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Wenn das Kind anders ist als gedacht

Ein Buch über queere Kinder

Elternsein ist immer auch eine „Reise mit unbekannter Route“, wie Verena Carl und Christiane Kolb in ihrem Buch „Queere Kinder“ schreiben, das 2023 im Julius Beltz Verlag erschienen ist. Was, wenn die Tochter sich als Sohn definiert oder andersherum? Wie Eltern am besten damit umgehen und wo es Unterstützung gibt, erzählt Autorin Verena Carl im Interview.

Von Anne Klesse, Hamburg 

Wenn das eigene Kind – in der Geburtsurkunde beispielsweise als Junge ausgewiesen – eines Tages sagt, es definiere sich mit weiblichen Pronomen oder als genderfluid, ist das vermutlich für die meisten Eltern erst einmal irritierend. Ganz gleich, wie tolerant und aufgeschlossen sie sind – da spielen viele Sorgen eine Rolle, etwa, weil sie ahnen, mit welchen Vorurteilen und Reaktionen das Kind auf seiner Reise zu sich selbst zu tun haben wird. Wie haben Sie betroffene Eltern bei Ihrer Recherche zum Buch „Queere Kinder (Öffnet in neuem Fenster)“ erlebt?

Aufgrund der vielen Gespräche, die meine Mitautorin und ich geführt haben – aber auch weil ich selbst Mutter einer queeren Jugendlichen bin – habe ich den Eindruck: Auf der einen Seite ist die Gesellschaft heute weiter als vor 20 Jahren, auf der anderen Seite gibt es aber auch wachsenden Gegendruck. Sehr viele Eltern halten sich für tolerant, sie haben kein Problem mit einer lesbischen Kollegin oder einem schwulen Bundesminister. Doch wenn es das eigene Kind betrifft, vor allem dann, wenn es nicht „nur“ um die sexuelle Orientierung geht, sondern um das Geschlecht, ist da im ersten Moment oft ein Gefühl großer Fremdheit. Da geht es um den Kern der Persönlichkeit. Das Kind fühlt ganz anders als die Eltern. Außerdem signalisiert es: Ich gehe jetzt einen Weg, der anders ist als deiner. Das betrifft auch meine eigenen Vorstellungen von der Welt, der Zukunft, bis hin zu: Werde ich jemals Großmutter? 

Wie haben es diese Eltern geschafft, mit dem ersten Moment der Irritation und dem, was Sie beschreiben, umzugehen? 

Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal belächeln Eltern so eine Aussage erst einmal, weil sie denken oder vielleicht hoffen, dass das nur eine Phase ist, die vorbeigeht. Ich denke, so eine Reaktion ist oft einfach Selbstschutz, weil sie nicht wissen, wie sie richtig reagieren sollen. Irgendwann merken sie meistens, dass das ein ernsthaftes und wichtiges Thema für das Kind ist. Ich habe mit Eltern gesprochen, bei denen ich erstaunt war, wie schnell und klar sie das für sich verarbeitet haben. Die Mutter eines trans Kindes erzählte von dem Moment, als ihr nach vielen Gesprächen klar wurde: Das Kind ist kein Mädchen, sondern ein Junge. Sie erzählte, wie sie zwei Stunden lang durch den Stadtpark gelaufen ist und um ihre verlorene Tochter getrauert habe. Danach sei es für sie gut gewesen, sie habe ihren Sohn annehmen können.

 

Allerdings gibt es vermutlich auch andere Reaktionen?

Ja, es gibt Eltern, die die Selbstaussagen ihrer Kinder nicht ernst nehmen oder sogar vehement ablehnen. Auf der anderen Seite erzählte uns ein Endokrinologe von Eltern, die ihr Kind fast blindlings in ihrem Wunsch nach einer Transition unterstützen, weil sie hoffen: Wenn nur erst offiziell eine Transgeschlechtlichkeit festgestellt wird, wird es meinem Kind psychisch wieder gut gehen! Das ist die Lösung aller Probleme! Es ist immer wichtig, sorgfältig zu diagnostizieren, was hinter einer psychischen Belastung steckt. Tatsächlich leiden die allermeisten trans Jugendlichen sehr unter der Diskrepanz zwischen der eigenen Geschlechtsidentität und der äußeren Einordnung – aber es ist auch wichtig, sorgfältig zu diagnostizieren, ob das ursächlich für eine Depression ist.

