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Die One-Woman-Show

Über ein neues Medium für Deutsch-Türk*innen

Nalan Sipar ist nicht irgendeine Journalistin, sie ist so etwas wie die Stimme der Deutsch-Türk*innen in Berlin, vielleicht sogar deutschlandweit. Sie hat vor drei Jahren einen eigenen YouTube-Kanal gestartet und träumt von einem deutsch-türkischen TV-Kanal nach dem Vorbild von ARTE. Ein Porträt.

Von Pauline Tillmann, Berlin

Nalan Sipar sitzt am Spreeufer mit Blick auf das Bundeskanzleramt und spricht von Visionen, Träumen, aber auch von Rückschlägen. Die 39-Jährige hat eine rosa umrandete Sonnenbrille lässig in ihre langen, braunen Haare gesteckt. Es ist dieselbe Brille, die auch in einem ZDF-Beitrag (Öffnet in neuem Fenster) zu sehen ist. Er erschien unter dem Titel „YouTube-Videos für Deutsch-Türken“. Das Kamerateam hat sie im Mai 2023 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg begleitet und Stimmen von Menschen eingefangen, die sie für ihren YouTube-Kanal interviewt hat.

„Das sind meine Leute“, sagt sie – und meint damit Menschen mit türkischen Wurzeln. Diese befragt sie regelmäßig für ihren türkischsprachigen Kanal (Öffnet in neuem Fenster). Dessen Zielgruppe sind Menschen, die die deutsche Sprache wenig oder gar nicht verstehen. Sie verleiht ihnen damit eine Stimme. Eine Stimme, die in der gewöhnlichen Berichterstattung bei traditionellen deutschen Medien eher selten zu hören ist. Untersuchungen (Öffnet in neuem Fenster) belegen, dass 26 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen sogenannten Migrationshintergrund haben. In deutschen Redaktionen bringen hingegen nur magere fünf Prozent einen solchen mit. Die Gründe hierfür sind vielfältig.

Nalan Sipar sagt: „Es gibt sehr viele strukturelle Barrieren, die eine Rolle spielen – von unbezahlten Praktika über mangelnde Kontakte bis hin zu Redakteur*innen, die Menschen einstellen, die so sind wie sie selbst.“ Außerdem glaubten ihrer Meinung nach viele Menschen mit Migrationshintergrund, dass Journalismus nichts für sie sei, wenn sie nicht perfekt Deutsch sprechen könnten. „Ist vielleicht auch ein bisschen Bullshit“, so Sipar. Doch wenn man in Newsrooms nur von Bio-Deutschen umgeben sei und Ideen immer wieder abgeschmettert würden, verliere man laut Sipar irgendwann den Mut.

Als Journalistin mit Migrationshintergrund würde man oft allein gelassen und es werde selten Unterstützung angeboten, weil das bedeuten würde, dass gestandene Redakteur*innen Zugänge und Kontakte verschaffe, die das patriarchale System früher oder später zum Wanken bringen würden. Immer wieder wird Nalan Sipar von jungen Journalist*innen auf Konferenzen und Social Media angesprochen, denen Themen wie Diversität oder Rassismus am Herzen liegen. „Das ist der Journalismus, den ich mir wünsche – und der fehlt mir total.“

Gen Z setzt auf Diversität und Antirassismus

Gleichzeitig schöpfe sie Hoffnung, weil genau diese sogenannte Gen Z nicht bereit sei, bei Medienunternehmen zu arbeiten, die keine Frauen in Führungspositionen oder People of Color (PoC) vorzuweisen hätten. In Deutschland spricht man von drei bis vier Millionen Deutsch-Türk*innen, also Menschen mit türkischen Wurzeln. In Berlin leben europaweit die meisten Türk*innen außerhalb der Türkei. Sipars YouTube-Kanal ging vor drei Jahren an den Start und hat jetzt knapp 30.000 Abonnent*innen. Bemerkenswert ist, dass inzwischen 40 Prozent der Zuschauer*innen in der Türkei beheimatet sind. Da kommt also ein potenzielles weiteres Publikum von 80 Millionen Menschen hinzu.

Angefangen hat die Achterbahnfahrt als Unternehmerin übrigens mit einem Tweet im März 2020, bei dem die Journalistin kritisiert hat, dass die Bundesregierung zu wenig Informationen über die Corona-Pandemie auf Türkisch zur Verfügung gestellt habe. Mit dem Bundesministerium für Gesundheit im Rücken hat sie dann erste Aufklärungsvideos produziert, die besonders stark in Sozialen Netzwerken geteilt wurden. Das Feedback von Deutsch-Türk*innen war gigantisch. Also fing sie in Eigenregie an, Videos für YouTube zu produzieren. 

„Ich habe gemerkt, es gibt diese Menschen, die Informationen brauchen, die sie verstehen können. Und das biete ich ihnen jetzt an.“ In den ersten Jahren der Pandemie hat sie also vor allem erklärt, was Stand der Dinge war. Warum werden Schulen geschlossen? Wie verbreitet sich das Corona-Virus? Nach und nach hat sie angefangen, Regierungsvertreter*innen wie den damaligen Pressesprecher von Angela Merkel, Steffen Seibert, zu interviewen.  

Nalan Sipar beschreibt sich selber als kreativ, ehrgeizig und offen gegenüber anderen Meinungen. Ihre jüngere Schwester Dilan wohnt auch in Berlin, hat ein enges Verhältnis und sagt, Nalan sei eine Vorreiterin und vor allem sehr hartnäckig. Am glücklichsten sei sie gewesen, wenn sie eigene Formate entwickelt habe und diese umsetzen durfte, wie zum Beispiel das Kommentarformat „ECHT?!“ oder ihre eigene Late-Night-Show. Die 28-jährige Dilan Sipar arbeitet als Psychologin und bezeichnet sich nicht als Deutsch-Türkin oder Frau mit türkischen Wurzeln, sondern als Kurdin. Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland etwa 1,5 Millionen Menschen kurdischer Abstammung. Die Kurd*innen sind eine ethnische Volksgruppe, die 35 Millionen Menschen umfasst, die vor allem in der Türkei, Iran, Irak und Syrien leben.

Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz

Das Video, auf das Nalan Sipar am meisten mit Stolz blickt, ist das Interview mit Olaf Scholz (Öffnet in neuem Fenster) vor der vergangenen Bundestagswahl. Mehr als 23.000 Menschen haben es sich angeschaut. Sie hat es in ihrem Wohnzimmer aufgezeichnet und damit für viel Aufsehen gesorgt, weil es auf YouTube und nicht beispielsweise im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt wurde. In diesem Fall hat sie sich sogar einen eigenen Kameramann geleistet – normalerweise dreht und schneidet sie alles selbst.

Das Interessante ist, dass nicht nur die deutschen Politiker*innen genau mitbekommen, was Sipar auf ihrem YouTube-Kanal veranstaltet, sondern auch die türkischen. So hatte sie im Mai 2023 – vor der Wahl in der Türkei – die Möglichkeit, den Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu zu interviewen. Dieses Video (Öffnet in neuem Fenster) haben sogar mehr als 45.000 Menschen gesehen. Auf Deutsch publiziert sie auch immer wieder Beiträge, bislang meist im Auftrag eines öffentlich-rechtlichen Senders wie der Deutschen Welle (Öffnet in neuem Fenster).

Eigentlich träumt Nalan Sipar von einer deutsch-türkischen Tagesschau, weil sie glaubt, dass die bekannte Sendung um 20 Uhr eigentlich zu kompliziert ist für Deutsche mit Migrationshintergrund. Es würde nicht ausreichen, einfach Untertitel einzublenden, wie das bereits mit Ukrainisch ausprobiert worden ist. Stattdessen müsse man viel weniger Vorwissen voraussetzen und mehr Zusammenhänge, zum Beispiel in der Politik und der Wirtschaft, erklären. Die langfristige Vision, die Sipar verfolgt, ist ein deutsch-türkischer Kanal nach dem Vorbild von ARTE.

Dabei soll es nicht so sehr um kulturelle Inhalte gehen, sondern vielmehr den Qualitätsanspruch unterstreichen. Es soll also kein zwischenstaatliches Projekt sein und sie will auch keinen bestehenden Fernsehsender davon überzeugen. Stattdessen wirbt sie zum Beispiel bei privaten Investor*innen darum, Themen rund um die türkische Community über Social Media wie YouTube und Instagram zu verbreiten. Der Grund: Sie glaubt fest daran, dass es eine Lücke in der deutschen Medienlandschaft gibt für „diverseren Content“ – wie sie es nennt – die man damit schließen könnte. Die anvisierte Zielgruppe sitzt dabei nicht nur in Berlin oder Deutschland, sondern explizit auch in der Türkei.

