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Tradition und Modem

And we'll paint by numbers
'Til something sticks
I don't mind doing it for the kids
(Robbie Williams & Kylie Minogue)

123/∞

Gute Nacht, Deutschland!

In meiner Kindheit war ein Jahr strukturiert durch Weihnachten, meinen Geburtstag, später die Sommerferien und die Bundesliga-Saison. Danach war es eine zeitlang das Haldern Pop Festival, das mein Jahr in „davor“ und „danach“ teilte. Seit über zehn Jahren ist jetzt der ESC das Ereignis, das meinem Jahr Struktur gibt: Davor liegt der lange, dunkle Winter, dann kommen der Vorentscheid und Ostern — und nach dem ESC kommen eigentlich nur noch die Sommerferien, unsere Geburtstage und Weihnachten, dann ist das Jahr schon wieder rum.

Vor zwei Wochen war wieder Haldern und ich hätte davon nichts mitbekommen, wenn nicht genau eine Person, der ich auf Instagram folge, Stories von dort gepostet hätte. Dafür war ich bei einem anderen Ereignis, das für viele Menschen das Jahr gliedert: auf Crange.

Die Cranger Kirmes in Herne ist - je nach Zählweise (Öffnet in neuem Fenster) - das größte Volksfest in Deutschland und die Chancen stehen gut, dass Ihr, wenn Ihr weiter weg wohnt, noch nie davon gehört habt. Ich bin 30 Kilometer entfernt aufgewachsen und habe zum ersten Mal von Crange gehört, als ich schon mehrere Jahre in Bochum lebte. Im Ruhrgebiet halten wir uns mit übertriebenem Selbstbewusstsein eben zurück. Wir teilen zwar gerne, aber wir trommeln uns nicht den ganzen Tag auf der Brust herum und preisen unsere Kultur an, bis sie von Sauftouristen aus aller Welt kaputtgetrampelt wird. Dafür gibt es ja Köln oder München.

Ungefähr alles am Wikipedia-Eintrag (Öffnet in neuem Fenster) zur Cranger Kirmes ist phantastisch. Das sind die ersten Sätze:

Die Ursprünge der Cranger Kirmes sind weitgehend unbekannt. Bei allen Thesen, die seit über einhundert Jahren publiziert und diskutiert werden, handelt es sich um mehr oder minder wahrscheinliche Spekulationen.

Später heißt es wenig überraschend:

Die Zählung der Cranger Kirmes wurde 1935 von den Nationalsozialisten willkürlich gesetzt, um das Volksfest zu Propagandazwecken zu instrumentalisieren.

Und dann kommt noch der Absatz darüber, wie die Zählweise in der Nachkriegszeit drei Mal geändert wurde („Aus diesem Grund fand im Jahr 2019 nicht die 584., sondern die 535. Cranger Kirmes statt“)!

In diesem Jahr waren wir auch zum ersten Mal beim Cranger Kirmes-Umzug, den ich grob vereinfachend als „so etwas ähnliches wie einen Rosenmontagszug“ bezeichnen würde — auch, um direkt wieder Abschreckung (s.o.) zu betreiben.

Natürlich war ich auf das Schlimmste vorbereitet und wollte das alles eher doof finden. Brauchtum ist ja oft eine Vorfeld-Organisation von Reaktionsmus: jede Menge weiße, alte Männer; man denkt Handwerkskammer, man denkt Burschenschaft, man denkt CDU. Das Publikum sah auch eher nach der Antwort auf die saudoofe Online-Kommentar-Frage aus, wann eigentlich Straight-Pride-Parade sei. Aber im Ruhrgebiet sind wir tolerant und haben gelernt, Widersprüche auszuhalten — immerhin gründet unsere Identität zu weiten Teilen darauf, die organisierte Ausbeutung von Arbeitern beim gesundheitsschädlichen Abbau eines fossilen Brennstoffs abzukulten. Und natürlich beobachte ich bei mir manchmal auch das Aufflackern dieser problematischen linken Position, immer irgendwie für das einfache Volk zu sein und dessen Vertreter trotzdem latent zu verachten.

