Zum Hauptinhalt springen

Doofe Tage / Hinter den Kulissen

I will talk and Hollywood will listen
(Robbie Williams)

128/∞

Good evening, Europe!

Der vergangene Mittwoch war einfach einer dieser Tage, an denen man nicht aufwachen möchte: Alles ist beschissen, jeder ist scheiße. 

Erst hatte Ben Folds aus gesundheitlichen Gründen seine Europa-Tour - und damit auch das Konzert in der Essener Lichtburg, für das ich Karten zum Geburtstag bekommen hatte - abgesagt (Öffnet in neuem Fenster), dann sprang das Auto auf dem Weg zum Fußballtraining nicht an. Alles eher unbedeutsam vor dem Hintergrund der Weltlage und verglichen mit dem, was Freund*innen dieser Tage durchmachen, aber an einem grauen, nieseligen Novembertag eben doch doof genug, um abends mit reichlich schlechter Laune ins Bett zu gehen. 

Ich kenne solche Tage noch aus der Schulzeit: Damals war es meistens ein Donnerstag, an dem das Fahrrad mal wieder einen Platten hatte, es auf dem Weg zum Baumarkt regnete und der Elektronikmarkt nebenan dann die CD nicht vorrätig hatte, die ich mir zum Trost hätte kaufen wollen.

Der vergangene Donnerstag hingegen war gut: Der Pannendienst kam schnell, die Batterie war nur leer, beim wahllosen Herumfahren, um sie wieder aufzuladen, schien die Sonne und ich entdeckte mit Sherlock-Holmes-artiger Präzision, dass offenbar die Rücksitzbeleuchtung der Grund für die entleerte Batterie gewesen war (eine Lampe, die man beim Aussteigen aus Versehen mit dem Kopf einschalten kann, die zu funzelig ist, um ihr Brennen überhaupt zu bemerken, und die nicht an das Ton-Signal-System für angelassene Beleuchtung angeschlossen ist — ich habe keine Ahnung, warum die Leute irgendwann aufgehört haben, Opel zu kaufen). Weil die Batterie aber schon relativ alt war, fuhr ich in den Baumarkt, wo mich eh immer ein wohliges Kindheitsgefühl der Geborgenheit überkommt, kaufte eine neue, die ich dann auch noch mit vergleichsweise wenig Aufwand und Flüchen selbst eingebaut (Öffnet in neuem Fenster) bekam. 

Man muss alles mitnehmen, was Freude spenden kann! Und wenn sich dann auch noch das seltsame Werkzeug, das man vor Jahren mal irgendwo gefunden und mitgenommen hat, als das entpuppt, was man in diesem Moment plötzlich unbedingt braucht: genial!

Das passende Werkzeug (Mitte)

Die Degeto hat kürzlich angekündigt (Öffnet in neuem Fenster), an einer Neuverfilmung von „Ronja Räubertochter“ mitzuarbeiten. Ich brauchte genau ein Pressefoto (Öffnet in neuem Fenster), um zu erkennen, worum es ging, und wurde in einen Erinnerungsstrudel gezogen, der tiefer war als die Kluft der Mattisburg: Mir fiel wieder ein, dass Hanna Zetterberg, die Ronja aus dem Film von 1984, einer meiner ersten crushes war. Wie ich mir das Buch von Regisseur Tage Danielsson über die Entstehung des Films aus der Stadtbücherei ausgeliehen habe und so meinen Erstkontakt mit den Konzepten „Making of“ und „Spezialeffekte“ hatte. Und dass ich ab diesem Punkt nicht mehr nur Fernsehmoderator und Theaterregisseur werden wollte, sondern auch Filmregisseur.

Als ich elf war, kauften sich meine Eltern endlich eine Videokamera, und nach dem ersten Kalifornien-Urlaub, zu dessen Dokumentation die Kamera zuvörderst erworben worden war, begann ich sofort, mit Freunden eigene Filme zu drehen — mal an die Krimiserie „Derrick“ angelehnt, mal Krimi-Komödien über die Entführung des amerikanischen Präsidenten; mal mit, meistens aber ohne Drehbuch.

Ein paar Monate später war ich mit meinem Vater bei einer Lesung von Hellmuth Karasek, wo der sein Buch „Mein Kino“ über seine liebsten Filme vorstellte, und weil ich Karasek aus dem Fernsehen kannte (zum Thema „nicht-altersgerechte TV-Programme“ s.a. letzter Newsletter (Öffnet in neuem Fenster)) und seine Begeisterung mochte, las ich drei Jahre später im Sommerurlaub seine Biographie über Billy Wilder — weil die halt gerade in der Stadtbibliothek rumstand. Ich habe bis heute nicht alle Filme Wilders gesehen, aber danach noch weitere Bücher über ihn gelesen und kenne mich insofern in seinem Leben und Werk bestens aus. (Neulich hab ich in der arte-Mediathek eine Dokumentation (Öffnet in neuem Fenster) über Wilder gesehen, die für mich keine einzige neue Information enthielt — aber es war schön, den Meister in alten Interview-Ausschnitten im Original zu hören, mit ein bisschen Bonus-Karasek aus dem Off.)

