Is this the way to normal
Is this the way to normal
Show me the way to normal
(Ben Folds)
Good evening, Europe!
Es ist jetzt auch schon wieder vier Wochen her, dass ich aus Rotterdam zurückgekehrt bin (alle Insta-Stories vom ESC 2021 gibt es nach wie vor bei mir in den Highlights (Öffnet in neuem Fenster)) und der VfL Bochum aufgestiegen ist. Es fühlt sich an wie in einem anderen Zeitalter: War die Anwesenheit eines Publikums an den ersten Abenden für mich psychisch durchaus noch herausfordernd, fiel mir am Freitag bei der Generalprobe auf, dass mir die paar Tausend Menschen inzwischen wieder relativ normal vorkamen. Die gute Nachricht, also: Zumindest ich gewöhne mich offenbar wieder sehr schnell an die Normalität von früher.
Inzwischen sehen wir eine Fußball-EM mit deutlichem größerem Publikum (in Ungarn gar mit ausverkaufter Hütte) und es hat schon wieder viel von früher — und so sehr ich Bock hätte, endlich mit dem Kind wieder ins Stadion (1. Liga, hatte ich das schon erwähnt?) zu gehen, so sehr ärgere ich mich auch, dass man wegen der blöden Fangesänge überhaupt nicht mehr hören kann, was Spieler und Trainer da so rufen.
Ich selbst bin inzwischen offiziell zweifach geimpft und kann im Prinzip ganz entspannt wieder alles machen, was ich will. Da sollte man mal kurz innehalten und sich fragen: Was will ich eigentlich? Eigentlich müsste ich es ja als Staatsbürgerpflicht verstehen, jetzt in die Gastro zu rennen — nicht nur, um die Wirtschaft anzukurbeln, sondern auch und vor allem, um jenen Menschen den abgezählten Platz wegzunehmen, die noch nicht geimpft sind und sich und andere anstecken könnten. Trinken als Infektionsschutzmaßnahme.
Margarete Stokowski hat, wie es so ihre Art ist, einen phantastischen, klugen Text (Öffnet in neuem Fenster) für „Spiegel Online“ geschrieben, mit dem sie den „Post-Corona-Burn-out“ verhindern will:
Stopp! Wir müssen nicht alles nachholen, das allermeiste können wir gar nicht nachholen. Es würde vielen Leuten sehr guttun, wenn ein »ich kann das gerade nicht« oder »ich will das gerade nicht« ein sozial mehr akzeptierter Grund wäre, berufliche oder private Dinge nicht zu tun.
Wenn ich daran denke, dass es - falls alles wirklich gut läuft - in sechs Monaten wieder darum geht, Weihnachtsfeiern in der Schule und im Sportverein zu besuchen, Menschen „dieses Jahr noch mal“ auf einen Glühwein zu treffen und Geschenke, Zeit- und Essenspläne für die Feiertage mit der Großfamilie zu koordinieren, kribbelt meine Haut und mein Blutdruck geht hoch. Letztes Jahr konnte ich meinen Geburtstag nicht feiern wegen dieser verfickten Pandemie, aber dieses Jahr wäre es - auch hier: im Optimalfall - meine freie Entscheidung, nicht anderthalb Tage in der Küche zu stehen, zwei Mal die Wohnung zu putzen und mit Dutzenden Menschen Dutzende Minimal-Gespräche zu führen — und was, bitte, ist mächtiger als diese Freiheit?!
Im letzten „New York“-Magazin steht ein Artikel (Öffnet in neuem Fenster) über „The return of FOMO“, also die Rückkehr der fear of missing out, jener sehr zeitgenössischen Sorge, gerade etwas zu verpassen, egal ob man im Moment zuhause sitzt oder drei Veranstaltungen hintereinander besucht, die sich im Nachhinein als die weniger interessanten jenes Tages herausstellen könnten:
But it’s a FOMO that has caught us with our defenses down, less sure of what we want or the certainties that supported us going into, or going through, the last drudging months. Do I really want to go back to the old way? Will I be able to continue all the practices I developed in the pandemic era? Does everyone want to do something I now realize I don’t want to do? Do I actually want to do something I didn’t think I wanted to do?
Am Samstag wollten wir das gute Wetter und die Gunst des EM-Spielplans nutzen und endlich mal wieder mit anderen Menschen im Garten grillen und Fußball gucken (schließlich habe ich einen Reisepass, in dem „Staatsangehörigkeit: deutsch“ steht und ich habe mich nicht so genau damit beschäftigt, ob die nicht vielleicht abläuft, wenn man sie nicht wenigstens ab und zu mal ausfährt). Wir haben vier Familien gefragt, niemand hatte Zeit. Wir hatten dann trotzdem einen sehr schönen und gerade deshalb sehr entspannten Tag, aber diese (zugegebenermaßen: arg anekdotische) Erfahrung hat mich schon wieder sehr skeptisch gemacht, was die Rückkehr des Freizeitstresses angeht.
