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Slouching Towards Bethlehem

It's coming on Christmas
They’re cutting down trees
They’re putting up reindeer
And singing songs of joy and peace
(Joni Mitchell)

129/∞

Good evening, Europe!

Bevor wir anfangen, muss ich auf einen technischen Fehler eingehen, der leider die letzte Ausgabe dieses Newsletters ereilt hat: Ausgerechnet bei den Lese-Empfehlungen waren die Links falsch gesetzt. 

Deswegen hier nochmal: Den Text der Musikerin Julia Pustet über Antisemitismus in der linken Instagram-Bubble könnt Ihr hier (Öffnet in neuem Fenster) lesen, den von Andrej Reisin über Deborah Feldman hier (Öffnet in neuem Fenster).

So. Wie geht’s Euch? Also: Wirklich?

Schon Ende November waren die meisten mir bekannten Eltern am Anschlag. Der bloße Gedanke an einen Monat voller Weihnachtsfeiern, Geschenke-Besorgungen und Familientreffen sorgte für nervöse Zuckungen in ansonsten stets beherrschten Gesichtern.

Je älter ich werde, desto mehr Respekt bekomme ich vor den Leistungen unserer Eltern und Großeltern (in den meisten Fällen wohl: Mütter und Großmütter), insbesondere im Dezember — zumal die ja nicht einfach sagen konnten: „Ach scheiß auf all meine Prinzipen: Ich bestell das jetzt bei Amazon, um nicht völlig durchzudrehen!“ Ob sie Weihnachten noch irgendwie genießen konnten? Klar: Die leuchtenden Kinderaugen sind das schönste Geschenk. Aber warum muss der Weg dorthin immer so anstrengend sein?

Wer vielleicht auch heute noch mit dem Mütterkreuz liebäugelt, sagt dann, es komme nur auf die richtige Vorbereitung und Organisation an. Diese Menschen haben im August alle Weihnachtsgeschenke beisammen und ich weiß - wie bei jenen, die perfekte Kindergeburtstage mit selbstgebackenen Torten ausrichten, oder jenen, die an Karneval oder Halloween eine gemeinsame Familienverkleidung haben - nicht, ob ich beeindruckt, angewidert oder mitleidig reagieren soll, und verbringe die ganze Zeit mit Abwägen und dem schleichenden Weg zur Erkenntnis, dass ich vielleicht gar nicht zu allem eine Meinung haben muss, und dann ist auch schon der Nachmittag des 23. Dezembers und ich hab immer noch nicht alle Geschenke beisammen.

Wir werden dieses Jahr jedenfalls wieder riesige Mengen Plätzchen backen und Weihnachtskarten schreiben und ich werde mich wieder fragen, wo ich eigentlich diese Zeit und Energie hernehme, und mein Handy wird mir nächste Woche mitteilen, dass ich diese Woche soundsoviel Prozent weniger Bildschirmzeit hatte, was vielleicht Teil der Antwort ist, aber dann kommt auch schon die Zeit zwischen den Jahren, in der ich mit Reisedokumentationen, Darts-WM und jeder Menge Essensresten auf der Couch versuche, kurz vor Ende des Jahres doch noch sowas Ähnliches wie Normalgewicht zu erreichen. Und diese Traditionen sind ja das, was Weihnachten ausmacht!

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Apropos Weihnachten! Extra zum Fest habe ich mir etwas ganz besonderes ausgedacht: das Geschenk-Abo! Für 12 Euro im Monat oder 120 Euro im Jahr bekommt Ihr den ohnehin kostenlosen Newsletter, exklusive Texte, meinen größten ewigen Dank und könnt Euer Abo mit zwei weiteren Personen teilen (d.h. es kostet eigentlich maximal 4 Euro pro Person und Monat).

Wie es sich für Cyber-Friday-Single-Christmas-Deals gehört, ist das das Angebot zeitlich begrenzt: Ihr könnt es nur bis einschließlich 6. Januar buchen!