Intellektualisieren. My coping mechanism. Aber was soll ich sagen? Es war mega! Spätestens als eine als Achterbahn verkleidete Fußgruppe vor uns ihre Choreo aufführte, war’s um mich geschehen. Man muss einen relativ hohen Anteil von Ballermann-Schlager aushalten können (und die Antwort auf die Frage „Wo war ich in der Nacht von Freitag auf Montag?“ kennen), aber als dazwischen Boy-Band-Hits und Techno-Klassiker der 1990er Jahre liefen, war ich natürlich dabei. Die Kinder wurden mit Tonnen von Süßigkeiten überhäuft (einige davon Bio, wie um der linken Insta-Blase freundlich zuzuzwinkern) und hatten natürlich einen Riesenspaß und ich fand’s schon stark, bevor ich dann doch mal eine der angebotenen Prosecco-Dosen angenommen habe.

Über einige Liedtexte könnte man große Aufsätze in der „Zeit“ schreiben, wenn man denn wollte. Auch die Frage, ob man heute noch Michael Wendler spielen sollte, könnte man diskutieren. Und überhaupt: Immer dieser Alkohol! Aber man könnte auch einfach mal anerkennen, dass dieser Zug ziemlich inklusiv und divers ausschaut, dass hier Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen gemeinsam eine gute Zeit haben und dass das alles verdammt nochmal einfach Bock macht.

Traditionen haben - sicher nicht zu unrecht - mitunter den Ruf des Spießigen, des Angestaubten und der Besitzstandswahrung. Die Uniformen im Kölner Karneval waren ja ursprünglich eine Parodie der Kleider der napoleonischen Besatzer — heute werden sie mit mehr Stolz und Ernsthaftigkeit getragen, als es der Kriegszwerg vermutlich je getan hat. Das, was mal als „Alternativer Karneval“ gestartet war, ist heute weitgehend Rentner*innen-Bespaßung. Und der große kulturelle Umbruch des 20. Jahrhunderts, der Rock’n’Roll, muss es hinnehmen, heute vor allem von so sprichwörtlichen Schwundstufen wie der deutschen Ausgabe des „Rolling Stone“ oder Thomas Gottschalk repräsentiert zu werden, der sich seit mehr als 20 Jahren beklagt (Öffnet in neuem Fenster), dass das früher ja noch richtige Musik gewesen sei.

Gelebte Tradition, die immer wieder neu mit Leben gefüllt wird, kann sogar in einer Kirchengemeinde sehr schön und wertvoll sein. Das setzt natürlich eine gewisse geistige Beweglichkeit bei den Älteren und ein selbstbewusstes Engagement bei den Jüngeren voraus.

In den letzten Wochen gab es einige Aufregung um Markus Lanz und Richard David Precht, weil die sich auf einer Podiumsdiskussion im März (Öffnet in neuem Fenster) (!) abfällig über junge Menschen geäußert hatten. Ich habe länger überlegt, ob ich mich der Aufregung noch anschließen soll, hab dann aber in meinem Blog doch über die Ephebiphobie (Öffnet in neuem Fenster) der beiden (und verschiedener anderer Medienpersönlichkeiten) geschrieben: coffeeandtv.de (Öffnet in neuem Fenster)

Mehr als 48 Stunden später weiß ich immer noch nicht, ob das eine gute Idee war. Natürlich wollte ich meine Generation (und vor allem die nachfolgenden) verteidigen; ich habe versucht, mich mit den Heiopeis auf den Gebieten der Humortheorie, der Lebensmittel-Kritik und der Erziehungsgeschichte auseinanderzusetzen, indem ich einen Text geschrieben habe, in dem ich feststelle, dass die beiden an Austausch und Argumenten nicht interessiert sind. Und ich habe fünfzehntausend Zeichen verwendet, um über zwei Männer zu schreiben, denen ich im ersten, dritten und sechsten Absatz jede tiefere Relevanz abspreche. Im Grunde genommen habe ich also getwittert. (twittern | Verb: aufgrund mangelnder Impulskontrolle öffentlich und sehr emotional auf etwas reagieren, dessen Relevanz man selbst in Frage stellt. Nicht zu verwechseln mit „tweeten“: einen Tweet verfassen.)

Wenn ich versuche herauszufinden, warum mich ausgerechnet Lanz und Precht, zwei Menschen, mit deren Lebenswerk ich mich in Summe vier Stunden beschäftigt habe (drei davon die erste Ausgabe von „Wetten, dass..?“), derart aufregen (um das bei jungen Leuten so beliebte Verb „triggern“ aus gutem Grund (Öffnet in neuem Fenster) zu vermeiden), diagnostiziere ich bei mir eine tiefe Frustration. Ich merke, dass ich sie dafür verantwortlich mache, dass sie im Alleingang das schöne Medium Podcast für das deutsche Publikum definiert haben als „zwei weiße Typen stimmen sich gegenseitig zu“; dass ich eine längst vergangene Zeit vermisse, in der Intellektuelle und Fernsehmoderatoren so waren wie Roger Willemsen; dass sie (gemeinsam mit Christian Lindner und der Fernsehsendung „Die Höhle der Löwen“) für eine neoliberale Weltsicht stehen, die mir zutiefst zuwider ist.