„Längst überfällig“

Finanziert werden soll dieses neue Content-Netzwerk über gekennzeichnete Werbespots, so wie es auch private Sender wie ProSieben oder RTL machen. Darüber hinaus glaubt die 39-Jährige daran, dass Förderprogramme ein weiteres Standbein darstellen könnten, wenn man zum Beispiel an Bildungsangebote denkt. Am Ende würden wohl alle Bemühungen in eine private Produktionsfirma münden.

Ihre Schwester Dilan findet, dass so etwas wie eine deutsch-türkische Tagesschau längst überfällig sei. Sie erklärt: „Ich finde es total ungerecht und diskriminierend, dass ein so großer Teil der Bevölkerung nicht den Content bekommt, für den er mit der monatlichen Rundfunkgebühr bezahlt.“ Sie fühle sich von den Inhalten der öffentlich-rechtlichen Sender „nicht abgeholt“, mehr noch, sie habe das Gefühl, dass sie explizit ausgeschlossen werde. Sie erkenne immer wieder, dass es tiefgreifende diskriminierende Strukturen gebe, die in dieses Programm mündeten – und Nichtstun sorge dafür, dass sich das nicht ändere.

„Ich würde mich freuen, wenn ich Zugang zu diesen Informationen bekäme oder meine Eltern Zugang zu mehr Wissen erhielten.“ Stattdessen informierten sich, so Dilan Sipar, viele Deutsch-Türk*innen über Social Media und bekämen dadurch nur die halbe Wahrheit – oder würden im schlimmsten Fall über Falschinformationen in die Irre geführt. Neben dem ARTE Journal hört die 28-Jährige vor allem WDR Cosmo, einen Radiosender, der vielfältige Musik spielt und explizit Themen aufgreift, die sich nicht nur um die Mehrheitsgesellschaft drehen.

Dilan Sipar glaubt, dass das in vielen traditionellen Medienhäusern nur unzureichend passiere, hänge auch damit zusammen, dass man in Deutschland sehr lange davon ausgegangen sei, dass die Gastarbeiter*innen irgendwann wieder in ihre Länder zurückkehrten. Man habe sie lange Zeit nicht als Mitbürger*innen gesehen, sondern eben als Gäste. Genau deshalb habe es auch so große Wellen geschlagen, als der damalige Bundespräsident Christian Wulff bei einer Festrede öffentlich erklärte: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“

Influencerin – ja oder nein?

Ob sich Nalan Sipar selber als Influencerin sieht? „Ich werde in der Tat als solche beschrieben, aber ich sage selber, ich bin YouTube-Journalistin“, erklärt sie. Wichtig ist ihr, dass sie keine Produktwerbung auf ihrem Kanal macht „und die Leute anlügt.“ Sie wolle die Menschen empowern, bestimmte Sorgen und Gefühle teilen und sie an ihrem Alltag teilhaben lassen. Das mache sie neben YouTube auch über ihre Stories auf Instagram (Öffnet in neuem Fenster). Außerdem können ihr Deutsch-Türk*innen über eine WhatsApp-Nummer direkt Nachrichten zukommen lassen. „Sie erzählen mir von sehr privaten Sorgen, wofür ich auch sehr dankbar bin.“ Denn Vertrauen sei schließlich das Wichtigste für Journalist*innen. Etwas, das sie nichtzuletzt in ihrem Volontariat bei der Deutschen Welle gelernt hat. 

Und weil Deutsche mit türkischen Wurzeln in dritter oder vierter Generation immer besser Deutsch sprechen, will sie in Zukunft auch mehr Content in dieser Sprache publizieren. Sie habe sich eine gewissen Glaubwürdigkeit und Reichweite erarbeitet in den vergangenen Jahren – und wolle das dazu nutzen, um zum Beispiel Nachrichten auf Deutsch zu veröffentlichen, die die türkische Community versteht. Auf Instagram kann sie dank Künstlicher Intelligenz ihre Videos inzwischen sogar in zwei Sprachen gleichzeitig untertiteln. Wenn es um längere Videos gehe, komme sie allerdings an ihre Grenzen.

