Vererbte Trauma
Erstarkt der Rechtsextremismus erneut, stellt sich die Frage, inwiefern kollektive und individuelle Traumata über Generationen hinweg dazu beitragen – und welche Auswirkungen sie auf unsere mentale Gesundheit haben. Angela Moré, Professorin für Sozialpsychologie von der Leibniz Universität Hannover und Gruppenlehranalytikerin, hat Antworten.
Frau Moré, wie kommt es dazu, dass Traumata von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden?
Traumata werden nicht direkt vererbt, auch wenn das in der Alltagssprache oft suggeriert wird. Es kommt selten vor, dass ein Kind dasselbe Trauma hat wie der betroffene Elternteil. Ein Trauma wird nur dann in gleicher Weise weitergegeben, wenn zum Beispiel ein Elternteil, sagen wir ein Vater, der selbst als Kind geschlagen wurde, dieses Verhalten an sein eigenes Kind weitergibt. In diesem Fall traumatisiert der Vater sein Kind aktiv. Wenn das Trauma jedoch nicht direkt ausagiert wird, spürt das Kind dennoch die Auswirkungen. Das heißt, es spürt das Leiden bei dem Elternteil und versucht das zu verstehen. Und es leidet auch darunter, dass Vater oder Mutter durch das Trauma für das Kind nur eingeschränkt emotional verfügbar ist, beispielsweise, weil dieser Elternteil Freude, Begeisterung, Zuversicht und ähnliche, eher positive Empfindungen nicht teilen kann. Manche Eltern können keine körperliche Nähe oder Wärme geben, was beim Kind zwar kein Trauma, aber ein tiefes Gefühl des Mangels hinterlässt.
Inwiefern?
Ein Kind merkt oft, dass etwas mit den Eltern nicht stimmt, dass sie emotional nicht ganz erreichbar sind, vielleicht traurig oder verschlossen wirken. In diesen frühen Jahren sind Kinder in einem sehr engen emotionalen Kontakt zu ihren Eltern und nehmen Stimmungen und Affekte deutlich wahr. Zudem glauben Kinder, sie seien die Verursacher von Traurigkeit, Unruhe, Anspannung. Ein kleines Kind kann sich dann fragen: „Was stimmt nicht mit mir, dass Papa oder Mama so traurig ist?“ Es begreift zwar nicht die wahren Ursachen, aber es fühlt den Schmerz oder die Distanz, die der Elternteil ausstrahlt.
Wenn Kinder diese Belastungen spüren, wie reagieren sie darauf?
Merken Kinder, dass ihre Eltern oft traurig oder distanziert sind, denken sie möglicherweise: „Ich bin nicht gut genug, ich muss mich anstrengen, damit meine Eltern wieder glücklich sind.“ Ein schönes Beispiel dazu kommt von einem mir bekannten Psychoanalytiker, dessen Vater ein Holocaust-Überlebender war. Der Vater hatte eine tiefe Traurigkeit, die er unbewusst an seinen Sohn weitergab. Dieser erinnerte sich, dass seine Tochter im Alter von vier Jahren ihn einmal fragte, warum er immer so traurig gucke. Er hatte sich bewusst zwar nicht als traurig erlebt, aber diese Traurigkeit unbewusst von seinem Vater übernommen. Kinder von traumatisierten Eltern versuchen oft, ihre Eltern zu entlasten, indem sie sich anstrengen, für sie zu sorgen und ihnen ihren Kummer abzunehmen. Sie wünschen sich heile Eltern und möchten, dass ihre Eltern glücklich sind.
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Gibt es innerhalb von Familien auch Geheimnisse, die sich aus diesem unbewussten Trauma übertragen?