Im Zuge dieser Aktion habe ich übrigens auch die anderen Abos insofern angepasst, als Ihr als Abonnent*in in Zukunft Zugriff auf exklusive Texte erhaltet, d.h. Ihr unterstützt nicht nur meine bisherige Arbeit am Newsletter, sondern bekommt einen echten Mehrwert! Das gilt selbstverständlich auch für all jene von Euch, die jetzt schon für den Newsletter bezahlen! (An dieser Stelle nochmal vielen Dank!)

Vergangene Woche jährte sich der Todestag von John Lennon zum 43. Mal und seit etwa zwei Wochen bin ich älter, als es John Lennon je geworden ist. 

John Lennon war ja nicht nur die eine Hälfte des einigermaßen unvergleichlichen Songwriting-Duos Lennon/McCartney, sondern er starb auch noch vergleichsweise jung (bzw. für einen Rockstar-Toten vergleichsweise alt: mit 40) und vor allem gewaltsam.

Ich kann das gar nicht so richtig erklären, aber irgendwie finde ich es immer noch mal dramatischer, wenn Prominente ermordet werden (Lennon, Selena (Öffnet in neuem Fenster), Gianni Versace (Öffnet in neuem Fenster)) oder bei einem Unfall ums Leben kommen (Aaliyah (Öffnet in neuem Fenster), Prinzessin Diana (Öffnet in neuem Fenster), James Dean (Öffnet in neuem Fenster)) — so als würde Berühmtheit vor sowas schützen. Dabei war es im Fall von John Lennon ja gerade die Berühmtheit des Sängers, die den Täter dazu bewegte, den Abzug zu drücken. 

1994 veröffentlichte der amerikanische Singer/Songwriter Ellis Paul seinen Song „Who Killed John Lennon?“ (Öffnet in neuem Fenster), in dem er singt:

Who killed John Lennon?
A loser with a pistol, a martyr’s best friend
And each time he’s televised, he kills him again
It’s the prize that he wanted when he loaded the gun
And each time he’s mentioned, murder is done
So, who killed John Lennon?
A no one

Ich finde den Gedanken zu gleichen Teilen absolut naheliegend und revolutionär: Verschweigt den Namen von Tätern. Denn was ist das für eine Welt, in der man es zu Prominenz bringen kann, indem man andere Menschen tötet? („Eine Welt, in der ein Massenmörder so sehr zur gruselig schimmernden Popkultur-Ikonie werden konnte, dass Brian Warner seine Schockrocker-Kunstfigur zu gleichen Teilen nach ihm und Marilyn Monroe benannte“, antwortet jemand eilfertig von der Seitenbühne — und hat Recht.) 

Zu den vielen beeindruckenden Dingen, die Jacinda Ardern in ihrer Amtszeit als neuseeländische Premierministerin getan hat, gehört ihr Versprechen, den Namen des Mannes, der 2019 in zwei Moscheen in Christchurch 50 Menschen erschossen hatte, niemals auszusprechen (ich wollte das mit einem Link belegen, aber sowohl die BBC als auch der „Guardian“ hatten sich damals nicht in der Lage gesehen, wenigstens in dieser Meldung den Namen des Täters nicht zu nennen — aber bei „Spiegel Online“ (Öffnet in neuem Fenster) könnt Ihr es nachlesen.)

Ich kam auf dieses Thema, weil ich erst kürzlich festgestellt hatte, dass Måneskin, die 2021 für Italien den Eurovision Song Contest gewonnen hatten und seitdem als quasi einzige neue Band der 2020er Jahre für die TikTok-Jugend die zeitgenössische Interpretation des Konzepts „Rock’n’Roll“ verkörpern, dass also jene Band auf ihrem im Januar erschienenen Album „Rush!“ einen Song nach dem Mörder John Lennons benannt haben. (Ich habe das Album nie gehört, fand aber die „Pitchfork“-Rezension (Öffnet in neuem Fenster) bei Erscheinen sensationell übellaunig. Kernsatz: „It is a rock album that sounds worse the louder you play it.“) Der Name kommt im Text nicht vor, gibt den Lyrics aber ihre hermeneutische Flugbahn: eine wohlig-schauernde murder ballad, das musikalische Äquivalent zu einem true crime podcast. So gesehen: das perfekte Zeitdokument.