Am Ende sind Lanz und Precht natürlich eh vor allem eins: bestätigendes Geräusch für Menschen, die keine Stille ertragen, es aus irgendwelchen Gründen nicht in die Kneipe schaffen und niemanden für ein Selbstgespräch finden. Weiße Männer, die öffentliche Räume blockieren, die mit irgendwie andersartigen Menschen für alle lohnender gefüllt werden könnten. Also auch nur Schulz und Böhmermann für Boomer.

Nach dem überraschenden Vorrunden-Aus des deutschen Teams bei der Fußballweltmeisterschaft der Frauen, kurz nach dem überraschenden Vorrunden-Aus des deutschen Teams bei der U-21-Fußball-Europameisterschaft der Männer und dem überraschenden Vorrunden-Aus des deutschen Teams bei der Fußballweltmeisterschaft der Männer, traten in der medialen Ursachen-Analyse zwei eigentlich konträre Schwerpunkte in den Vordergrund: der eine war die sogenannte Mentalitätsfrage (vulgo: „junge Menschen können nicht mit Herausforderungen umgehen“, vgl. Precht et al.), der andere die sogenannte deutsche Gründlichkeit. Alles würde von Seiten des DFB und des Trainer*innenstabs per Videoanalyse und Excel-Tabellen so genau vorbereitet, dass für Kreativität überhaupt kein Platz mehr existiere und niemand darauf eingestellt sei, wenn es mal nicht nach Plan laufe (was es, wie der Großvater noch wusste (Öffnet in neuem Fenster), nie tut).

Vor allem der zweite Ansatz würde so vieles erklären: deutsches Formatradio und seine „wiederverwertbaren Deutschpopmusiker“ (Benjamin von Stuckrad-Barre); gleichförmige Bausparsiedlungen; Angela Merkel und Olaf Scholz. Wenn ich Deutschland im Jahr 2023 in einem Adjektiv zusammenfassen müsste, wäre es „lauwarm“. Das ist angesichts weltpolitischer Heißsporne („Altertümliche Begriffe“ für 800, bitte!) wie Vladimir Putin und Donald Trump einerseits wohltuend, andererseits im Inneren frustrierend — und es ist perfekt abgebildet in einer Regierungskoalition, in der die eine Seite das Land mit Austeritätspolitik und Energiekonzepten des 20. Jahrhunderts fit für die Zukunft machen will und die andere Seite unter „Zukunft“ die Förderung von Kindern und Umweltschutz versteht. Da ist es absolut kein Wunder, dass so viele Menschen mit der Arbeit der Regierung unzufrieden sind — allen voran diejenigen, die eine der Regierungsparteien gewählt haben.

Aber, ehrlich gesagt: Ich weiß es doch auch nicht!

Was macht der Garten?

Ich habe genau letzte Woche gelesen, dass man Tomatenpflanzen immer ordentlich beschneiden soll, weil sie sonst einfach in alle Richtungen weiterwachsen. Das erklärt vieles.

Was hast Du gehört?

Georgia Barnes ist eine englische Musikern, deren Debütalbum „Georgia“ 2015 erschienen ist. Ich bin 2020 auf sie aufmerksam geworden, als dessen Nachfolger „Seeking Thrills“ rauskam: perfekt produzierter Elektropop, der ein bisschen an Robyn, ein bisschen an Christine & The Queens und ein bisschen an Ider erinnert. Jetzt ist Georgias drittes Album „Euphoric“ (Domino; Apple Music (Öffnet in neuem Fenster), Spotify (Öffnet in neuem Fenster)) erschienen, das seinem Titel durchaus gerecht wird. In vielen Rezensionen sprechen die Musikjournalist*innen davon, dass Georgias Musik eher nach dem Sonnenaufgang nach einer durchgefeierten Nacht klingt als nach der Party selbst, und ich finde, das trifft es perfekt. 

