Warum “Gesicht bewahren” kein Stück chinesisch ist
Über den wichtigsten chinesischen Charakterzug, den sich ein amerikanischer Missionar ausdachte
In China jemanden in die Pfanne zu hauen, das geht ratzfatz: Trinkgeld geben, eine Einladung ausschlagen oder gar politisch heikle Themen ansprechen - schon hat das Gegenüber sein Gesicht verloren.
Zumindest, wenn man sich im Internet durch die chinesische Mentalität klickt.
Gesicht zu wahren gehöre seit 5000 Jahren zu den Verhaltensmaximen (Öffnet in neuem Fenster) der chinesischen Gesellschaft, behauptet markforschung.de. Das angebliche Ziel dabei? “Anerkennung, Eindruck von Einfluss und am liebsten natürlich, Macht.” Was heißt denn, das Gesicht zu wahren? Ruhiges und zuvorkommendes Verhalten, schreibt dieses Kompetenzzentrum (Öffnet in neuem Fenster). Sich jederzeit um Harmonie zu bemühen und ein Bewusstsein für Hierarchien (Öffnet in neuem Fenster), schreibt ein anderes. Um das Gesicht zu wahren, sind sogar Notlügen erlaubt.
Bis vor ein paar Wochen habe ich das auch geglaubt. Dann erfuhr ich von dem Buch “On Saving Face - A Brief History of Western Appropriation”. Geschrieben hat es der Historiker Michael Keevak, der an einer an einer Universität in Taipeh lehrt.
“Gesicht”, erklärt Keevak, existiert tatsächlich. Was aber seinen Erkenntnissen nach komplett erfunden ist: das “Gesicht bewahren” traditionell chinesisch ist. Und dass das Leben in China sich nur darum drehe, dem an jeder Ecke lauernden Gesichtsverlust zu entgehen. “On Saving Face” hat mir gezeigt: Chines*innen sind nicht obsessed damit, ihr eigenes Gesicht zu wahren. Stattdessen sind wir im Westen besessen davon, andere Kulturen zu bewerten und in Etiketten zu zwängen.
Ein Irrtum wird Exportschlager
Den Europäern und Amerikanern, die im 19. Jahrhundert in China missionieren oder Handel treiben, bereitet einiges Kopfschmerzen: die feuchte Hitze Kantons, horrende Bestechungsgelder, und die willkürlichen Regeln des diplomatischen Kontaktes. Und auf noch etwas können sie sich keinen Reim machen: Chinesischen Kaufleute sprechen in den Verhandlungen häufig von “loose face”. “Gesicht verlieren” macht ja nicht mal grammatikalisch richtig Sinn.
Was die Westler in China nicht wissen: Das Konzept “Gesicht” existiert tatsächlich. Und das nicht nur in China, sondern in vielen Teilen Ostasiens. Und zwar überall dort, wo konfuzianische Philosophie die vormoderne Ständegesellschaft reguliert hat. Gesicht kann heute Würde oder Wertgefühl bedeuten. Es ist abgesteckt von den Normen, die in keinem Gesetzbuch stehen, aber trotzdem jeder kennt. Man kann auf Chinesisch zum Beispiel Gesicht verlieren, geben, wollen, lieben oder zerreißen.
Die Westler benutzen “Gesicht verlieren”, um chinesisches Verhalten zu beschreiben. Und sie erfinden das Gegenteil dazu: save face, “Gesicht bewahren”. Damit, erklärt Michael Keevak, reduzieren sie ein vielseitiges und komplexes Konzept auf eine simple Plus-Minus Rechung: Werde ein Chinese eines Fehlers bezichtigt, verliere er das Gesicht. Könne er diese Peinlichkeit vermeiden, bewahre er sein Gesicht.
Mitte des 19. Jahrhunderts macht “Gesicht bewahren” dann richtig Karriere: Es wird plötzlich das Buzzword, um China zu erklären. Und das ist kein Zufall.
Anthropologie für den Schaukelstuhl
1894 veröffentlicht der amerikanische Missionar Arthur Smith das Buch “Chinese Characteristics”. Er trifft damit einen Nerv: 50 Jahre lang verkauft sich kein Buch über China so gut. “Gesicht” setzt Smith gleich an den Anfang. Dort schreibt er:
Das erste, was Leser*innen also über Chines*innen erfahren, ist wenig schmeichelhaft: Laut Smith lieben sie Drama. Bei der kleinsten Provokation führen sie sich wie Schauspieler*innen auf und sind besessen davon, ihren eigenen Hintern zu retten. Wie kommt Smith zu so einem vernichtenden Urteil über China?
Nach dem ersten Opiumkrieg entlädt sich die Verachtung über China, die schon länger im Westen schwelt. China ist längst nicht mehr der bewundernswerte Sehnsuchtsort, der er im 17. und 18. Jahrhundert war. Man betrachtet China jetzt als dekadent und rückständig. In Europa und Amerika spottet man über den Niedergang Chinas, das immer tiefer in der Opiumsucht versinkt. Und die westliche Community in China triumphiert darüber, das hochnäsige Kaiserreich in die Knie gezwungen zu haben.