Wobei ich da eh noch mal ganz anders unterscheiden würde zwischen „Arbeit“ (wo man irgendwas tut und dafür Geld bekommt), „Privatleben“ (wo man die Wohnung putzt und sich mit Menschen verabredet) und der eigentlichen „Freizeit“, wo man tun und - vor allem - lassen kann, was man will. Diese drei Blöcke sollten möglichst gleichmäßig auf die wachen 16 Stunden am Tag verteilt sein.
Ich finde es zum Beispiel wahnsinnig anstrengend, mich zu verabreden. Damit meine ich nicht, Menschen zu treffen — das finde ich meistens toll und zu den emotionalen Höhepunkten des 15-monatigen Lockdowns wird für mich ewig dieser eine Spaziergang gehören, auf dem ich zufällig gleich drei Bekannte traf und in sehr herzliche, über die notwendige und ergiebige Länge hinausgehende Gespräche verwickelte. Aber Verabredungen? Das, wo wertvolle Lebenszeit draufgeht, um sich überhaupt erst einmal zu koordinieren, als wäre man Disponent*in im eigenen Leben? Puh. Da lastet ja allein schon wegen dieser vorherigen Anberaumung ein unglaublicher Erwartungsdruck auf dem Treffen, das qua seiner Manifestation im eigenen Kalender schon fast in den Rang eines Events erhoben wurde.
Vielleicht mag ich Kneipen deshalb so sehr: Man geht hin, wenn man Zeit und Bock hat, irgendjemand ist auf alle Fälle da und wenn gerade Fußball läuft, kommt man schon irgendwie ins Gespräch. Hat man diese Phase oft genug durchlaufen, kennt man Wirt und andere Stammgäst*innen beim Namen und unterhält sich auch über andere Themen. Einige der besten Gespräche über Trauer, Tod und Leben habe ich in Kneipen geführt und ich erfahre dort meistens genau den Grad an emotionaler Nähe, mit dem ich einigermaßen gut umgehen kann.
Nachdem ich Euch jetzt mit meinem misanthropischen Coming Out hinreichend verstört habe, habe ich zwei wahnsinnig gute Nachrichten. die eigentlich eine sind — eine für Euch, eine für mich: Im November erscheint mein erstes Buch!
Im. November. Erscheint. Mein. Erstes. Buch.
Egal, wie oft ich es sage und tippe: es bleibt verrückt! Mein Leben lang wollte ich immer ein Buch schreiben, jetzt habe ich die Gelegenheit dazu — und um die Sache so richtig rund zu machen, geht auch noch um den Eurovision Song Contest:
„Eurovision Song Contest — Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ (Titel und Covergestaltung vorläufig) erscheint im November 2021 im Klartext Verlag (Öffnet in neuem Fenster).
Man kann das Buch jetzt tatsächlich schon vorbestellen, was sehr hilfreich für Verlag und Handel (und mithin mich) ist, weil man dann das erste Interesse schon mal abschätzen und direkt mit hoffentlich ordentlichen Zahlen in den Verkauf starten kann. Wenn Ihr das Buch bei Amazon (Öffnet in neuem Fenster) vorbestellt, steigt es dort in den verschiedenen Verkaufslisten und wird so mehr gesehen, aber ich persönlich fände es natürlich cooler, den lokalen Buchhandel um die Ecke zu unterstützen — also: falls Ihr tatsächlich auf die verrückte Idee kommt, mein Buch lesen und kaufen zu wollen, was mir eine große Freude und Ehre wäre!
Die gute Nachricht, die für mich damit einhergeht (neben der Tatsache, dass ein nicht gerade kleiner Lebenstraum in Erfüllung geht): Ich habe für die nächsten Monate die perfekte Erklärung, warum ich leider nicht oder „allenfalls spontan“ an irgendwelchen gesellschaftlichen Verpflichtungen teilnehmen kann.
Was macht der Garten? Der dreht vollkommen auf. Wusstet Ihr, dass Salat-„Köpfe“ einen halben Meter in die Höhe wachsen können und dann aussehen wie kleine Tannenbäume? Auch Erdbeeren haben wir schon reichlich geerntet und die Kübel und Wannen, in denen unsere Pflanzen sprießen bzw. wuchern, sind natürlich schon wieder viel zu voll gepackt mit Tomaten-, Gurken-, Zucchini- und Was-auch-immer-wir-noch-gesäht-haben-Pflanzen.
