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Good evening, Europe!

Ihr werdet es vielleicht schon mitbekommen haben: Am Sonntagabend gab Joni Mitchell beim Newport Folk Festival ihr erstes öffentliches Konzert (Öffnet in neuem Fenster) seit mehr als 20 Jahren. Das ist insofern besonders bemerkenswert, als sie 2015 ein Gehirnaneurysma erlitten hatte, von dem sie sich nur sehr langsam erholte (mehr zu den medizinischen Hintergründen hier (Öffnet in neuem Fenster)).

Diese vielleicht größte Songschreiberin aller Zeiten wieder auf einer Bühne zu sehen, Brandi Carlile an ihrer Seite und viele weitere große Musiker*innen um sie herum, hat mein Herz mit großer Freude erfüllt.

Brandi Carliles sichtbare Reaktionen darauf, wie Mitchell die erste Strophe von „Both Sides Now“ singt, kann ich jedenfalls sehr gut nachfühlen:

https://www.youtube.com/watch?v=jxiluPSmAF8 (Öffnet in neuem Fenster)

Das bisher eher überschaubar mit Großartigkeiten um sich werfende Jahr 2022 wird sich viel Mühe geben müssen, das in den verbleibenden fünf Monaten noch irgendwie zu toppen.

Ich weiß noch genau, wie Joni Mitchell und ihre Musik in mein Leben kamen (wo sie natürlich eigentlich immer schon gewesen sein müssen, wenn man bedenkt, dass ihr Hauptwerk deutlich vor meiner Geburt entstanden war): Nachdem von mir verehrte Musiker wie Fran Healy und Andy Dunlop von Travis oder Tom Liwa Mitchell immer wieder als Inspiration bezeichnet hatten, habe ich mir im Januar 2002 bei einem Ausflug nach Köln, wo ich mit ein paar Freunden eine Demo gegen die Einstellung von Viva II besuchte, im legendären Saturn am Hansaring ihr „Greatest Hits“-Album gekauft.

Ich kann nicht sagen, ob ich „Both Sides Now“ zuvor schon mal irgendwo gehört hatte (die Chancen stehen gut), aber ich weiß noch, wie brutalst ergriffen ich war, als ich diesen Song jetzt zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Ich weiß auch noch, dass ich an jenem Abend auf einer sehr schlechten sog. Abi-Vorfinanzierungs-Fete war und angesichts der dort angebotenen Musik beschloss, wieder nach Hause zu fahren und den weiteren Abend stattdessen mit Joni Mitchell zu verbringen.

Beides, die Demo gegen die Abschaltung von Viva II und der Saturn am Hansaring, kommen - und hier schließt sich ein Kreis derartig, dass ich mich weigere, von Zufällen auszugehen - in Nebensätzen in der zweiten Folge meines Podcasts „Woher kennen wir uns?“ (Öffnet in neuem Fenster) vor, in der ich mit dem Autor und Musiker Eric Pfeil hauptsächlich über italienische Popmusik und deren Protagonist*innen spreche. Eric hat das sehr schöne Buch „Azzurro — Mit 100 Songs durch Italien“ geschrieben, das natürlich - Sanremo und „Volare“ lassen grüßen - eine gewisse Schnittmenge mit meinem eigenen Buch über den Eurovision Song Contest bildet, aber ich bin mir sicher, dass die Folge auch für Menschen mit weniger abseitigem Musikgeschmack interessant ist.

Inzwischen ist auch schon die dritte Folge online gegangen, in der die Schauspielerin und Musikerin Madina Frey („Harry Potter und das verwunschene Kind“) meine Gästin ist. Madina habe ich beim ESC im vergangenen Jahr in Rotterdam kennengelernt, und so geht es unter anderem um den mit Måneskin geteilten Frühstücksraum, aber auch um Hierarchien in der Theaterwelt, um „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ und den gesellschaftlichen Stellenwert von Unterhaltung.

Und weil so ein Podcast, wenn man ihn ganz alleine macht und er meinen eigenen Qualitätsansprüchen genügen soll, ganz schön viel Arbeit ist, gibt es diese Woche keine neue Folge — einige von Euch haben mir ja schon gesagt, dass sie noch keine Zeit hatten, die bisherigen Folgen zu hören, von daher denke ich, dass das - gerade in den Sommerferien - schon in Ordnung geht.

