Wir malen ein X mit Kreide an die Stelle
An der wir früher standen
Egal wie klein wir morgen sind
Heute Nacht sind wir Giganten
(Thees Uhlmann)
Good evening, Europe!
Das Kind hatte sich Kraftwerk gewünscht, also hatte ich auf Spotify die „Autobahn“ rausgesucht, kurz bevor wir auf die Autobahn fuhren. Und ich schwöre: Exakt an der Stelle der A59, wo die Ausfahrt Duisburg-Fahrn ausgeschildert war, setzte der Gesang ein: „Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n auf der Autobahn“. 12.993 km Bundesautobahnen und wir erwischen die 300 entscheidenden Meter — ich liebe es, wenn die Dinge so perfekt aufgehen und einen Sinn ergeben!
Wir waren in Dinslaken gewesen, um die Großeltern zu besuchen, aber auch, um unser erstes Konzert seit Beginn des Lockdowns zu besuchen — ich nach Carly Rae Jepsen, das Kind nach kettcar. Und auch hier gingen die Dinge wieder perfekt auf und ergaben einen Sinn, denn das Konzert, das wir im Burgtheater sahen, war der Tourauftakt von Thees Uhlmann und Band. Ausgerechnet an dem Ort, wo ich die ersten Kindertheaterstücke gesehen hatte, ungefähr alle Dinslakener Bands, aber auch muff potter., die Donots und absurderweise auch Tom Jones (Öffnet in neuem Fenster), ausgerechnet in meiner alten Heimatstadt („Dinslaken ist kein Dorf!“, Thees Uhlmann) sah ich jetzt gemeinsam mit meinem Kind den Mann, den ich darüber kennengelernt hatte, dass ich ihm das Demo einer Dinslakener Band zugesteckt hatte, und der Songs über das Leben auf dem Dorf und mit Kind sang. Es war ein Corona-konformes Sitzkonzert, was auch ganz gut war, weil ich sonst vermutlich meine Sprunggelenke endgültig gefraggt hätte.
Man braucht solche Erlebnisse. Um sich abzulenken und um irgendwie klarzukommen mit den Nachrichten, die ja gar nicht mehr aufhören, apokalyptisch zu sein: Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei (und löst bald „Deutschland sucht den Superstar“ ab als Hass-Event, von dem man wirklich nicht noch eine Ausgabe braucht), quasi vor unserer Haustür ist die Welt untergegangen (schon in Bochum-Dahlhausen, direkt unten an der Ruhr, ist einiges in Mitleidenschaft gezogen worden, was aber noch kein Vergleich zu anderen Gegenden ist) und der Aachener Karnevalsprinz, der NRW übergangsweise regieren darf, bis sich mal wieder ein*e Spitzenpolitiker*in in das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland („Wie viel ist das in Österreichen?“ — „Zwei!“) verirrt, schickt sich ernsthaft an, Bundeskanzler werden zu wollen, was bestenfalls nie geschieht. (Zwei gute Texte über Armin Laschet und andere Politiker*innen in Gummistiefeln: von Stefan Reinecke in der „taz“ (Öffnet in neuem Fenster) und von Micky Beisenherz bei stern.de (Öffnet in neuem Fenster).)
Heute habe ich aus meinem heimischen Zeitschriften-Archiv eine fast 20 Jahre alte Ausgabe vom „jetzt“-Magazin hervorgekramt, um auf Instagram (Öffnet in neuem Fenster) über den Tod von Carlo Giuliani bei den G8-Protesten in Genua, heute vor 20 Jahren, zu schreiben. Dabei ist mir auch ein Heft mit den legendären „Lebenswert“-Listen von „jetzt“ in die Hände gefallen, also habe ich auf Instagram nach Gründen gefragt, warum es sich zu leben lohnt.
Hier die Antworten: „Käse“, „Liebe“, „Eiswürfel im Getränk und Sonne auf der Nase“, „Das Gefühl im Brustkorb, wenn man ein schönes Lied hört“, „Spring für die Menschen, die Dich lieben werden, spring für die Songs, die noch geschrieben werden“ (ein Lied (Öffnet in neuem Fenster), in dem Marcus Wiebusch Andrew McMahon zitiert — habe ich gesagt, dass ich es liebe, wenn die Dinge so perfekt aufgehen?), „Gefühle und das Leben an sich. Und Musik.“, „Neugierde, ich will noch was lernen.“, „Weil Iggy Pop kommendes Jahr nochmal auf Tour kommt.“, „Hunde. Und Glühwürmchen.“
Ich denke, da ist für alle was dabei!