Was hast Du gehört? Zum ersten Mal, seit ich mich mit dem ESC beschäftige, habe ich nach einem Song Contest Alben der teilnehmenden Acts gehört. Zunächst einmal natürlich „Teatro d’ira — Vol. I“ des siegreichen italienischen Acts Måneskin (RCA/Sony; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)), von dem Kolleg*innen berichten, dass ihre Kinder zwischen Grundschulalter und ausklingender Pubertät völlig begeistert seien, was angesichts von Textzeilen wie „I wanna be your sex toy / I wanna be your teacher / I wanna be your sin / I wanna be a preacher“ im englischsprachigen „I Wanna Be Your Slave“ zumindest bemerkenswert ist. Es ist, wie auch der Siegertitel „Zitti e buoni“ (Öffnet in neuem Fenster), grundsolider Rock mit Versatzstücken aus einer mindestens sechzigjährigen Tradition, dessen Energie einfach Spaß macht.
Mein lieber portugiesischer Kollege Nuno Galopim hatte mir das drei Jahre alte, immer noch aktuelle Album von The Black Mamba mitgebracht, die mit ihrem Song „Love Is On My Side“ (Öffnet in neuem Fenster) auf einem überraschenden zwölften Platz gelandet waren. Auch „The Mamba King“ (Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)) wildert in vergangenen Jahrzehnten der Musikgeschichte, hier vor allem in den späten 1960ern und 70ern, und kommt dabei mit einer überraschenden Mischung aus Classic Rock, Blues und Funk um die Ecke. Zu nahezu jedem Song könnte man das exakte Vorbild benennen, mit dem die Band in den Proberaum gegangen ist, aber sie schaffen es, dass es trotzdem eigenständig und aus einem Guss wirkt.
Apropos Italien: Schon im April hatte ich mich, als ich an meinem kleinen Text (Öffnet in neuem Fenster) über eine Rom-Reise vor 20 Jahren saß, ein wenig in einer der zahlreichen Italo-Pop-Playlisten (Öffnet in neuem Fenster) verlaufen und die aktuelle EM, bei der ich bei jeder Erwähnung des Spielers Ciro Immobile dessen Namen auf die Melodie von Gianna Nanninis „Bello e impossibile“ (Öffnet in neuem Fenster) vor mich hin singe, trägt auch dazu bei, dass ich bis zum nächsten ESC in bella Italia vermutlich alle bedeutsamen Canzoni mitsingen kann. (Sprechen wir an dieser Stelle einfach nicht von aktueller deutschsprachiger Populärmusik, die sich gerade turnusgemäß wieder in einem „Hurra, wir schaffen das!“-Schlager manifestiert, der sich allerdings auch wirklich durch nichts unterscheidet von den exakt gleich klingenden Liedern, die in Jahren ohne große Fußballturniere so die Charts und Radiowellen dominieren. Jedes Land bekommt die Popkultur, die es verdient!)
Hervorheben möchte ich aber auch „Tasjan! Tasjan! Tasjan!“ (New West Records; Spotify (Öffnet in neuem Fenster), Apple Music (Öffnet in neuem Fenster)), das fünfte Album des amerikanischen Musikers Aaron Lee Tasjan: leicht schräger Queer-Folk-Power-Pop, der eigentlich mindestens die gleiche Popularität verdient hätte, die Adam Green etwas unerklärlicherweise vor rund 15 Jahren hierzulande hatte.
Was hast Du gesehen? Ich liebe ja Reisedokus über alles, aber mir ist aufgefallen, was ich noch mehr liebe als Reisedokus: Koch-Reisedokus, in denen Menschen verschiedene Länder bereisen, um die dortigen Spezialitäten zu probieren. Ewiger König dieser Disziplin ist natürlich der inzwischen verstorbene Anthony Bourdain, dem ich in einer Bakublog-Folge (Öffnet in neuem Fenster) eine kleine Hommage versucht habe angedeihen zu lassen, aber es gibt ja auch ständig gute neue Sachen:
Sehr beeindruckend fand ich die Netflix-Reihe „High on the Hog“ (Öffnet in neuem Fenster), in der der Koch und Autor Stephen Satterfield den Ursprüngen der afroamerikanischen Küche (und damit im Prinzip: der US-amerikanischen Küche an sich) nachspürt. In der ersten Folge ist Satterfield in Benin unterwegs und wenn er an einer Gedenkstätte für die versklavten Menschen, die zu Tausenden in die USA verschleppt wurden, steht und von seinen Gefühlen übermannt wird, hat man als weiße Kartoffel auf dem heimischen Sofa erst mal nicht mehr wirklich Appetit. Es ist also, wie jedes popkulturelle Gut, das sich mit Schwarzer Kultur beschäftigt, in Teilen auch immer Geschichtsunterricht, der uns an unsere Privilegien erinnert, aber noch sehr viel mehr. Die Musik erzeugt die ganze Zeit eine etwas merkwürdige Stimmung, die klarstellt, dass das hier kein fröhliches Quer-durch-die-Landschaft-Schlemmen wie in den ARD-Regionalprogrammen ist, aber „High on the Hog“ ist wahnsinnig interessant und lehrreich — und macht sehr, sehr dollen Hunger auf Spare Ribs, Mac & Cheese und viele andere tolle Sachen.
