsräte in Deutschland. Genau wie bei der Diskussion in den USA wird auch bei uns oft über Qualifikation argumentiert. "Ich will keine Quotenfrau sein", rufen einige.

Dabei ist Qualifikation genau das Argument für die Quote oder für die Affirmative Action. Ohne Quotierungen entscheiden sich die Verantwortlichen gerne für Menschen, die ihnen selbst ähnlich sind – und vermutlich nicht unbedingt für die beste Person für den Job. Und wer sitzt mehrheitlich in Entscheidungspositionen? Michael oder Thomas (Öffnet in neuem Fenster).

Beide Instrumente, Affirmative Action und die Frauenquote, sind nicht perfekt. Natürlich wäre eine gerechte Gesellschaft besser, in der alle – unabhängig von Merkmalen wie Ethnizität, sozialer Herkunft, Geschlecht oder Behinderung – die gleichen Chancen hätten. Aber diese Gesellschaft haben wir noch nicht. Wir leben in einer nicht-perfekten Gesellschaft und müssen deshalb mit nicht-perfekten Instrumenten arbeiten.

Ein Weg zu einer gerechteren Gesellschaft kann deshalb eine Quote sein, vielleicht könnten wir sie Gerechtigkeitsquote nennen. Sie sollte allerdings nicht erst beim Zugang zum Studium oder in Vorstandsetagen angewendet werden, sondern überall. Vielleicht sogar schon im Kindergarten. Denn bereits dort wird nach diesen Merkmalen selektiert.

Michael und Thomas werden ihre Plätze nicht einfach so hergeben. Sie werden sich nicht einfach so für Nachfolger*innen entscheiden, die ihnen nicht ähnlich sind. Wir brauchen Quoten, weil uns Chancengerechtigkeit nicht geschenkt wird.

Schwarz-weiß Foto einer Demonstration, ein Schild mit der Schrift "It`s about equality", es sind vor allem Schwarze Frauen zu sehen (Öffnet in neuem Fenster)

Foto: aclu position Paper / Affirmative Action (Öffnet in neuem Fenster)

Um Zugänge geht es auch in diesem Video (Öffnet in neuem Fenster)von Autorin Jacinta Nandi, kurz nach der Verleihung des Bachmannpreises. Sie hat ihn leider nicht bekommen und erzählt, was das für sie bedeutet. "Ich ärgere mich echt über das Geld", sagt sie. Beim Bachmannpreis gab es laut Jacinta Nandi keine Kinderbetreuung und zu wenig Essen für die Teilnehmenden. "Es nervt mich ein bisschen, wenn mir die Leute schreiben, du bist die Gewinnerin unserer Herzen, aber die Herzen sind mir egal, ich brauch die fucking Kohle", sagt sie im Video.

Während der Preisverleihung gratulierte die Moderatorin einer Gewinnerin zu ihrem Preisgeld und sagte ihr, sie könne das ja später "auf den Kopf hauen". Die Autorin Nicole Seifert twitterte (Öffnet in neuem Fenster) dazu:

https://twitter.com/nachtundtagblog/status/1675438863647494145?s=43&t=70mR8LYj9WOqDA73dXGGCw (Öffnet in neuem Fenster)

Mal ganz abgesehen von der generellen Kritik an Wettbewerben – wer kann da eigentlich mitmachen? Wer wird eingeladen, wer hat die Möglichkeit? Wer fühlt sich sicher genug und warum? Wer nicht und wie kann das geändert werden? Wer braucht was, um dabei zu sein?

https://www.youtube.com/watch?v=BbAfFO44oOQ (Öffnet in neuem Fenster)

Vor einigen Wochen habe ich ein paar der Fragen in einem Impuls bei der Digitalkonferenz re:publica (Öffnet in neuem Fenster) beantwortet. Aber noch lange nicht alle. Noch immer werden Bühnen, Wettbewerbe, Vorstandsposten und Universitäten von ähnlichen Menschen besucht. Deshalb sind die Strukturen, wie sie sind. Jede Veränderung wird von Betroffenen hart erkämpft. Und im Fall der USA werden erkämpfte Fortschritte aktuell auch wieder rückgängig gemacht. Noch ein Grund mehr, für den Fortschritt zu streiten.

Meine Lese-Reise für das erste Halbjahr des Jahres ist vorbei. Ich bin dankbar für die vielen Begegnungen mit euch, meinen Leser*innen. Bei der letzten Veranstaltung saß Wilhelmine (9) im Publikum, in der ersten Reihe. Später setzte sie sich auf den Boden und malte mir ein Bild.

»War ziemlich langweilig, oder?« fragte ich sie am Ende. Sie nickte und sagte, was sie verstanden habe, war nicht langweilig, aber der Rest schon. Später saßen wir noch zusammen vor dem Museum — also ich saß und Wilhelmine stand vor mir und sie fragte mich: »Du hast da drin jetzt zwei Stunden gesessen und jetzt sitzt du schon wieder!?« Dann hüpfte sie über eine Bank.

Ich wünsche mir mehr Veranstaltungen, bei denen wir malen können und uns bewegen, wenn wir mögen. Bei denen wir alles verstehen oder zumindest so viel, dass uns nicht langweilig wird. Bei denen sich alle den Eintritt leisten können, weil es solidarische Eintrittspreise gibt oder gar keine. Bei denen alle, die möchten, zu Wort kommen oder auf andere Weise gehört werden. Ich bin auf der Suche nach neuen Formaten, denn auch mir wird langweilig, wenn nur ich rede. Ich möchte auch zuhören, vor allem Wilhelmine.

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