Untermauert wird dieser Spott von Büchern wie “Chinese Characteristics”. Sie sind irgendwas zwischen amateurhafter Anthropologie und Unterhaltungsliteratur für einen gemütlichen Abend im Schaukelstuhl. Autoren wie Arthur Smith bedienen den Voyeurismus weißer Leser*innen in der späten Kolonialzeit. Sie bringen ihren Leser*innen bei, was mit China falsch ist. Und wie eine Kultur gegen ein Volk verwendet werden kann.
Warum das Gesicht der perfekte Sündenbock ist
Warum aber eignete sich das “Gesicht” so gut zur Ächtung Chinas? “Gesicht bewahren”, erklärt Keevak, ist eben ein Alleskönner. Christliche Missionare verwenden es, um die chinesische Höflichkeit zu kritisieren, die auf sie wie eine Täuschung wirkt. Und das passt nun mal gar nicht zur christlichen Lehre von Demut und Aufrichtigkeit vor Gott. Britische Kaufleute stöhnen über das angebliche Streben nach “Gesicht”, wenn sie es mit unzuverlässigen chinesischen Händlern zu tun haben. Und westliche Diplomaten spotten über die aufwendigen Zeremonien und geschwungenen Briefe des Kaiserhofes: Alles verzweifelte Versuche des Kaisers, angesichts der Krisenstimmung im Lande gegenüber dem Ausland nicht das Gesicht zu verlieren.
“China Hands” wie der Missionar Smith fördern ein diffamierendes Verständnis von “Gesicht”: Dazu gehört der Höflichkeits-Zirkus, den sie als hinfällig empfinden, das angebliche Herauswinden aus jeglichen Fehlern und ein alles verschlingendes Ehrgefühl. Damit sorgt Smith dafür, dass “Gesicht bewahren” weit über die Grenzen Chinas hinaus Karriere macht - und bis heute nachwirkt.
Kultur ist kein unisex-Shirt
Na gut, denkst du jetzt vielleicht, aber was hat so ein alter Schinken von Achtzehnhundertirgendwas mit mir zu tun? Die Charakterzüge eines Landes in so plakativen Worten wie der Missionar Smith zu beschreiben, würde heute wohl einen Shitstorm produzieren. Aber das Überlegenheitsgefühl des Westens, das Keevak beschreibt, klingt im Hier und Jetzt nach. Noch heute machen sich Menschen (Öffnet in neuem Fenster) über asiatische Essgewohnheiten oder den Klang asiatischer Sprachen lustig: Sie markieren das, was sie nicht verstehen, als “fremd”, und werten es dadurch herab.
Auch ohne rassistische Absichten versuchen wir oft, mit wenigen Stichworten die Handlungen eines Menschen oder gar eine ganze Kultur erklären zu können. So ungefähr jeder Reiseführer zu China hat ein paar Seiten zur chinesischen Kultur, die notgedrungen auf ein paar Schlagwörter eingedampft wird: Irgendwas mit Konfuzianismus, Kollektivismus und Kung-fu. Dafür sind allerdings nicht nur westliche Ratgeber verantwortlich: Chinesische Institutionen wie Konfuzius-Institute oder Forschende orientalisieren sich mit diesen Konzepten selbst (zum Beispiel in der “asian values (Öffnet in neuem Fenster)” Debatte).
Einige Unternehmen verdienen damit ziemlich gutes Geld: Interkulturelle Seminare über China für Geschäftsleute kosten schnell mal mehrere Tausend Euro pro Teilnehmer*in. Das Curriculum vieler interkulturellen Trainings ist ähnlich vertrauenswürdig wie das Bunte-Horoskop (hier (Öffnet in neuem Fenster) wird zum Beispiel von der Reisbaukultur auf die angeblich chinesische Orientierung zur Harmonie geschlossen). Viele dieser Seminare sind unwissenschaftlich, verkürzt und schlicht: vergeudetes Geld.
Tja, und nun? Schließlich weiß ich selbst, dass China und Deutschland ziemlich unterschiedlich sind. Egal, ob “Gesicht bewahren” ein traditionell chinesisches Konzept ist oder die Erfindung eines amerikanischen Missionars. Was von Büchern wie “On Saving Face” bleibt, ist vielleicht diese Erkenntnis: Kultur ist kein unisex-Shirt, das man einfach einem Menschen aus Land X überstreifen kann. Vor allem nicht, wenn es um 1.4 Milliarden Menschen und eine Geschichte von mehreren tausend Jahren geht.
Und für den Umgang mit chinesischen Bekannten reichen erstmal die Regeln des Smalltalks: nach Kindern, Hobbies oder Heimat fragen. Vielleicht nicht gleich mit der Forderung nach einer Stellungnahme zu Tiananmen das Gespräch beginnen. Akzeptieren, das man manche Menschen riechen kann - und andere nicht.
Eben ganz so, wie man es mit jemandem aus Deutschland auch machen würde.