Über einen anderen Massenmörder - Achtung, Überleitung! - habe ich fürs BILDblog geschrieben — und ihn sogar beim Namen genannt: Henry Kissinger ist vor zwei Wochen im Alter von 100 Jahren gestorben, was den US-„Rolling Stone“ zu der brachialen, im Moment ihrer Veröffentlichung schon legendären Überschrift „Henry Kissinger, War Criminal Beloved by America’s Ruling Class, Finally Dies“ inspirierte, „Bild“ aber zu einer - weit weniger überraschenden - posthumen Schwärmerei in der Tradition vieler, vieler Henry-Kissinger-Fan-Aufsätze aus dem Axel-Springer-Verlag.

Ich habe also das getan, was ich am liebsten tue, und mich einen ganzen Tag lang im Archiv eingeschlossen, um eine Auswahl (Öffnet in neuem Fenster) der bewunderndsten, kritiklosesten und abwegigsten Erwähnungen Kissingers in „Bild“ zusammenzustellen. 

David Will hat unterdessen für Übermedien einen Text (Öffnet in neuem Fenster) über den Umgang deutscher Medien generell mit Henry Kissinger geschrieben, der aktuell noch hinter der Bezahlschranke liegt. (Der Text. Kissinger liegt inzwischen irgendwo, wo er vor „Rolling Stone“-Autoren und anderen Menschen geschützt ist, die sich auf sein Grab erleichtern wollen.)

Was hast Du gesehen?

Es lief ja die - diesmal aber wirklich! - letzte Ausgabe von „Wetten, dass..?“ mit Thomas Gottschalk und ich hatte es irgendwie für eine originelle Idee gehalten, meinem neunjährigen Sohn dieses popkulturelle Artefakt auch einmal zeigen zu wollen. Nach zehn Minuten fragte dieses an „Ninja Warrior Germany“ geschulte Kind zum ersten Mal: „Wann passiert denn da mal was?“; beim Auftritt von Take That fragte er, wer das denn sei (stellt sich raus: von allen auflaufenden Gäst*innen kannte er nur Helene Fischer und Bastian Schweinsteiger); und als Gottschalk die vierte oder fünfte Wette ansagte, dekonstruierte das Kind mal eben 40 Jahre Fernsehgeschichte: „Warum sagt der immer ‚Top‘ davor?“ — ja, Frank Elstner, was ist das eigentlich für eine beknackte Anmoderation?!
Kurzum: Der Junge hatte schon unterhaltsamere drei Stunden durchlebt und freute sich merklich mehr darüber, dass er solange hatte aufbleiben dürfen, als über den Grund dafür. Gottschalk war so wie immer (wenn auch nicht so komplett geistesabwesend wie im vergangenen Jahr (Öffnet in neuem Fenster)), was auch noch mal für ein bisschen quasi erflehte Social-Media-Empörung sorgte, und der Satz des Abends kam von Cher, die mit ihren 77 Jahren ja nun auch wirklich niemandem mehr irgendwas zu beweisen hat, und die Gottschalks onkeliger Aussage, „man“ sei heutzutage ja „verängstigt“, ein Mädchen (gemeint war: eine Frau) anzufassen, mit einer nur mit Donnergrollen zu vergleichenden Replik begegnete: „It just depends on what you’re touching“. 
Anja Rützel hat diesen ganzen Irrsinn perfekt für die Geschichtsbücher aufbereitet (Öffnet in neuem Fenster) und jetzt können wir als Menschheit endlich auch mal nach vorne schauen.