  

Können Sie einen Rat geben, wie eine gute Reaktion aussehen könnte?

Nachfragen: Was fühlst du? Wie kann ich dich unterstützen? Begleiten, nicht werten, ergebnisoffen sein. Vor allem in der Phase, in der es erst einmal um eine soziale Transition geht, also das Ausprobieren anderer Pronomen, eines gewünschten Namens, ist es sehr hilfreich, wenn Eltern sich darauf einlassen, auch wenn es schwerfällt. Selbst wenn sich das später wieder ändern sollte, spürt das Kind in diesem Moment: Meine Eltern lieben mich bedingungslos und machen sich für mich stark. Und: Beratung suchen, etwa bei Fachstellen an großen Kliniken.

  

Zwölf Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland zwischen 14 und 29 Jahren empfinden sich als nicht rein heterosexuell – in anderen europäischen Ländern ist die Zahl zum Teil höher. Beratungsstellen haben es mit immer mehr Menschen zu tun, die sich als trans* definieren. Sie wollen mit Ihrem Buch eine Orientierungshilfe für Eltern geben. Gibt es genug Unterstützung für Betroffene?

Zumindest in Großstädten gibt es Beratungsstellen für Familien. Kinder und Eltern können sich psychotherapeutische Unterstützung holen – wobei es zum Teil lange Wartezeiten gibt. Ich glaube, insgesamt werden die Eltern schon mitgedacht. Allerdings ist auf einer gesellschaftlichen Ebene zu wenig Unterstützung da. In den letzten Jahren tobt ein massiver Kulturkampf rund um das Thema Transgeschlechtlichkeit, in dem viele Unwahrheiten, Halbwahrheiten und steile Thesen unterwegs sind. Das hat manchmal zur Folge, dass Eltern sich nicht trauen, Verwandten oder Freund*innen davon zu erzählen. Sie können sich einfach nicht sicher sein, unterstützend aufgefangen zu werden, sondern befürchten Pseudo-Ferndiagnosen wie die, dass das Kind sich nur wichtig mache und sich schon wieder einkriege.  

 

Sie haben viele Zahlen recherchiert und Umfragen im Buch zitiert, die zeigen, dass sexuelle und geschlechtliche Vielfalt kein kurzlebiger Trend ist. Trotzdem wird diese These immer wieder kolportiert. Was entgegnen Sie? 

Durch die Infragestellung klassischer Geschlechterrollen ist vieles durchlässiger geworden. Jungs lackieren sich ihre Nägel, Männer tragen Röcke. In der Werbung wird mit Androgynität gespielt. Wir gehen heute spielerischer mit Geschlechtergrenzen um, das zeigt sich eben zum Beispiel in modischen Trends. Doch die haben natürlich eine tiefere psychische Ursache, weil ein gesellschaftliches Bedürfnis da ist, nicht mehr alles in Schubladen zu verpacken und sich mehr Menschen trauen, zu sagen: Ich passe da nicht rein. Sicherlich kann es eine Dynamik geben in einer Schulklasse, in der mehrere Kinder sagen: Ich bin non-binär oder genderfluid. Oder: Ich kann mich in Menschen aller Geschlechter verlieben. Plötzlich ist das ein Thema. Das heißt aber erst mal nur, dass es eine innere Offenheit dafür gibt, überhaupt in Frage zu stellen, wer man ist und wen man liebt. Ich glaube, früher haben sich viele mit einem heteronormativen Leben arrangiert, weil alles andere ein noch größerer Leidensweg gewesen wäre. Das kann nicht unser Bestreben sein.