Die geschliffenen Dialoge und originellen Ideen des österreichisch-amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs hatten wenig bis keine Auswirkungen auf die immergleichen Action-Filme, die ich mit meinen Freunden und Geschwistern drehte: Da wurde permanent mit den zu Karneval gekauften Plastik-Pistolen gewedelt, die in den ausdauernden, wüsten Schießereien allerdings nur billig klackerten, weil wir keine Möglichkeiten hatten, die schlecht geframeten und choreographierten Sequenzen mit irgendwelchen Schussgeräuschen zu unterlegen.

Die Möglichkeiten der Postproduktion wurden bedeutend besser, als mein Großvater, den ich beim Schnitt seiner Reisedokumentationen unterstützte, sich 1999 für einen unanständig grotesken Batzen Geld eine digitale Videokamera und ein digitales Schnittsystem kaufte: Technisch war jetzt vieles möglich - bildgenauer Schnitt, nachträgliche Soundmischung, sogar Green-Screen-Effekte wie in einem Fernsehstudio -, aber wir wollten immer noch Quentin Tarantino, John Woo und Michael Bay nacheifern und entsprechend sah alles immer noch schlechter aus als die „Lindenstraße“. (Heute bekommt man bedeutend bessere Technik, wenn man für zwei-, dreihundert Euro ein Smartphone kauft, mit dem man darüber hinaus auch noch Computerspiele zocken und telefonieren kann, naja.)

Für den Deutschunterricht in unserer Schule drehten wir so zwei Filme: Eine zutiefst chaotische, dadurch aber avantgardistisch anmutende Verfilmung von E.T.A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“ (das zumindest ich nicht gelesen hatte) und einen apokalyptischen Action-Kracher namens „Doomsday ‘99“, der sehr viel wollte, aber wenig konnte. (Wir sollten alle dem Herrgott dankbar sein, dass es mit dem Internet damals noch nicht so weit war und diese zutiefst rufschädigenden Dokumente auf einem VHS-Band in meinem Keller lagern und nicht bei YouTube zu finden sind.) Eine begonnene Mafia-Komödie haben wir nie zu Ende gedreht und irgendwie kam auch das nächste Projekt trotz mehrerer Drehbuch-Versionen nie zustande: ein Episodenfilm über Jugendliche, die eine wilde Abschiedsparty für eine Mitschülerin schmeißen. Dabei wäre das endlich mal ein Thema gewesen, bei dem wir uns ausgekannt und als Teenager nicht völlig fehlbesetzt ausgesehen hätten!

Besagtes Schnittsystem hatte aber noch einen Vorteil, den wir eher zufällig entdeckt hatten: Aus irgendeinem Grund konnte es den Kopierschutz ausschalten, der damals auf allen Leih-Videos aus der Videothek enthalten war, das heißt, man konnte saubere Kopien von jedem denkbaren Film erstellen. Es war wie Netflix für eine Generation, die noch an die physische Existenz von Medien glaubte. Von nun an waren wir jeden Tag nach der Schule in der Videothek (für Menschen unter 30: hier (Öffnet in neuem Fenster) könnt Ihr nachlesen, was das war), liehen für 1,50 D-Mark irgendwas aus, überspielten den Film erst in Echtzeit auf das Gerät und dann (natürlich wieder in Echtzeit) auf eine dieser Vier-Stunden-VHS-Kassetten, die es damals im Aldi an der Kasse gab. 

Ich habe nie wieder so viele Filme gesehen, wie zu dieser Zeit: Die ganzen Mainstream-Action-Reißer, natürlich, aber auch kleine Indie-Filme, die nie in der Lichtburg in Dinslaken gelaufen wären. Werke wie „Go“ (Öffnet in neuem Fenster) oder „Happiness“ (Öffnet in neuem Fenster) waren - nach Billy Wilder - meine zweite Filmhochschule.

Dann sagte jemand meinem Großvater, dass das, was wir da täten, womöglich nicht ganz legal wäre (ich würde heute noch sagen: wohl (Öffnet in neuem Fenster); aber es wäre jetzt auch alles verjährt, weswegen ich so fröhlich darüber schreibe), und er sagte mir in sehr viel stärkeren Worten, dass ich damit aufhören solle.

Inzwischen hatte ich aber auch einen Computer mit DVD-Laufwerk und das war natürlich eh viel toller, denn man konnte die Filme jetzt in Originalsprache gucken und - besser noch! - es gab sogenannte Bonus-Features wie Audiokommentare der Regisseure und Behind-The-Scenes-Material. DVDs wie „Fight Club“, „Twelve Monkeys“ und „Almost Famous“ wurden meine dritte Filmhochschule. Manche Filme habe ich selbst nie gesehen, aber ihre Making ofs. 

