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Moin zusammen!

Nachdem ich euch vor zwei Wochen zu anderen Futterquellen geschickt habe, gibt es dieses Mal ein etwas längeres Essay von mir.

Da "Denken als Praxis" mit der Ausgabe 5 jetzt sein erstes kleines Jubiläum geschafft hat, würde ich mich über eine kurze Rückmeldung von euch freuen: Was findet bzw. fandet ihr bislang spannend und interessant, was weniger? Was würdet ihr euch wünschen oder gerne anders haben? Ihr erreicht mich auf Twitter (@Weltenkreuzer) oder per Mail (mail@nilsmueller.info (Öffnet in neuem Fenster)) .

Und natürlich freue ich mich besonders, wenn ihr andere auf diesen Newsletter hinweist (Öffnet in neuem Fenster). Ihr könnt dazu gerne einfach diese Mail weiterleiten.

Jetzt aber viel Spaß beim Nachdenken über das Wissen.
 Nils

Was wir über das Wissen wissen

Wenn ihr einen Newsletter zum Thema Wissensarbeit abonniert habt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr einen größeren Teil eurer Zeit damit verbringt, mit Wissen zu arbeiten. Aber was ist eigentlich dieses ominöse "Wissen"? Wer mit Holz arbeitet, sollte wissen, welche Arten von Holz es gibt, welche Eigenschaften es besitzt und wie man am besten mit ihm arbeitet. Wissen wir das über das Wissen als das Material, mit dem wir arbeiten?

Eine Annäherung an das Wissen stellt die Frage, ob es "objektiv" und "richtig" sein kann oder letztlich immer "subjektiv" bleibt. Aber was hilft uns diese theoretische Frage, wenn wir im Alltag mit Wissen arbeiten? Wenn wir Wissen nutzen wollen, um gute Entscheidungen zu treffen und kompetent zu handeln? Zumal dieses Wissen meist nicht in die Kategorie eindeutiger Antworten auf klare Fragen fällt, sondern komplexe Abwägungen mit unvollständigen Informationen verbindet?

Statt mich also in philosophische zu Tiefen begeben, wie das zum Beispiel Rodolfo Jardón tut (Öffnet in neuem Fenster), möchte ich in diesem Essay einen pragmatischeren Weg gehen. Ich will zeigen, was passiert, wenn wir Wissen als Grundlage des Handelns verstehen - denn darum geht es schließlich meist in der Wissensarbeit.

Wissen und Handeln

Starten möchte ich diese Überlegungen mit einem Ansatz, den William Perry schon 1970 vorgeschlagen hat: Er unterscheidet vier Stufen des "Wissens über das Wissen" (er nennt das persönliche Epistemologie). Lernende sollten jede dieser Stufen durchschreiten, um am Ende ein angemessenes Verständnis von Wissen zu haben:

Auf der ersten Stufe, der einfachen Dualität, wird "Wissen" als eine eindeutige Wahrheit verstanden. Als eine klare und objektive Antwort auf eine Frage. Diese Wahrheit muss lediglich gefunden und den Menschen vermittelt werden, die dieses Wissen brauchen. Es gibt derartiges einfaches Wissen: “Wie schnell beschleunigt der Ball, wenn ich ihn fallen lasse?”, “Welche Unterlagen brauche ich, um einen Reisepass zu beantragen?” Hier sind die Antworten einfach und im Grunde in einem Lehrbuch nachzulesen.

Sobald die Fragen aber komplexer werden, zeigt sich die zweite Stufe: die Idee des vielfältigen Wissens. Hier gibt es nicht mehr die eine richtige Antwort, sondern mehrere Ideen und Vorschläge, eine lebhafte wissenschaftliche Diskussion und unterschiedliche Ansätze, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und die sich durchaus auch widersprechen können. Diese Vielfalt ist jedoch ein temporärer Zustand, bevor sich gezeigt hat, welche dieser Ideen denn jetzt die einzig richtige Antwort liefert. In den Naturwissenschaften war fast alles Wissen, das wir heute als eindeutig gültig verstehen, zu irgendeinem Zeitpunkt mal nur eine Theorie unter vielen im Sinne des vielfältigen Wissens. Und auch heute gibt es noch viele ungeklärte Fragen, bei denen mehrere Theorien gleichermaßen nebeneinander stehen. Auch bei Alltagsfragen gibt es oft unterschiedliche Ideen und Überlegungen, sodass wir Entscheidungen auf einer unvollständigen Informationsgrundlage treffen müssen.

Die dritte Stufe, der Relativismus, geht dann noch einen Schritt weiter und stellt die Frage in den Raum, was passiert, wenn es unter der Vielzahl von Ideen eben nicht die eine richtige Antwort gibt, sondern sie gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben. Wenn die "Richtigkeit" der Antwort von der Perspektive der Person abhängt, die eine Frage beantwortet, oder von der Zeit und dem Raum, in dem sie gestellt wird? Solches Wissen produzieren wir in erster Linie in den Sozialwissenschaften, die in ihrer Arbeit immer zu einer konkreten Zeit an einem konkreten Beispiel arbeiten müssen und nur schwer darüber hinaus verallgemeinern können: Was vor zehn Jahren noch galt, kann heute veraltet sein. Was in Hamburg gilt, kann in München falsch sein.

Den Abschluss findet die intellektuelle und moralische Entwicklung der Menschen dann Perry zufolge in der vierten Stufe, dem verbindlichen Wissen. Hier geht es nicht mehr um die objektive Geltung von Wissen und dessen nachgewiesene Richtigkeit. Vielmehr rücken die Handlungen in den Mittelpunkt, die wir aus unserem Wissen ableiten. Ich als Person muss eine bewusste oder unbewusste Entscheidung treffen, welches Wissen ich meinem Handeln zugrunde lege. Dabei bin ich grundsätzlich frei, muss mich dann aber im Anschluss auch den Konsequenzen meines Handelns stellen. Ich muss die entsprechende Verantwortung übernehmen, mein Handeln reflektieren und eventuell auch anpassen. Das Wissen steht dann nicht mehr im luftleeren Raum, sondern ganz konkret in einer bestimmten Handlungssituation. Dabei entscheide ich als Handelnde:r, welches Wissen ich für gut und hilfreich erachte.

Wissen und Corona

Diese Idee des verbindlichen Wissens konnten wir während der Corona-Pandemie sehr schön beobachten: Während die einen zu Hause blieben, Masken trugen, sich sozial distanzierten und die Verbreitung abschwächten, lebten die anderen ihr normales Leben weiter und trieben damit die Pandemie. Offizielle Quellen waren dabei nicht immer hilfreich zu unterscheiden, was "richtiges" und was "falsches" Handeln ist, sodass viele anfingen, sich ihre eigenen Regeln zu machen. Dazu schreibt Sascha Lobo (Öffnet in neuem Fenster):

Stattdessen habe ich aus den medial vermittelten Erkenntnissen von Fachleuten, aus situativer Abwägung und auch nach Erträglichkeit eigene Coronaregeln entwickelt. Sie funktionieren für mich viel besser als die Regeln des Staates und des Landes Berlin, in dem ich lebe. [...] Denn obwohl ich meine Position vor mir und der Öffentlichkeit rechtfertigen kann, halte ich diese Entwicklung für nicht besonders gut.

Und genau diese Rechtfertigung, diese Verantwortung ist das, was einen angemessenen und gereiften Umgang mit Wissen ausmacht. Eben nach der klassischen Formel "nach bestem Wissen und Gewissen". Wobei die Anforderungen daran, wie gut das "beste" dabei sein muss, sich an der Ernsthaftigkeit der Konsequenzen messen lassen sollten: Bei der Entscheidung für oder gegen einen Computer kann das sicher lockerer gesehen werden als bei einer Millionen-Entscheidung im Unternehmen oder während einer globalen Pandemie. Aber auch hier kommt wieder die Frage ins Spiel: Wer trägt die Konsequenzen, wenn Wissen verwendet wird, das der Situation nicht angemessen ist? Und unterscheiden wir dabei danach, ob diese Fehlerhaftigkeit bereits im Vorhinein zu erkennen gewesen wäre?

Wissen, Vertrauen und Verantwortung

Dieser Blick auf das Wissen macht echte Wissensarbeit eigentlich erst möglich, weil er sich nicht an der tatsächlichen Objektivität orientiert, sondern an der praktischen Angemessenheit in einer konkreten Situation. Und er erlaubt uns, viele Fragen zu stellen, die ein abstrakter Begriff von Wissen uns nicht hätte stellen lassen - zum Beispiel nach der Rolle, die Vertrauen in dieser Situation spielt. Denn wir können nicht alles Wissen, das wir für unsere Entscheidungen brauchen, selbst überprüfen oder gar selbst entwickeln.

Vielmehr vertrauen wir in Menschen, die uns dieses Wissen vermitteln und wir vertrauen in eine Wissenschaft, die dieses Wissen generiert. Dabei richtet sich dieses Vertrauen in die Wissenschaft weniger auf einzelne Personen, sondern auf den abstrakten wissenschaftlichen Prozess, wie Gustav Seibt sehr schön beschreibt (Öffnet in neuem Fenster) (Leider hinter Paywall). Das Vertrauen in Personen oder Prozesse ist dabei nicht mehr von unserem Vertrauen in das Wissen zu trennen.

Damit wird die Frage nach dem Umgang mit wissenschaftlichem Wissen noch komplizierter, als sie es vorher schon war: Mit Wissen, das wir als "objektiv richtig" verstehen, können wir uns als Person aus der Verantwortung ziehen - der gute alte "Sachzwang" in seiner wissenschaftlich nachgewiesenen Form. Wir handeln in diesem Moment nicht als Individuum, das eine Entscheidung trifft, sondern als eine Art Medium, das die wissenschaftliche Wahrheit kanalisiert. Wir realisieren den Willen der Welt.

Wenn wir aber die Vielschichtigkeit des Wissens einbeziehen und unser Vertrauen hierein, verlieren wir diesen Schutzschild, müssen nun doch als Person handeln und selbst die Verantwortung für dieses Handeln tragen. Damit wird "die Wissenschaft" von der Instanz, die mein Wissen zertifiziert, zu einer weiteren Stimme, die um meine Wahrnehmung und mein Vertrauen wirbt. Und zu einer Kontrollinstanz, die anderen hilft, mein Handeln zu bewerten. In dem Sinne macht sie mir das Handeln nicht einfacher, sondern erschwert es: Nun stehen dem Interesse meiner Familie, meinen persönlichen Wünschen und den Erwartungen meiner Religion plötzlich wissenschaftliche Argumente entgegen. So vermischen sich Moral, Ethik, gesellschaftliche Erwartung, persönliche Wünsche und Wissenschaft zu einer untrennbaren Melange, aus der heraus wir unsere Entscheidungen treffen.

Selbstbewusstsein, Expertise und Verantwortung

Was heißt das nun aber für uns Wissensarbeiter:innen? Es gibt uns auf der einen Seite die Freiheit, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, auf der Grundlage des Wissens, das wir in der konkreten Situation für angemessen halten. Gleichzeitig erlegt es uns aber die Verantwortung auf, diese Entscheidungen rechtfertigen zu können und im Zweifel die Verantwortung dafür zu tragen. Auf diese Weise macht es uns zu Profis, die mit ihrer spezifischen Expertise und Erfahrung Probleme lösen, Entscheidungen treffen und damit in komplexen und unübersichtlichen Situationen kompetent handeln können.

Über mich

Mein Name ist Nils Müller. Ich bin promovierter Soziologe und Betriebswirt und beschäftige mich seit Jahren mit all den Dingen, die wir für “selbstverständlich” und “normal” halten; und mit Wissen. Ich habe zur alltäglichen europäischen Integration geforscht, wissenschaftliches Denken und Schreiben an Hochschulen unterrichtet und arbeite jetzt als Wissensmanager für eine Unternehmensberatung. Ich lese, schreibe, podcaste und denke. Wer mehr wissen will: nilsmueller.info (Öffnet in neuem Fenster) oder auf Twitter @Weltenkreuzer (Öffnet in neuem Fenster).