Auf CNN läuft aktuell „Searching for Italy“ (Öffnet in neuem Fenster), eine Reihe, in der der Schauspieler Stanley Tucci in die Heimat seiner Vorfahren reist und sich die traditionellen Gerichte der verschiedenen Regionen zeigen lässt, inkl. ihrer Entstehungsgeschichten, der gesellschaftspolitischen Hintergründe und der Zutaten. Ich verehre Stanley Tucci sowieso, ich traue mich angesichts der Allgemeinheit dieser Aussage kaum zu sagen, dass ich die italienische Küche liebe, aber beides kommt hier ganz bezaubernd zusammen. Und weil Tucci und seine Gesprächspartner*innen die meiste Zeit in Italiano parlieren, was die Produktionsfirma sympathischerweise untertitelt statt übertextet hat, kann man nebenbei auch noch seine Sprachkenntnisse aufpolieren für den Fall, dass innerhalb des nächsten Jahres eine Dienstreise nach Italien ansteht. (Apropos: Ich würde wirklich gerne eine untertitelte, italienischsprachige Serie auf Netflix, Amazon Prime Video, Magenta oder Disney+ gucken — hat da jemand Tipps? Vielleicht was Lustiges?) Etwas sperrig bzw. antiquiert ist, dass man „Searching for Italy“ nicht einfach so bei CNN auf der Website ansehen kann, sondern die lineare Ausstrahlung, z.B. sonntags und mittwochs um 20 Uhr, abpassen muss, aber jetzt weiß ich wenigstens wieder, warum ich einen Receiver mit Festplattenrecorder von der Deutschen Telekom gemietet habe. (Ansonsten habe ich gelesen, dass man es wohl bei Hulu, YouTube TV und dem amerikanischen Apple TV schauen kann, falls man da irgendwie Zugriff drauf hat.)
Übrigens ist die Doku „Schwarze Adler“ über People of Color im deutschen Fußball, die ich im letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) empfohlen hatte, jetzt auch in der ZDF-Mediathek (Öffnet in neuem Fenster) zu sehen, falls Euch eine fehlende Mitgliedschaft bei Amazon Prime Video bisher davon abgehalten hat, diesen wirklich beeindruckenden und bedrückenden Film anzuschauen.
Was hast Du gelesen? Vor rund zwei Wochen war ja G7-Gipfel in Cornwall und Hannah Jane Parkinson hat sich für den „Guardian“ (Öffnet in neuem Fenster) einige der schönsten Pressefotos dieser Veranstaltung vorgenommen und textlich … sagen wir mal: einfühlsam begleitet. Vor allem das Bild, das Ursula von der Leyen, Emmanuel Macron, Charles Michel, Angela Merkel und Mario Draghi an einem klapprigen Gartentisch zeigt, ist ein Meisterwerk, das hier direkt als „the most awkward photograph of all time“ geadelt wird.
Was hast Du gelernt? Mehr als 22 Jahre nach dem legendären Champions-League-Finale im Camp Nou, das Bayern München nach einem 1:0-Führungstreffer in der 6. Minute innerhalb von 102 Sekunden in der Nachspielzeit noch gegen Manchester United verloren hatte (und das wir damals sehr erheitert auf einer Klassenfahrt ins Sauerland geschaut hatten), habe ich jetzt, am Wochenende, erfahren, dass Franz Beckenbauer in den letzten Spielminuten beim Stand von 1:0 im Stadion gemeinsam mit UEFA-Chef Lennart Johansson und Boris Becker in einen Fahrstuhl stieg und bei einem 1:2 wieder herauskam (Öffnet in neuem Fenster). Warum kannte ich diese Geschichte noch nicht?!
https://www.youtube.com/watch?v=DAXGhYLVXXs (Öffnet in neuem Fenster)Habt eine schöne Woche!
Herzliche Grüße, Euer Lukas
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