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Zwänge erkennen und verstehen: Gespräch mit Antonia Peters

Guten Morgen. Du liest den Newsletter von Entspannung wirkt. Er möchte dir helfen, Entspannung in deinen Alltag einzubauen und deine mentale und körperliche Gesundheit besser zu verstehen. Heute: Zwangserkrankungen.

Viele von uns haben Rituale, wie das Kontrollieren der abgeschlossenen Tür oder das Erledigen von Aufgaben in einer festen Reihenfolge. Solche Gewohnheiten sind oft normal und geben Sicherheit.

2 Millionen Betroffene, hohe Dunkelziffer

Aber manchmal nehmen diese Handlungen überhand und beginnen, das Leben stark einzuschränken. Zwangsstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und können sich auf unterschiedliche Weise zeigen – von übermäßigem Händewaschen über Kontrollzwänge bis hin zu wiederholten gedanklichen Mustern, die kaum zu stoppen sind.

Antonia Peters, heute Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (Öffnet in neuem Fenster), war selbst 30 Jahre lang von Trichotillomanie betroffen, einer Störung der Impulskontrolle, bei der sich die Betroffenen die Haare ausreißen, bis kahle Stellen zu sehen sind.

Frau Peters, erinnern Sie sich an den Moment, als Sie das erste Mal Ihre Haare ausgerissen haben?

Ja. Damals war ich elf Jahre alt und gerade auf Kur, weil ich sehr dünn war. Ich fühlte mich mit der gesamten Situation überfordert: Ich war weit weg von zu Hause, mitten in der Pubertät, und die Gehbehinderung, mit der ich zur Welt gekommen war, wurde mir zunehmend bewusst. Ich hatte Angst, niemand mag mich wie ich bin. Da ich aus einer Familie stamme, in der Gespräche über Gefühle nicht zum Alltag gehörten, habe ich, anstatt meine Probleme mit anderen zu teilen, alles in mich hinein gefressen. Einmal abends im Bett habe ich ein Kopfhaar ausgerissen, vermutlich eher durch Zufall, und damit wie mit einem Geigenbogen über meine Lippen gestrichen. Gestreichelt vielmehr. Es war angenehm weich und hat mich beruhigt. Es hat etwas von dem Druck von mir genommen, der auf mir lastete.

Wie und wann hat sich aus dem Beruhigungsritual ein Zwang entwickelt?

Am Anfang habe ich vor allem abends im Bett gezupft oder in der Schulpause auf der Toilette. Irgendwann wurde es immer mehr. Ich konnte die Trichotillomanie, deren Namen ich erst viele Jahre später kennenlernte, optisch kaum verbergen. Überall am Kopf waren kahle Stellen zu sehen, deshalb trug ich in der Ausbildung oder später bei der Arbeit als Erzieherin Kopftuch oder Perücke. Wenn ich nach dem Job nach Hause kam, habe ich mir die Bedeckung vom Kopf gerissen und nach Herzenslust gezupft - teilweise zwei Stunden lang am Stück.

Tat das weh?

Am Anfang sicherlich, aber später nicht mehr. Ich habe, wie viele andere Betroffene auch, hinter den Ohren gezupft. Da muss irgendein Gefühlszentrum sitzen. Ich war währenddessen wie in Trance. Ich fühlte mich wie von der Umwelt abgekoppelt und erst ein lautes Geräusch wie ein Telefonklingeln holte mich zurück in die Gegenwart. In dem Moment setzten bei mir sofort die Schuldgefühle ein: Oh nein, was habe ich nur wieder gemacht? Denn sowohl meine Mutter, die mein Zupfen beim Haarschneiden entdeckte, als auch eine Erzieherin hatten mir bereits als Kind  das Ausreißen der Haare verboten. Ich befand mich dadurch in einem Teufelskreis: Ich sollte aufhören, konnte es nicht, war dadurch gestresst - und hatte verstärkt das Bedürfnis zu zupfen und mich zu beruhigen.

Welche Funktion hatte das Zupfen außer der Beruhigung?

Es ging darum, Gefühle, egal ob positiv oder negativ, zu unterdrücken. Ich habe durch das Ausreißen der Haare verhindert, es mit mir selbst und mit meiner Anspannung auszuhalten.

Inwiefern hat die Trichotillomanie Ihren Alltag eingeschränkt?

Das Fatale war, dass ich niemanden mehr an mich herangelassen habe. In der Zeit, in der ich als Erzieherin eine Perücke trug, wusste niemand von meiner Erkrankung, und ich hatte immer Angst, die Kinder könnten sie mir beim Spielen versehentlich vom Kopf reißen und Fragen stellen. Dadurch konnte ich nicht machen, was ich wollte, ich konnte nicht mit ihnen toben und knuddeln. Als ich später entschied, keine Perücke mehr zu tragen, hatte ich riesengroße Probleme, nach einer befristeten Stelle eine neue Anstellung als Kindergartenleiterin oder Erzieherin zu finden. Ich sah auch wirklich schlimm aus: Am Hinterkopf waren keine Haare mehr, und der Pony fehlte. Man merkte sofort: Mit der Frau stimmt irgendwas nicht. Ich habe nur Absagen bekommen und saß ohne Aufgabe zu Hause. Das hat das Zupfen verstärkt.

Wann haben Sie sich das erste Mal Hilfe gesucht?

Ich hatte mich schon mit 18 Jahren an meine Mutter gewandt und gesagt, dass ich Hilfe brauche. Sie war völlig überfordert und meinte, wenn sie selbst es geschafft habe, mit dem Rauchen aufzuhören, könne auch ich künftig das Haarezupfen unterlassen. Aber ein Zwang lässt sich nicht einfach mit Willenskraft bekämpfen. In den Folgejahren war ich immer wieder bei Ärzten und habe auch Therapien gemacht. Nichts half. Erst 1997 stieß ich durch Zufall auf eine Studie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, dort wurde die Diagnose Trichotillomanie (Öffnet in neuem Fenster) gestellt.

Das war bestimmt erleichternd. Wie ging es weiter?

Ich habe mich zunächst zwei Jahre lang einer medikamentösen Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern unterzogen; das ist eine Gruppe von Antidepressiva. Das Zupfen hörte dadurch tatsächlich auf, der Impuls war durch die Medikamente verschwunden. Allerdings litt ich unter Nebenwirkungen wie Gangunsicherheit und Gewichtszunahme, beides ist bei einer Gehbehinderung nicht gut. Direkt nach dem Absetzen kam der Zwang zurück, was mich sehr enttäuscht hat. Denn ich hatte mich damals schon beim Verein Deutsche Gesellschaft  Zwangserkrankungen engagiert und Selbsthilfegruppen geleitet - plötzlich fühlte ich mich wieder auf den Anfang zurückgeworfen. Ich habe dann eine Verhaltenstherapie gemacht, und das war für mich der Durchbruch.

Was haben Sie dort gelernt?

In einer Verhaltenstherapie übt man die Exposition, man setzt sich also in Begleitung des Therapeuten einer triggernden Situation aus und erträgt den Druck ohne Zwangshandlung. Wenn jemand zum Beispiel unter Waschzwang leidet, darf er sich in der Exposition nicht wie sonst 50 Mal seine Hände schrubben, sondern nur einmal. Dann hält er oder sie die Anspannung aus. Bei mir haben wir zunächst herausgefunden, wann ich besonders zupfe, in Stresssituationen oder auch bei Langeweile. Das Zupfen zu unterlassen war schwierig, ich hing fast unter der Decke! Aber der Druck verringert sich, je länger man ihm standhält. In solchen Momenten lernt man, Gefühle wie Wut und Trauer überhaupt einmal zuzulassen und nicht direkt durch den Zwang zu unterdrücken. Außerdem gibt es Hilfsmittel: Entspannungstechniken oder Tricks wie einen weichen Ball zu kneten, Handschuhe zu tragen, sich auf seine Hände zu setzen. Oder schlicht eine bestimmte Situation zu verlassen, in der der Druck, an den Haaren zu reißen, übermächtig wird.