Einen Song von „Euphoric“ und viele weitere tolle, neue Songs spiele ich in der aktuellen Ausgabe meiner Musiksendung Coffee And TV: Spotify.com (Öffnet in neuem Fenster)

Nachdem ich öffentlich in einem Nebensatz erwähnt hatte, dass ich gerade zum Thema Zigarettenwerbung recherchiere, wurde mir von mehreren Personen der Podcast „Behind The Bastards“ empfohlen, der sich grundsätzlich mit den „schlimmsten Menschen der Geschichte“ beschäftigt und in zwei (Öffnet in neuem Fenster) Folgen (Öffnet in neuem Fenster) konkret mit der Tabakindustrie. Die These der Macher: Ungefähr alles, was wir heute als westliche Populärkultur kennen, wurde erfunden, um Zigaretten zu verkaufen — von Sammelbildern über Musik-Charts bis hin zu „ausgewogenem Journalismus“ („Oder soll man es lassen?“). Mir schwirrte danach reichlich der Kopf. [Von der Redaktion gestrichene Pointe: „und ich musste erstmal eine rauchen.“]

Was hast Du gesehen?

Im letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) hatte ich geschrieben, dass „Mission: Impossible“ mein liebstes movie franchise ist. Nach mehr als 20 Jahren hab ich jetzt noch mal den zweiten Teil gesehen und ich muss sagen: Es ist absolut verdient, dass der Film auf den meisten (Öffnet in neuem Fenster) Listen (Öffnet in neuem Fenster) als der schwächste der Reihe gilt. 

Ich weiß noch, wie aufgeregt ich im Jahr 2000 als 16-Jähriger war: John Woo, der zuvor den - wie wir damals fanden - großartigen Action-Kracher „Face/Off“ gedreht hatte, als Regisseur. Der erste Filmtrailer, den ich mir per Modem-Internetverbindung heruntergeladen hatte. Limp Bizkit mit ihrer Interpretation der berühmten Titelmelodie! 

Nichts - außer dem damals 16-Jährigen - aus diesem Absatz ist gut gealtert: „Mission: Impossible 2“ ist ein Film mit soliden Action-Sequenzen, aber einem look and feel, das aus heutiger Sicht antiquierter erscheint als manche Filme der 1970er. (Falls jemand von Euch weiß, wann das eigentlich aufgehört hat, in Actionfilmen Zeitlupen einzubauen: Sagt mir Bescheid!)

Was hast Du gelesen?

Matthes Köppinghoff hat für NDR.de (Öffnet in neuem Fenster) über die Gegenwart der Popmusik geschrieben. Ausgehend von der etwas kurzsichtigen These, dass heute vor allem Alben von Acts erscheinen würden, die schon vor 20, 30 Jahren groß waren, schreibt er über die letzten Bands, auf die sich alle einigen konnten; die Diversifizierung durch Streaming-Dienste und den Musikjournalismus an sich. 

Der Text ist an manchen Stellen eine brutale Selbstbezichtigung, an anderen gut komprimierte Kritik am Promotion-Circus und gerade der Umstand, dass sich der Autor beim Versuch, einfache Antworten zu geben, immer mehr der Komplexität der Gemengelage geschlagen gibt, macht ihn lesenswert. Einzig die Formulierung seines musikjournalistischen Selbstverständnisses („Ob ich etwas gut finde, ist dabei übrigens komplett egal, denn um mich geht’s dabei nicht.“) widerspricht meiner Erwartung, die ich schon als Rezipient an Musikjournalismus habe, komplett. 

[Offenlegung: Ich arbeite als freier Mitarbeiter für den NDR und Matthes Köppinghoff ist offenbar - wie ich - in der Nähe von Dinslaken aufgewachsen, ich kenne ihn aber nicht persönlich.]

Was hast Du zum ersten Mal gemacht?

Cranger Kirmes-Umzug (s.o.). Wer kommt nächstes Jahr mit?

https://www.youtube.com/watch?v=_c_Yg8azAi0 (Öffnet in neuem Fenster)

Ein Song über die Hölle, Gaste in einer Fernseh-Talkshow zu sein.

Wenn Euch diese Ausgabe des Newsletters gefallen hat, leitet sie doch an eine Person weiter, von der Ihr glaubt, dass auch sie Interesse daran haben könnte. Mein Ziel ist es ja, das Publikum dieses kleinen Newsletters behutsam zu vergrößern.

Und wenn Euch dieser Newsletter so gut gefällt, dass Ihr dafür bezahlen - und indirekt auch mein nächstes Buchprojekt unterstützen - wollt, könnt Ihr das hier tun:

Habt ein schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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