Vom schwächsten Glied aus denken
Politische Vorstöße, die in der Bevölkerung große Zustimmung finden, weil sie vermeintliche “Sozialschmarotzer” disziplinieren können, treffen in der Regel die Schwächsten der Gesellschaft. Es ist unser verkehrtes Gerechtigkeitsempfinden, das derartige Ungerechtigkeiten zulässt.
Arbeitsminister Hubertus Heil hat angestoßen, Bürgergeldbeziehenden in Zukunft bis zu zwei Monate lang die Leistungen zu streichen, wenn sie nachhaltig die Arbeitsaufnahme verweigern. Allein dass dieser Vorstoß von einem SPD-Minister kommt, ist kurios. Denn es war die SPD, die sich die Abschaffung von Hartz IV groß auf die Fahne geschrieben hatte und mit dem Bürgergeld eine Sozialleistung schaffen wollte, die menschenwürdiger und konstruktiver ist als das restriktive System der Agenda 2010. Fachverbände und Wohlfahrtsgesellschaften haben von Beginn an festgehalten, dass das Bürgergeld nicht wesentlich besser funktioniert als Hartz IV. Aber die Sanktionen, die eigentlich mit dem Bürgergeld komplett abgeschafft werden sollten, nun wiederzubeleben, ist auf eine besondere Art und Weise zynisch.
Es steckt Strategie dahinter. Denn es ist der Versuch, sich an konservativere Wählerschaften anzubiedern. Während die AfD Aufwind hat, verliert die SPD in den Umfragewerten nämlich an Zustimmung. CDU und FDP dominierten in den vergangenen 12 Monaten mit allerlei menschenverachtenden, Arme hassenden Themen den medialen Diskurs. Hubertus Heil fischt konservativ bis rechts und präsentiert einen vermeintlich mehrheitsfähigen Ansatz, den Bundeshaushalt zu sanieren.
Der Aufschrei bleibt aus
Der große Aufschrei in der Bevölkerung bleibt aus. Während Rechte und rechtssympathisierende Menschen Autokorsos veranstalten, weil sie sich gegen Teuerungen wehren und die Regierung unter Druck setzen wollen, begehrt niemand gegen die Totalsanktionen auf. Dabei sollten gerade diejenigen, die wegen der anhaltenden Verteuerung des Lebens besorgt sind, besonders aufhorchen, wenn der Bundesarbeitsminister der Sozialdemokraten einfach mal eben vorschlägt, Menschen bis zu zwei Monate lang die Leistungen zu streichen. Einzig die Kosten für Heizen und Wohnen sollen weiter bezahlt werden. Wovon die Sanktionsbetroffenen einkaufen gehen sollen? Das beantwortet niemand. Aber der Aufschrei bleibt aus.
Das Problem ist, dass die meisten Menschen jede Menge Meinung zum Thema Bürgergeld und Arbeitslosigkeit haben, aber sehr, sehr wenig Ahnung. Unser Bild vom klassischen Bürgergeld-Empfänger ist geprägt vom Privatfernsehen - und anekdotischer Evidenz. Denn vermeintlich kennen wir alle diese “Hartz-IV-Familien”, in denen die Eltern den ganzen Tag rauchend und Bier trinkend vor dem Fernseher sitzen und gar nicht arbeiten gehen wollen.
So empfinden es viele als nahezu gerecht, dass diejenigen, die dem Staat “auf der Tasche liegen” und nichts daran ändern wollen, auch kein Geld mehr bekommen sollen. Der Vorschlag findet sogar Zustimmung, weil die meisten Menschen glauben, es wäre die Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger*innen, die einfach nur zu faul zum Arbeiten wären.