Wie in den meisten Sommerferien der letzten Jahre waren wir auch dieses Jahr wieder in Berlin, einer Stadt, die, so die Überlieferung, im Sommer gut und im Winter weh tut. Auch wenn das Kind mit U- und S-Bahnen mehr als glücklich ist, haben wir dieses Jahr ein kleines architektonisches Bildungsprogramm zusammengestellt und ein paar bedeutende Gebäude der Hauptstadt besichtigt.

Im Olympiastadion war ich zuletzt am 24. Juni 1995 gewesen, als Borussia Mönchengladbach den DFB-Pokal gewann. Trotz aller Wirkmächtigkeit kam mir das Stadion dann auch deutlich kleiner vor, als es mir mit elf Jahren erschienen war. Aber man sieht mir vielleicht an, dass ich mich gefreut habe, im „Sportlergang“ auf dem Weg in die Gästekabine (der Ort, an den Zinedine Zidane nach seinem Kopfstoß im WM-Finale 2006 zum Duschen geschickt wurde — und man kann da bei einer Führung einfach so rein!) ein Original-Trikot von damals zu sehen:

Ansonsten musste man bei der Führung schon bereit sein, die Widersprüche dieses Orts - wie bei so vielen anderen Orte in Berlin und ganz Deutschland - auszuhalten. Dass wir eine Treppe hochgingen, von der belegt ist, dass auch Adolf Hitler über ihre Stufen schritt (und die, mir eine Spur zu undifferenziert, von unserem … äh: Guide als „Führer-Treppenhaus“ anmoderiert wurde), hat mich jedenfalls noch einige Tage beschäftigt.

Man ist ja irgendwie immer wieder geneigt, zu vergessen oder zu verdrängen, dass Adolf Hitler, bei aller Monstrosität und aller medialer Ventilation, eben auch ein Mensch war (und gleichzeitig ein extremer Menschenfeind), der eben bei der Eröffnung seiner Propaganda-Spiele eine Steintreppe hinaufgegangen ist, die man auch jetzt, 86 Jahre später, in ihrem eigentlichen, total unschuldigen und nützlichen Verwendungszweck als Treppe nutzen kann, und die aber eine völlig neue Bedeutung zu bekommen scheint, wenn man um ihre Geschichte weiß — selbst innerhalb dieses mit Geschichte ja schon reichlich aufgeladenen Olympiastadions. Puh!

Da das Kind S-Bahn-Linien am Liebsten bis zum Ende durchfährt, besuchten wir auch den mit vielerlei Attributen gerühmten Flughafen BER am Ende der S9. Für das schon vor der Eröffnung legendäre Gebäude gilt, was auch für viele Prominente gilt, wenn man sie mal im echten Leben trifft: Ich hatte es mir größer vorgestellt.

Die Schlangen vor den Sicherheitskontrollen, von denen man ja dieser Tage immer wieder so viel hört, erschienen mir lang, wenn auch nicht übermäßig. Vor allem zogen sie sich aber offenkundig völlig planlos durchs Gebäude; immer wieder standen die dort wartenden Menschen anderen im Weg. Von diesem Absperrband, das in selbst aufwickelnden Rollen an beweglichen Pfosten angebracht ist und mit dem man Schlangen so praktisch hin und her leiten kann (also: das Symbol für einen Flughafen schlechthin), war nichts zu sehen. Es wirkte, als habe nie jemand erwartet, dass es an diesem Ort mal zu größeren Menschenansammlungen kommen könnte, aber vielleicht war das auch nur meine, durch die Geschichte des Orts beeinflusste Interpretation der Szenerie.

Wir gingen dann einmal quer durch die Warteschlange in Richtung Aussichtsplattform und auf dem Weg dorthin dachte ich mehrfach „Wir sollten hier bestimmt gar nicht sein!“, „Es ist eigentlich unmöglich, dass das hier ein offizieller, für die Öffentlichkeit gedachter Weg ist!“ oder „Wenn wir diese Tür jetzt auch noch öffnen, stehen wir auf dem Rollfeld und kriegen den Strahl einer Turbine direkt ins Gesicht!“ Dann fiel mir auf, dass ich solche Gedanken während unseres Berlin-Aufenthalts schon mehrfach gehabt hatte: Auf dem Weg zur U-Bahn-Station im Hauptbahnhof, zum Beispiel, oder auf dem barrierefreien Weg zur Besucherterrasse des Reichstaggebäudes.