Ich wollte immer wissen, wie das alles gemacht wird. Wie kreative Menschen denken und handeln. Wie durch Beschränkungen und ungeplante Ereignisse Großes entstehen kann. Ich hab seit über zehn Jahren kein Drehbuch mehr geschrieben und meine bisher einzige Regie-Arbeit fürs Fernsehen war ein Einspieler mit Joko Winterscheidt bei der ECHO-Verleihung 2011, zu dessen Dreharbeiten zwar alle technischen Gewerke und der Protagonist erschienen waren, sonst aber nur ich; aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich kreative Prozesse auch auf andere Disziplinen übertragen lassen.

Und ebenso wie Quentin Tarantino seit dem Tod von Sally Menke (Öffnet in neuem Fenster) niemanden mehr hat, der seinen kreativen Ausbrüchen mit dem passenden Besteck (Skalpell, Kettensäge, Etc.) zu Leibe rückt, fehlt auch mir eine Person, die sagt: „Du, Lukas, wir sind jetzt bei fast neuntausend Zeichen, was hältst Du davon, wenn wir jetzt einfach mal aufhören?“

Was hast Du gehört?

„Cheap Grills“, das dritte Album von Sincere Engineer (Hopeless Records; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)). Die heißt eigentlich Deanna Belos, kommt aus Chicago und ich bin auf sie und ihre Band aufmerksam geworden, weil sie nächste Woche im Vorprogramm von The Hold Steady spielt. Es ist energetische Rockmusik, die bei mir sofort riesige Endorphin-Reserven freisetzt. So wie Meet Me @ The Altar klingen würden, wenn sie statt mit Avril Lavigne und Blink-182 mit Best Coast und Frank Turner aufgewachsen wären.

Ihren Song „California King“, aber auch viele weitere tolle Songs gibt es in der neuesten Ausgabe meiner kleinen Musiksendung Coffee And TV: spotify.com (Öffnet in neuem Fenster)

Was hast Du gesehen?

Bei Netflix gibt eine vierteilige Doku (Öffnet in neuem Fenster) über Robbie Williams, die im Wesentlichen daraus besteht, dass Robbie Williams in Unterhosen in seinem Bett in Hollywood liegt und sich zusammengeschnittenes Videomaterial aus seiner langen Karriere anschaut. Das ist eine dramaturgisch interessante Entscheidung, die mich die ganze Zeit über immer wieder rausgebracht hat. 

Der junge Robbie ist schon erstaunlich offen und reflektiert, was seine Selbstzweifel und Einsamkeit angehen, und es ist im Nachhinein schon sehr deprimierend, dass er, als er uns um die Jahrtausendwende so viel Freude und so viele Evergreens bereitet hat, eigentlich die ganze Zeit unglücklich war. Es gibt auch viele Einblicke in die Produktion der ersten, großartigen Alben, was ich immer (s.o.) sehr mag, aber irgendwie bin ich mit der ganzen Doku und auch mit seiner heutigen Persona nicht richtig warm geworden. 

Wenn Ihr ähnlich alt seid wie ich und Robbies Musik in Eurem Leben mal eine ähnlich große Rolle gespielt hat, würde ich aber trotzdem auf jeden Fall mal reinschauen!

Was hast Du gelesen?

Das Kaput Mag hat einen Text der Musikerin Julia Pustet veröffentlicht, in dem sie sich mit dem Antisemitismus in der linken Instagram-Bubble beschäftigt. Schon im ersten Absatz fasst sie all das in Worte, was ich auch schon in der Zeit vor dem Massenmord der Hamas am 7. Oktober an unangenehmen Eindrücken von dieser Community hatte, aber nie richtig benennen konnte. Eine Lektüre, die sich lohnt: kaput-mag.com (Öffnet in neuem Fenster).

Ebenfalls mit dem Thema Antisemitismus befasst sich Andrej Reisin in einem Text für Übermedien (für die auch ich hin und wieder schreibe): Er hat sich amerikanische Autorin Deborah Feldman vorgenommen, die in Berlin lebt und von deutschen Medien gerne interviewt wird, weil sie eine Rolle spielt, die von der deutschen Öffentlichkeit geliebt wird: die der „nützlichen Alibijüdin“ für das, was man immer schon mal selbst gegen Israel oder die Juden sagen wollte: uebermedien.de (Öffnet in neuem Fenster) (aktuell noch kostenpflichtig).

https://www.youtube.com/watch?v=cNtbKP4c0mU (Öffnet in neuem Fenster)

Wenn Euch diese Ausgabe des Newsletters gefallen hat, leitet sie an eine Person weiter, von der Ihr glaubt, dass auch sie Interesse daran haben könnte.

Und wenn Euch dieser Newsletter so gut gefällt, dass Ihr dafür bezahlen - und indirekt auch mein nächstes Buchprojekt unterstützen - wollt, könnt Ihr das hier tun:

Habt eine schöne Restwoche!

Always love, Lukas

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Post vom Einheinser und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden