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Planet Telex

Some guy on the net thinks I suck and he should know
He's got his own blog
(Nick Hornby & Ben Folds)

124/∞

Good evening, Europe!

Irgendwann in diesen Tagen (und es ist die eigentliche Sensation am nun folgenden Text, dass ich nicht das genaue Datum kenne) jährt es sich zum 25. Mal, dass ich online gegangen bin.

Ich war schon vorher mal „im Internet“ gewesen: Zum allerersten Mal bei meinem Onkel in San Francisco, wo ich das unvorstellbare Angebot von Yahoo! ausnutzte, um mir Ausmalvorlagen von Disney-Charakteren und eine AP-Meldung über das verheerende Feuer (Öffnet in neuem Fenster) im Düsseldorfer Flughafen auszudrucken (den Namen des damaligen Pressesprechers der Feuerwehr Düsseldorf könnte ich sinnloserweise auch heute noch sofort nennen); später auch in der Stadtbibliothek, wo meine Mutter arbeitete und ich die Freitagnachmittage, wenn der Chef schon nach Hause gegangen war, nutzte, um mir am einzigen WWW-fähigen Rechner Bildschirmschoner von „Mars Attacks!“ herunterzuladen.

Aber irgendwann im Spätsommer 1998 habe ich endlich eine der vielen, vielen AOL-CDs, die damals nicht nur Computerzeitschriften beilagen, sondern eigentlich überall auslagen, ins CD-Rom-Laufwerk meines Desktop-Computers geschoben, die Software installiert und bin über das 14.4-KB-Faxmodem (ich habe das Gefühl, diesen Text hier gerade sehr dringend mit Fußnoten versehen zu müssen, aber ich fürchte, das geht technisch nicht), das mir der erwachsene Sohn unserer Nachbarn überlassen hatte, von zuhause aus online gegangen.

Die qualvollen Geräusche eines solchen Modems sind legendär, die Telefongebühren, die sich dadurch anhäuften, auch. An so etwas wie Streaming (noch dazu von Videos) war absolut nicht zu denken. Wenn ich online war, war bei meinen Eltern - und, schlimmer noch: bei meiner Schwester - besetzt. Aber ich konnte E-Mails verschicken! Zwar kannte ich nur zwei Menschen, die auch eine E-Mail-Adresse hatten, und einer davon war ein Mitschüler, den ich eh jeden Tag in der Schule sah, aber der andere war mein Onkel in San Francisco und wie crazy war es, dem einen Text schicken zu können, den er theoretisch sofort lesen konnte?! (Es war überschaubar crazy, denn natürlich hatten wir ein Fax-Gerät, um z.B. meinem Onkel einmal im Jahr einen handschriftlichen Geburtstagsgruß zukommen zu lassen. Aber E-Mail war halt schneller.)

Es wäre Quatsch, zu behaupten, dass ich damals irgendwie geahnt hätte, welche Bedeutung das World Wide Web einmal einnehmen würde. Ich habe überhaupt nichts geahnt oder an die Zukunft gedacht — ich war 14 und würde in vier Jahren Abitur machen, soweit war die Zukunft erstmal klar und wenn wir im Jahr 2000 wirklich fliegende Autos haben sollten, würde sich die Automobilindustrie mal ein bisschen beeilen müssen. Für mich war das WWW eine Art noch coolerer Videotext. (Meine Eltern besaßen damals kein Fernsehgerät, mit dem man Videotext hätte empfangen können — oder mehr als sechseinhalb Sender. Wobei der halbe Sender das krasseste war, was ich in meinem Elternhaus je erlebt hatte: Es war das Fernsehprogramm des britischen Soldatensenders BFBS, wo man Filme und Serien im englischen Original sehen konnte.)

Die Idee, dass dieses WWW nicht nur in eine Richtung funktioniert, muss ich aber damals schon verstanden haben, denn ich wollte unbedingt eine Homepage haben. Was darauf stehen und wer zum Henker sich die anschauen sollte (zwei Menschen mit E-Mail-Adressen, s.o.) war egal: Ich hatte schon als Dreijähriger auf der Geburtstagsfeier meines Großvaters gesungen, ich hatte mein halbes Leben lang Theater gespielt, es gab keine Zweifel, dass ich auch im Internet sein musste. 

Durch die ordnende Hand von Yahoo! stieß ich auf eine kleine Internetseite namens „Schröders kleine Filmseiten“, wo ein Mann namens Jörg Schröder eigene Filmkritiken veröffentlichte. Ich las alles durch, was er geschrieben hatte, dann schrieb ich ihm eine E-Mail, ob ich mitmachen dürfte. (Mein gesamter weiterer beruflicher Werdegang war in dieser etwas überraschenden Initiativbewerbung bereits angelegt, wie ich genau gerade jetzt feststelle.) Wenn Menschen heute sagen, dass das Netz nichts vergisst, ist das sicherlich zutreffend, aber es gibt glücklicherweise keinerlei Spuren meiner ersten Rezensionen (oder der Seite überhaupt (Öffnet in neuem Fenster)).