Was macht der Garten? Der wird dieses Jahr natürlich deutlich besser bewässert als in den letzten Jahren. Das wirkt sich gut aufs Wachstum aus. Und auf die Schneckenplage.
Was hast Du gehört? Wie alle anderen Menschen auch, habe ich natürlich „SOUR“ (Geffen; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) von Olivia Rodrigo gehört. Gut: Ich bin kein Teenager mehr (zum Glück!), was mich thematisch etwas von diesem Album fernhält — aber andererseits waren wir ja alle mal jung und wie großartig das musikalisch ist! Was für ein Glück es sein muss, heutzutage Teenager zu sein! (Jetzt mal auf das musikalische Angebot bezogen, weniger auf klassische Pubertäts-Themen und Politik.)
Aus der Zeit, wo ich selber 18 war, haben zwei Bands neue Alben veröffentlicht: „Talks Of Paradise“ von Slut (Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) ist alles andere als schlecht, aber ich merke, dass ich das mit 37 nicht unbedingt brauche; „Exit Wounds“ (New West Records; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) hingegen, das erste Album von The Wallflowers seit neun Jahren, ist auch ziemlich gut geworden und irgendwie so Americana-Rock für Männer in Chucks und Jeansjacken, die langsam, aber sicher auf die 40 zugehen. Also: Ich digg’s!
Was hast Du gesehen? Auf Disney+ (of all places) kann man die brandneue Doku-Serie „Pride“ (Öffnet in neuem Fenster) gucken, die ursprünglich von FX und Vice produziert wurde und sich in sechs Folgen mit der LGBTIQ+-Community in sechs Jahrzehnten befasst — vom „Lavender Scare“ der 1950er Jahre über die Ausschreitung rund um Compton's Cafeteria und das Stonewall Inn, natürlich die AIDS-Katastrophe der 1980er und Bill Clintons unsägliche „Don’t ask, don’t tell“-Politik bis zu „Black lives matter“-Demonstrationen der Gegenwart kommt ungefähr alles vor, was für die (amerikanische) LGBTIQ+-Geschichte wichtig ist.
Ich wusste zwar schon einiges (wobei Ikonen der Bewegung wie Harvey Milk oder Marsha P. Johnson hier eher am Rande vorkommen und das Licht dafür auf andere Personen gerichtet wird), habe aber hier noch mal wahnsinnig viel dazugelernt. Und es ist auf eine gewisse Art als Fortschritt zu sehen, dass sich republikanische Präsidentschaftskandidaten aus strategischen Erwägungen heute nicht mehr offensiv gegen Homosexuelle aussprechen können, was vor 30 Jahren noch völlig normal war, aber es ist wahnsinnig frustrierend und bedrückend, dass man so ein Minimum als „Fortschritt“ ansehen muss und dass sich noch so viel ändern muss!
Jede Folge wurde von einer anderen Person inszeniert und hat entsprechend auch eine ganz eigene Anmutung und ich finde die Reihe rundum gelungen. Sowas würde ich mir auch mal über die LGBTIQ+-Geschichte in Deutschland wünschen, wo sich mein Wissen ziemlich präzise auf Rosa von Praunheim bei „Der heiße Stuhl“ und Klaus Wowereits Coming-Out beschränkt.
Was hast Du gelesen? Im Internet gibt es eine (offenkundig sehr alte) Seite (Öffnet in neuem Fenster), in der die These aufgestellt wird, dass der Unfalltod von Lady Diana Spencer im Werk von Morrissey und The Smiths vorweggenommen würde — unter Zuhilfenahme der Biographie von Jayne Mansfield. Ich habe keine Ahnung, wie ernst gemeint das alles ist; ich hatte bei der Lektüre die ganze Zeit Angst, gleich in einen Kaninchenbau schlimmer Verschwörungsmythen zu rutschen, aber es ist hunderttausendmal unterhaltsamer und harmloser als das, was ehemalige Schlagersänger aus Dinslaken (ich hatte Euch versprochen, dass die Dinge perfekt aufgehen würden!) und andere Artgenossen so unter das Volk pusten.
Was hast Du gelernt? Italien ist natürlich das erste Land, dass innert eines Kalenderjahres sowohl den ESC als auch die Fußball-EM gewonnen hat — aber nur bei den Männern. Die Frauen waren da (natürlich) wieder schneller: Bei der allerersten Frauen-EM überhaupt, im Mai 1984, gewannen die Schwedinnen wenige Wochen nach den Herrey’s (Öffnet in neuem Fenster).
https://www.youtube.com/watch?v=gNi_6U5Pm_o (Öffnet in neuem Fenster)Habt eine schöne Restwoche!
Herzliche Grüße, Euer Lukas
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