 

Zum Glück hat sich in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz und auch bei der Unterstützung vielfältiger Lebensmodelle einiges getan…

Heute ist Stand der Wissenschaft, dass sowohl Sexualität als auch Geschlecht fluide sein können, wechselhaft, nicht für alle Zeit festgelegt. Und dass das genau so normal und natürlich ist wie die dauerhafte Identifikation mit dem eigenen Geburtsgeschlecht und dem heterosexuellen Begehren. Meine Co-Autorin Christiane Kolb erzählt, dass es sowohl in der Geschichte als auch weltweit in vielen Kulturen sehr unterschiedliche Interpretationen der Geschlechterrollen gab und gibt, in vielen Kulturen sogar Nischen und sichtbare Identitäten über die Schubladen von männlich und weiblich hinaus. Leider ist diese Erkenntnis noch nicht bei allen angekommen. 

 

Warum sind wir überhaupt so besessen vom Geschlecht? Bei jeder Onlinebestellung muss ich es angeben – wozu? Ist es nicht grundsätzlich total vermessen und auch unzureichend, die geschlechtliche Identität an Organen festzumachen?

Ich glaube, vielen vermittelt es eine gewisse Sicherheit zu wissen, in welche Schublade sie ihr Gegenüber stecken sollen. Da sind wir als Menschen einfach gestrickt und haben uns in dieser Frage mal auf Mann und Frau – inzwischen noch auf Divers – geeinigt. Klar, in manchen Bereichen – in der Medizin oder im Profisport – spielen Geschlecht, Hormonstatus und so weiter eine Rolle, da muss es Regeln geben. Aber in den meisten anderen Lebensbereichen wäre es schön, wenn wir weniger geschlechtsfixiert denken würden. Wobei es auch mir nicht leichtfällt, mein eigenes binäres Denken in Frage zu stellen.

 

Was meinen Sie damit?

Zum Beispiel, wenn ich Menschen treffe, bei denen ich merke: Mein Hirn sendet mir eindeutige Signale, in welche Schublade sie gehören, weil zum Beispiel Körper, Frisur, Makeup „weiblich“ sind. Trotzdem sagt die Person: Ich nutze einen männlichen Namen oder neutrale Pronomen. Diesen Schritt intellektuell mitzugehen, einfach der Selbstaussage eines Menschen zu folgen und nicht meinen eigenen Mustern, ist für mich eine Herausforderung.

Wie lassen sich gesellschaftliche Gräben in Bezug auf das Thema überwinden? 

Es ist immer eine gute Idee, miteinander statt nur übereinander zu reden. Zuzuhören, wie mein Gegenüber sich fühlt. Wenn das Thema in der Familie aufkommt, kann man sich zum Beispiel in Selbsthilfegruppen oder bei Beratungsstellen Rat holen, gemeinsam oder für Eltern und Kinder getrennt. Und es hilft, die Perspektive von anderen Betroffenen zu hören. Diese wiederum würde ich manchmal gern um Verständnis bitten, wenn Menschen mit den LGBTQAI+-Begrifflichkeiten nicht richtig hinterherkommen oder etwas sagen, was als verletzend empfunden werden kann. Es braucht Bereitschaft und Nachsicht auf allen Seiten. 

 Weitere Informationen:

Wo genau Eltern und Kinder Beratung und Information finden, listen die Autorinnen im Buch auf. Bundesweit gibt es beispielsweise gesetzlich geförderte, rechtebasierte Beratung bei Pro Familia (Öffnet in neuem Fenster). Das Trans-Kinder-Netz (Öffnet in neuem Fenster) wiederum ist ein Verein von und für Eltern. Im akuten Notfall gibt es sowohl für Eltern als auch für Kinder und Jugendliche bei der Nummer gegen Kummer (Öffnet in neuem Fenster) anonym und kostenlos Hilfe.

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