Es ging dann weiter mit Usenet (Öffnet in neuem Fenster), Webforen und irgendwelchen Webseiten, auf denen ich mich als Musikjournalist ausprobieren konnte. Ich hatte noch nie von Bertolt Brechts Radiotheorie (Öffnet in neuem Fenster) gehört, ich verstand das Internet nicht als Wert an sich, sondern als einfachen und preiswerten Distributionskanal. Im Internet konnte man halt seine eigene Zeitung machen, so wie Tauschplattformen im Prinzip auch nur eine sehr große Stadtbibliothek war, für deren Besuch man das Haus nicht verlassen musste.

2005 hatte die von mir hochverehrte Band Tomte sich ein sogenanntes Blog (Öffnet in neuem Fenster) eingerichtet, um von Touralltag und Album-Produktion zu berichten. Die Idee fand ich gut, also legte ich für mich und zahlreiche Freund*innen ein eigenes Blog (Öffnet in neuem Fenster) an, als wir alle im Auslandssemester waren — und aus diesem Projekt ist dann Coffee And TV (Öffnet in neuem Fenster) entstanden, gleichermaßen größenwahnsinnig wie selbstverständlich konzipiert als „die Zeitung, die wir selber gerne lesen würden“.

Wenn kluge Menschen progressive Konzepte entwickeln, machen sie dabei fast immer den Fehler, davon auszugehen, dass alle Menschen so seien wie sie selbst (eh so ein beliebter Grundfehler von Akademiker*innen) und schon niemand auf die Idee kommen wird, die neue Idee zu missbrauchen. Und dann muss der Rest der Menschheit damit leben, dass es Cum-Ex-Geschäfte, einen US-Präsidenten Donald Trump oder auf Gehwegen liegende E-Scooter gibt. 

Leider erwecken Mark Zuckerberg, Jack Dorsey oder Elon Musk nicht den Eindruck, unbedingt als „kluge Menschen“ bezeichnet werden zu müssen, und deshalb ist im Internet des 21. Jahrhunderts alles noch viel, viel schlimmer. 

Oder, wie es Marcus Wiebusch vor neun Jahren in „Haters Gonna Hate“ (Öffnet in neuem Fenster) formuliert hat:

Nimm einen ganz normalen Typen
So wie er im Buche steht
Gib diesem Typen Anonymität
Gib ihm Publikum, das nicht weiß wer er ist
Du kriegst das dümmste Arschloch, das du nicht vergisst

Vermutlich habt Ihr jetzt auch irgendwelche Boomer auf Facebook vor Augen, die mit Motorrad (er) oder Blume (sie) im Profilbild gegen Geflüchtete, FFP2-Masken oder vegane Ernährung hetzen, aber andererseits sind das natürlich auch Menschen, die ein Werkzeug in die Hand gedrückt bekommen haben, mit dem sie nie gelernt haben umzugehen. Quasi wie junge Fußballspieler, die mit Luxusuhren rumprotzen und goldverzierte Steaks essen, nur mit anderen Vorzeichen. 

Natürlich könnte ich mich jetzt beklagen, dass das Internet spätestens seit 2010 Grütze ist: Hasskommentare, Wahlmanipulationen, Zitatkacheln oder Hochkant-Videos, die zur Hälfte mit irgendwelchen Menüs bedeckt sind, sind die unterschiedlichsten furchtbaren Ausprägungen einer ursprünglich tollen Idee (Öffnet in neuem Fenster), aber das sind Formatradio, Pizza Hawaii und die Saudi Professional League auch. Und ohne dieses Internet müsste ich jeden Tag in irgendwelchen Redaktionen sitzen und mit dem Wissen arbeiten, das in ein paar Bücher und ältere Redakteure passt. Da hat es dann doch gewisse Vorteile, von zuhause aus arbeiten und in zahlreichen Quellen recherchieren zu können. (Und woher wüsste ich, wo die Redaktion liegt und wie man mit der Bahn dorthin kommt?!) Weggehen wird das Internet eh nicht mehr — zumindest, bis die Künstliche Intelligenz es abschaltet.

Zu den Vorteilen des Internets gehört sicherlich, dass ich dort immer noch machen kann, was ich will und was ich gerne selbst rezipieren würde. So habe ich mich diese Woche mit meinem guten Freund Jens Kölsch getroffen, um eine neue Ausgabe von Coffee And TV — Die Musiksendung zu produzieren. Passend zur hier eh schon dominanten Nostalgie haben wir über ein Jahr gesprochen, das jetzt zwanzig Jahre her ist: 2003. 