Ja. Oft werden Geheimnisse innerhalb der Familie aus dem Wunsch heraus bewahrt, die Kinder nicht zu belasten. Ein Elternteil, der ein Trauma erlebt hat, möchte seine Kinder davor schützen, die schmerzvolle Geschichte zu erfahren. Aber trotz der Geheimhaltung eines Traumas kann dieses sich in seiner irritierenden Wirkung auf ein Kind übertragen, wenn das Kind merkt, dass etwas nicht stimmt, es aber keine Worte dafür gibt und es bei Nachfragen auf Zurückweisung oder Schweigen stößt. Ein weiteres Motiv für die Geheimhaltung von Erlebtem kann Scham sein. Zum Beispiel, wenn jemand selbst Opfer von Misshandlung oder Demütigung wurde, kann der Wunsch entstehen, vor den eigenen Kindern nicht als jemand dazustehen, dem so etwas widerfahren konnte. Eltern möchten vor ihren Kindern nicht als schwache oder beschädigte Personen erscheinen. Aber das Kind spürt dennoch über die ausgestrahlten Gefühle, die sich ihm durch Stimme, Blicke, Mimik, Körperhaltung oder andere Signale vermitteln, dass es da etwas Schweres und Belastendes gibt – und es versucht durch Fantasien und Imitationen, dieses Rätsel besser zu verstehen.
Kann es auch zu einer unbewussten Weitergabe von Gefühlen kommen, obwohl über ein Ereignis gesprochen wird?
Das ist durchaus möglich. Hierzu fällt mir ein gutes Beispiel ein, das Freud in Bezug auf seinen eigenen Vater beschreibt. Er berichtet davon, dass sein Vater ihm erzählte, wie ein nicht-jüdischer Mann ihm einmal den Hut vom Kopf geschlagen habe, so dass der in der Gosse landete. Auf die Frage des damals noch sehr jungen Freud, was der Vater dann getan habe, antwortete dieser, er habe den Hut aufgehoben, gesäubert und wieder aufgesetzt. Freud erinnerte sich, wie empört er war, dass sein Vater so passiv verhalten hatte. Freud reagierte auch später sehr empfindlich auf Ungerechtigkeit und brachte damit Empfindungen zum Ausdruck, die sein Vater nicht zu zeigen gewagt hatte.
Freuds Vater hat die Wut delegiert?
Ja, genau. Manchmal möchten Eltern auch ihre 'Fehler' vor ihren Kindern geheim halten. Wenn etwa jemand in der Familie Schuld auf sich geladen hat – zum Beispiel einen anderen Menschen getötet hat – dann wird das in der Regel verschwiegen, um vor den Kindern in einem besseren Licht dazustehen. Ein solches Geheimnis kann zu einer Verzerrung der Wahrnehmung führen, da das Kind die Lüge oder die Verleugnung spürt, auch wenn es nicht direkt angesprochen wird. Ein Beispiel aus meiner eigenen Kindheit: Ich erinnere mich, wie Männer, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, in den Kneipen saßen und ihre Geschichten untereinander austauschten. Sie wussten sehr genau, dass sie etwas miteinander teilten, das andere nicht erfahren sollten. Das war aber eben an ihrem Verhalten spürbar.
Welche Auswirkungen hat es auf die nächste Generation, wenn diese Traumaerfahrungen nicht aufgelöst werden?
Ein Trauma, das nicht verarbeitet wird, kann nicht nur das Verhalten der Kinder der Nachkommen, sondern auch das der nächsten Generation beeinflussen. Es bleibt in der Familie unbewusst lebendig und wird oft von Generation zu Generation weitergegeben, wenn es nicht durch bewusste Auseinandersetzung damit bearbeitet und integriert werden kann. Das kann tiefgreifende Auswirkungen auf das emotionale und psychische Wohlbefinden der kommenden Generationen haben.
Vielen Dank für das Gespräch
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Angela Moré (Öffnet in neuem Fenster)
ist Sozialpsychologin und Gruppenanalytikerin, außerplanmäßige Professorin an der Leibniz Universität Hannover sowie Mitbegründerin des gruppenanalytischen Instituts GIGOS.