Dann dachte ich, dass es ja eigentlich kein Zufall sein kann, dass in der Hauptstadt eines so großen Landes gleich mehrere so wichtige Gebäude so obskure, völlig nebensächliche Wegführungen aufweisen, und entwickelte Theorien, in denen sowohl die schon besichtigten Einschüchterungskulissen der Nazi-Architektur als auch die leicht untertourigen öffentlichen Auftritte des amtierenden Bundeskanzlers und seiner Amtsvorgängerin eine Rolle spielten. „Vielleicht muss man sich das heutige Deutschland einfach als Land vorstellen, das auf einer Party am Liebsten still in der Küche steht, während die USA gerade im hohen Bogen auf den Couchtisch kotzen und Großbritannien neben der verschlossenen Badezimmertür in die Ecke pinkelt“, dachte ich noch, dann hatten wir endlich die verdammte Besucher*innenterrasse erreicht und konnten Flugzeuge in Aktion beobachten. Auf dem Rückweg wären wir fast im Tower gelandet — zumindest gefühlt.

Was macht der Garten? Wenn die Stormtrooper der Vonovia nicht gerade unsere unsere Lavendelpflanzen wegmähen, freuen wir uns an den Sonnenblumen und warten gespannt, ob da dieses Jahr noch Chili-Schoten kommen.

Was hast Du gehört? „Special“, das neue Album von Lizzo (Nice Life/Atlantic; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)). Auf sympathisch knappen 35 Minuten wirft Lizzo energetische, funky Musik in die Runde, die man 2022 braucht, um auf andere Gedanken zu kommen. Ein erfrischendes, sommerliches Roséwave-Album, zu dem man beim Kochen sehr gut durch die Küche tanzen kann.

„Rachel@Fairyland“ (Sony; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) heißt das neue Album von Rae Morris, dessen Titel ein bisschen nach 2000 klingt, musikalisch aber genau die jungen Menschen abholen könnte, die soeben Kate Bush für sich entdeckt haben: ein bisschen sphärisch und sehr organisch singt Rae Morris Hymnen auf Frauen und Solidarität. Das Album ist nicht so elektronisch und zwingend eingängig wie der Vorgänger (immerhin mein Album des Jahres 2018 (Öffnet in neuem Fenster)), es braucht ein bisschen mehr Zeit und Aufmerksamkeit, aber die inhaltliche Auseinandersetzung lohnt sich.

Was hast Du gesehen? Gestern bin ich beim Zappen (ein Hoch aufs lineare Fernsehen!) in die ersten Minuten von „Die 12 Geschworenen“ (Öffnet in neuem Fenster) geraten — und weil ich diesen ausgewiesenen Klassiker von 1957 noch nie gesehen hatte und solche alten Filme bei den Streamingdiensten meist schwer zu finden sind, habe ich die Gelegenheit genutzt und den Film über zwölf Männer, die als Juroren entscheiden müssen, ob ein junger Mann zum Tode verurteilt wird, direkt geschaut und: Er hat seinen guten Ruf zurecht.

Was hast Du gelesen? In der „New York Times“ habe ich gelesen (Öffnet in neuem Fenster), dass Wissenschaftler*innen herausgefunden haben, dass Erwachsene bei der Kommunikation mit Kleinkindern auf der ganzen Welt einen ähnlichen Tonfall verwenden. Solche Erkenntnisse erfreuen natürlich mein Linguistenherz.

Es wäre übertrieben, zu behaupten, dass ich „gerne“ Todesanzeigen lese, aber ich lese sie regelmäßig und mit großem Interesse: Welche Familien kenne ich? Wie alt waren die Verstorbenen? Wie nehmen die Hinterbliebenen Abschied? Es ist auch immer ein Moment des Innehaltens, ein Memento Mori. Jetzt bin ich durch Zufall auf ein Projekt (Öffnet in neuem Fenster) der Universität Bielefeld gestoßen, bei dem Prof. Ulrich Seelbach mit Studierenden Todesanzeigen auf die dort verwendeten Zitate untersucht hat — und auf die angegebenen Quellen. Dafür braucht man jetzt neben einem Hang zum Morbiden womöglich auch noch ein gewisses editionsphilologisches Interesse, aber wie spannend ist es, dass ein Ausspruch sowohl Abraham Lincoln als auch Mae West zugeschrieben wird?! (Beiden zu Unrecht.)

Was hast Du gelernt? Marmor ist nur Marmor, wenn im Stein keine Fossilien eingeschlossen sind. (per Führung durchs Olympiastadion, natürlich)

https://www.youtube.com/watch?v=RyqnQOPBh7U (Öffnet in neuem Fenster)

Habt eine schöne Rest-Woche und ein tolles Wochenende!

Herzliche Grüße, Euer Lukas

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