Es geht um Alben als Begleiter bei Liebeskummer, um den Anfang einer ganz neuen Welle von Deutschpop, um Indierock und generell um empfindsame Musik — mit Exkursen zum Thema „Illegale Downloads“, „Emo“ und „Abilieder“. Wir gehen mit unseren jüngeren Ichs zwischendurch hart ins Gericht, aber dann startet Jens unvermittelt seine Karriere als Motivationstrainer und spätestens zu den Klängen von „Die Schönheit der Chance“ wird alles gut.

Die Folge ist hundert Minuten lang geworden (viel zu langes Gerde von zwei weißen Typen — noch so ein Elend, das wir dem Internet verdanken!), aber wir hoffen, dass Ihr ähnlich viel Spaß beim Hören habt wie wir bei der Aufzeichnung: spotify.com (Öffnet in neuem Fenster)

Was macht der Garten?

Nachdem uns unsere Erdbeerpflanzen im Frühjahr eher enttäuscht hatten, wachsen plötzlich jede Menge Früchte.

Was hast Du gehört?

Deer Anna kommt aus Hamburg und wenn „International klingende Musikerin aus Deutschland“ ein Genre wäre, würde sie neben Philine Sonny und Maryaka dazugehören. Ihr melancholischer Indiepop liegt irgendwo zwischen boygenius, Laura Marling, Weakerthans und Stars und mit ihrem Debütalbum „Sometimes I’m Dizzy When I Scream“ (DanCan Music; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) werden wir im Herbst noch viel Spaß haben. Wenn man unter „Spaß“ versteht, gedankenverloren aus dem Fenster in den Nebel zu starren.

Was hast Du gelesen?

Vor zwei Wochen hätte meine Omi ihren 97. Geburtstag (Öffnet in neuem Fenster) gehabt. Wir mussten ohne sie feiern, weil sie letztes Jahr im Oktober gestorben (Öffnet in neuem Fenster) ist. Die letzten Tage vor ihrem Geburtstag waren überraschend hart für mich, so als ob ich erst dann richtig begriffen hätte, was es bedeutet, wenn ein Mensch „nicht mehr da“ ist. Und da dachte ich: Das ist ein guter Zeitpunkt, um endlich „The Year of Magical Thinking“ von Joan Didion zu lesen.

In dem Buch verarbeitet Joan Didion das erste Jahr nach dem Tod ihres Mannes John Gregory Dunne; wobei „verarbeiten“ eher in einem handwerklichen Sinn als in dem einer Bewältigung zu verstehen ist, denn so richtig gelingt ihr das natürlich nicht — was aber, wie sie selbst schreibt, auch total okay ist.

Dunne stirbt zu Beginn des Buchs, als Quintana, die Tochter der beiden, bewusstlos auf der Intensivstation liegt, und er stirbt immer wieder, weil Didion seinen Tod immer wieder durchspielt, in der Hoffnung zu verstehen, was geschehen ist. Quintana wird später noch einmal schwer krank werden und zwischen der Fertigstellung des Buchs und seiner Veröffentlichung sterben, was Didion in einem weiteren Buch („Blue Nights“) thematisiert und was „The Year of  Magical Thinking“ eine zusätzliche, über den Text hinausgehende Schwere verleiht.

Ohne bisher sonderlich viel von Joan Didion gelesen zu haben, weiß ich natürlich um ihren Ruf als eine der größten Schriftstellerinnen und Essayistinnen ihrer Zeit und würde sie auch jederzeit als Vorbild bezeichnen. „The Year of  Magical Thinking“ zeigt ihre Gabe, Persönliches und Wissenschaftliches zu einem bunten Quilt zu verarbeiten. Es ist das Gegenteil von Ratgeberliteratur: Ausgehend von ihrem Schicksalsschlag/ihren Schicksalsschlägen startet sie eine Meditation über Trauer, Tod und Leben; Hoffnung taucht auf, aber am Ende ist die Wahrheit eben: Das Leben ändert sich schnell.

Ich habe das Buch zufällig als Hörbuch auf Spotify (Öffnet in neuem Fenster) gefunden - auf Deutsch, sehr ausdrucksstark gelesen von Marlen Diekhoff - und ein paar Tage lang in jedem Moment gehört, wo ich Zeit hatte. Ich habe viele - nicht alle - Gedanken und Gefühle wiedererkannt. Wenn Ihr in einer ähnlichen Situation der Trauer seid oder einfach ein beeindruckendes Buch lesen/hören wollt, kann ich „Das Jahr magischen Denkens“ von Joan Didion sehr empfehlen.

https://www.youtube.com/watch?v=QLPA_iTJccU (Öffnet in neuem Fenster)

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Habt ein schönes Wochenende!

Always love, Lukas

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