Verweigerungsquote: 1,3 Prozent
Doch Daten vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zufolge, die von Ippen Media (Öffnet in neuem Fenster) ausgewertet wurden, gab es 2021 nur rund 52.000 Fälle von Leistungskürzungen aufgrund von Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses. Bei 3,9 Mio. Bürgergeldempfänger*innen entspricht das einem Prozentsatz von 1,3 Prozent. Bereinigt man die Zahl derjenigen, die als berufsunfähig gelten, sind es 2,6 Prozent. Allerdings bedeuten 52.000 Fälle nicht einmal 52.000 Menschen - sondern es können auch mehrere Fälle auf eine Person kommen. Wir sprechen also von einem denkbar geringen Satz an Menschen, die dafür bestraft werden, von einem Grundrecht Gebrauch zu machen.
Denn auch das wird in der Debatte schnell vergessen: Die Berufsfreiheit ist ein Grundrecht. Wenn wir also sagen, jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich, dann dürfen wir Menschen gar nicht dazu zwingen, irgendeinen Job anzunehmen, nur, damit sie sich selbst finanzieren können. Und natürlich gibt es unter den prozentual sehr wenigen Fällen an Leistungskürzungen wegen Weigerung auch Menschen, die schlicht und ergreifend KEINEN Job ausüben wollen. Aber ist nicht auch die Entscheidung, nicht zu arbeiten, Teil der Berufsfreiheit? Und wollen wir Grundrechte wirklich zum Ausverkauf freigeben, indem wir entscheiden, dass nur Menschen nicht arbeiten wollen dürfen, wenn sie zufällig mehrere Millionen Euro geerbt haben? Von einer fortschrittlichen, demokratischen Gesellschaft erwarte ich mehr.
Wer hat die schwächste Position?
Der Clou ist: Wir müssen derartige Beschlüsse vom schwächsten Glied her denken. Das schwächste Glied in dieser Kette ist in der Regel nicht der Klischee-Bürgergeldempfänger, den ihr nach Jahrzehnten neoliberaler Vorurteile und Privatfernsehen vor Augen habt.
Das schwächste Glied ist die alleinerziehende, migrantische Mutter mit dem besonders sensiblen Kind, das 8 Stunden Betreuung einfach nicht packt - und deren Sachbearbeiter aber meint, ihr Kind solle sich doch einfach nicht so anstellen.
Das schwächste Glied ist eure an Depressionen erkrankte Freundin, die es einfach nicht schafft, die Briefe vom Jobcenter zu öffnen, geschweige denn jeden Morgen um 8 in einem Büro auf der Matte zu stehen.
Das schwächste Glied ist die junge Krebsüberlebende, die seit der Chemo an Fatigue leidet - der aber von Gesetzes wegen nach 2 Jahren der Schwerbehindertengrad aberkannt wird und der kein Mediziner glaubt, dass sie wirklich nicht mehr als drei Stunden pro Tag arbeiten kann. Immerhin ist sie doch noch so jung.
Das schwächste Glied ist euer Nachbar, der unerkannt neurodivergent ist und aufgrund dessen nie einen Berufsabschluss gemacht hat, in den ihm angebotenen Jobs allerdings direkt ein Bore-out erleidet.
Bürgergeld näher als dem Reichtum
Mit einem derartigen Beschluss hat Hubertus Heil (SPD) Politik vorangetrieben, die der CDU und FDP alle Ehre macht. Aus dem einfachen Grund, dass Positionen wie diese anschlussfähig sind in einer Gesellschaft, in der frei zugängliche Sozialleistungen mehr Unrechtsgefühl hervorrufen als Privatjets und rauschende Hochzeiten auf Sylt. Stimmung gegen Sozialleistungsempfänger*innen zu machen ist mehrheitsfähig, weil wir das Leistungsdogma unserer Gesellschaft derart verinnerlicht haben, dass wir eine Sache vergessen: Die meisten von uns sind dem Bürgergeldantrag näher als plötzlichem Reichtum, der uns davor schützen würde, aufs Bürgergeld angewiesen zu sein.
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Foto von Nicola Barts : https://www.pexels.com/de-de/foto/banknoten-pleite-armut-erklarung-7927011/ (Öffnet in neuem Fenster)