Fast meine gesamte peer group wollte mit mir über die beiden großen 1990er-Jahre-Dokus sprechen, die vor ein paar Wochen in der ARD-Mediathek gelandet sind: Die Band Echt (Öffnet in neuem Fenster) hat mich ehrlich gesagt damals nicht interessiert und tut es bis heute nicht, aber die über den deutschen Musiksender Viva (Öffnet in neuem Fenster) habe ich mir doch mit Interesse angeschaut.
Leider ist sind die drei rund halbstündigen Folgen handwerklich fragwürdig (dass immer wieder betont wird, dass keine*r der Beteiligten vor 30 Jahren Ahnung hatte, wie man Fernsehen macht, ist ja durchaus sympathisch, aber das muss man doch nicht zwingend als Auftrag für die Dokumentation verstehen und völlig erratisch mindestens vier verschiedene Erzähl-Strategien vermengen!) und ich habe beim Zusehen auch festgestellt, dass mich mit Viva selbst wenig bis gar nichts verbindet — dafür umso mehr mit Viva 2, das immerhin auch etwas Raum bekommt. 
Ich wurde äußerst unfreiwillig an die Existenz von Niels Ruf, Simon Gosejohann und Oliver Pocher erinnert, aber was man unbedingt noch erwähnen muss, wenn man über diese Doku spricht, ist der Moment, in dem ein überraschend aufploppender Thees Uhlmann vollkommen sachlich attestiert: „Niels Ruf ist einfach einer von den zehn schlechtesten Deutschen!“

Früher habe ich alles von David Fincher gesehen. Seine letzten zwei Filme habe ich verpasst, aber jetzt kam mir sein neuestes Werk gerade recht für einen Abend auf der Couch: „The Killer“ (Netflix (Öffnet in neuem Fenster)) erzählt die Geschichte eines namenlosen Auftragskillers, dessen aktueller Auftrag schief geht, weswegen er sich mit rachsüchtigen Auftraggebern rumschlagen muss. Es ist ein simpler Plot, maximal dicht erzählt, mit einem stoischen Michael Fassbender in der Hauptrolle. 
Für Fincher ist es eigentlich wenig mehr als eine Genre-Fingerübung, aber im Kontext dessen, was heute so an Filmen produziert wird, fällt der Film schon auf — mich erinnerte er jedenfalls positiv an 1970er-Jahre-Thriller wie „French Connection“ und „Die drei Tage des Condor“.

Was hast Du gelesen?

Im Zuge der israelischen Vergeltungsschläge gegen die Hamas, bei der auch zahlreiche Zivilist*innen, darunter offenbar Tausende Kinder, getötet wurden, gibt es immer wieder Menschen, die Israel auf Demonstrationen oder auf Instagram „Völkermord“ vorwerfen. Aber was ist eigentlich ein Völkermord? Der „New Yorker“ hat beim Historiker Omer Bartov nachgefragt (Öffnet in neuem Fenster), wie der Begriff völkerrechtlich definiert ist. 
Es geht, wie so oft bei juristischen Begrifflichkeiten, um präzise semantische Unterscheidungen, die angesichts des Ergebnisses (tote Kinder) kaltherzig bis zynisch erscheinen mögen, aber ich finde es unabdingbar, in der öffentlichen Diskussion nur mit Fachtermini (und „Völkermord“ ist überraschenderweise einer) zu hantieren, deren Bedeutung man wenigstens einigermaßen verstanden hat (vgl. der Trend zur sog. „therapy speek“ (Öffnet in neuem Fenster), wo Fachbegriffe wie „Trauma“ benutzt werden, um irgendeine negative Erfahrung zu beschreiben). In einer Welt, in der Fakten immer weniger wert sind, können wir (als die vermeintlich „Guten“ auf der „richtigen Seite“) es uns nicht leisten, klar definierte Begriffe zu verwässern, um in einer Diskussion ein bisschen gebildeter zu klingen — sonst hat am Ende nichts mehr irgendeine Bedeutung.

Michael Stipe ist einer meiner absoluten Helden für die Ewigkeit. Jon Mooallem hat den ehemaligen R.E.M.-Sänger für das „New York Times Magazine“ begleitet und ein großes Porträt (Öffnet in neuem Fenster) über ihn und sein aktuelles Leben nach dem Rockstartum verfasst. Höhepunkt unter vielen sensationellen Momenten: Wie Stipe mit den Worten „You must be Taylor“ auf Taylor Swift zugeht.

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Einen Stollen gebacken. Über das Ergebnis kann ich aber erst nach Weihnachten berichten, weil er so lange noch ziehen muss.

https://www.youtube.com/watch?v=K1pPXt5Zc1w (Öffnet in neuem Fenster)

Habt eine schöne Restwoche und ein schönes drittes Adventswochenende!

Always love, Lukas

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