Die Therapie liegt mehr als 20 Jahre zurück. Wie geht es Ihnen heute?

Sehr gut. Die Therapie dauerte bei mir ungefähr ein Jahr, und grundsätzlich ist die Gefahr groß, dass man sich nach Beendigung der Sitzungen auf seinen Erfolgen ausruht, und der Zwang vielleicht sogar zurück kommt. Das war bei mir nicht so, aber man muss wirklich achtsam sein und die Entspannung und Selbstfürsorge im Alltag weiter praktizieren. Ich habe mir nie gesagt, dass ich nie wieder zupfe. Es geht immer um das Heute. Heute ist der Tag, an dem ich meinen Zwang nicht ausübe.

Woran kann man einen Zwang erkennen?

Man spricht von einem Zwang, wenn man die Handlung über einen Zeitraum von zwei Wochen täglich mehr als eine Stunde ausübt. Menschen mit Zwangserkrankungen wissen in aller Regel ganz genau, dass ihre Verhaltensweisen nicht der Norm entsprechen. Ihnen ist bewusst, dass die Tür, die sie zum fünfzigsten Mal kontrollieren, abgeschlossen ist. Aber sie können ihre zwanghafte Handlung trotzdem nicht stoppen.

Wo kann ich Hilfe finden?

Man kann seinen Hausarzt ansprechen. Oder sich direkt an uns wenden, die Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen (Öffnet in neuem Fenster). Wir vermitteln Betroffenen und auch Angehörigen medizinisches Fachpersonal, Kliniken und Selbsthilfegruppen.

Mit welchen Zwängen rufen die Menschen hauptsächlich bei Ihnen als Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen an?

Hauptsächlich leiden die Betroffenen unter Waschzwängen, Kontrollzwängen, Putzzwängen, Gedankenzwängen. Häufig sind es auch Mischformen. Das Problem ist grundsätzlich, dass sich der Zwang eingestanden werden muss. Zwänge sind zwar die vierthäufigste psychische Erkrankung. Aber sie sind gleichzeitig sehr schambesetzt. Der Gang zum Therapeuten oder zur Therapeutin scheint vielleicht auch schwieriger zu sein, als sich in einer Internetgruppe Rat zu holen. Aber meiner Erfahrung nach bringt nur professionelle Hilfe etwas. Und mein Beispiel zeigt: Auch nach 30 Jahren Zwang ist es noch nicht zu spät.

Antonia Peters

wurde 1958 in Hamburg geboren und begann ungefähr im Alter von elf Jahren, an ihren Haaren zu reißen. Nach einer Therapie am UKE-Hamburg ist sie seit dem Jahr 2001 weitgehend symptomfrei. Im Jahr 1997 übernahm sie die Leitung der Selbsthilfegruppe Trichotillomanie und Skin-Picking in Hamburg. Zu diesem Thema verfasste sie auch das Buch "Trichotillomanie - Fragen und Antworten zum zwanghaften Haare ausreißen", (Öffnet in neuem Fenster) erschienen beim Pabst-Verlag. Seit 2004 ist Antonia Peters Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen (Öffnet in neuem Fenster). 2020 erhielt sie für ihr soziales Engagement das Bundesverdienstkreuz.

Info
In Deutschland wird geschätzt, dass etwa 400.000 bis 800.000 Menschen an Trichotillomanie leiden. Von klassischen Zwangsstörungen wie Putz-, Kontroll-, Wasch- oder Gedankenzwängen sind etwa ein bis zwei Millionen Deutsche betroffen. Es wird jedoch von einer erheblich höheren Dunkelziffer ausgegangen. Der Zwang, sich die Haare auszureißen, gehört zu den Impulskontrollstörungen oder Zwangsspektrumsstörungen (auch als zwangsnahe Störungen bezeichnet), zu denen auch Skin Picking, pathologisches Horten und die körperdysmorphe Störung gehören. Diese Störungen sind nach der ICD-10-Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation unter dem Code F63.3 verzeichnet.

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