Querfinanzierung über Redaktionseinsatz 

Schließlich ist sie am Ende so etwas wie eine One-Woman-Show. Immer wieder finanziert sie ihr Engagement über redaktionellen Einsatz bei Nachrichten oder als Reporterin beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk quer. Neuerdings ist sie für den Deutschlandfunk tätig, um Schulden bei einem Freund abzubezahlen. Gleichzeitig hat sie von unterschiedlichen Förderprogrammen wie dem des European Journalism Center und des Medialab Bayern profitiert. Denn was ihr am Anfang eindeutig gefehlt hat, waren die Business-Skills. „Die meisten Begriffe waren neu für mich, ich wusste gar nicht, was eine GmbH oder eine UG ist“, erzählt sie.

So hat sie sich etwa eineinhalb Jahre an zahlreichen Abendveranstaltungen, Seminaren und Workshops teilgenommen, um zu verstehen, was es mit einem Businessplan, Lead-Generierung, Pitch-Training, Skalierung und Co. auf sich hat. In der Rückschau habe es sich angefühlt, als ob sie – nach ihrem Politikwissenschaftsstudium – ein zweites Studium abgeschlossen habe, erzählt sie. Begleitet wurde sie die ganze Zeit von der Sorge, ob ihre Idee überhaupt funktioniert. „Das Schlimmste ist, mit dieser Unsicherheit und dem Risiko umzugehen“, so die 39-Jährige. Journalismus sei ein Handwerk – und das beherrsche sie. Ein Medienprojekt von Null alleine aufzubauen sei schon „eine harte Nummer.“ 

Überrascht sei sie gewesen, als es darum gegangen sei, Geld von potenziellen Investor*innen einzutreiben, dass man stets überperformen und geschönte Zahlen präsentieren müsse. Man habe ihr gesagt, sie solle die Zahlen „ein bisschen pushen“, weil das alle so machen würden. Eine Herangehensweise, die ihr eindeutig gegen den Strich ging: „Das war ein innerer Konflikt, den ich mit mir hatte, weil es ja nicht die Wahrheit war – deshalb wollte ich das nie machen.“ Gleichzeitig wurde ihr klar, dass viele andere bereit seien zu lügen, um an Fördertöpfe heranzukommen, Verantwortung hin oder her.

Strategische Entwicklung dringend notwendig

Inzwischen könne sie das Unternehmerinnentum sogar genießen, weil sie es spannend fände, diese neue Social-Media-Welt kennenzulernen und risikofreudiger geworden sei. „Die Vision gibt mir sehr viel Kraft, genauso wie das Feedback, das ich aus meiner Community bekomme.“ Sie träumt von einem neuen Medium, das auch ein Sprungbrett werden kann für angehende Journalist*innen mit Migrationshintergrund, die es einfacher haben sollen als sie.

Wenn eine gute Fee ihr 100.000 Euro schenken würde, würde sie sofort eine zweite Kollegin an Bord holen. Eine Person, die ihr redaktionelle Arbeit abnimmt und die etwas von strategischer Business-Entwicklung versteht. Dadurch könnte sie sich ausschließlich auf den Content konzentrieren – und genau damit könne sie neue Geschäftspartner*innen gewinnen.

Mentale Entspannung als Schlüssel zum Glück

Zuletzt hat sie ein YouTube-Shorts-Format (Öffnet in neuem Fenster) entwickelt, bei dem sie die wichtigsten Nachrichten des Tages in 60 Sekunden zusammenfasst. So ist sie nach wie vor regelmäßig in Berlin-Kreuzberg – wo die meisten Deutsch-Türken leben – unterwegs und macht Straßeninterviews. Am Wochenende versucht Sipar weniger am Schreitisch zu sitzen, weil sie gemerkt hat, wie wichtig Entspannung ist. „Ich habe in den letzten Jahren so viel gearbeitet, dass meine Kreativität darunter gelitten hat – und auch meine Laune, weil ich mich so oft erschöpft gefühlt habe.“ Deshalb geht sie viel an die frische Luft, meditiert regelmäßig und nimmt etwas Druck raus. 

Mit 15 Jahren ist sie mit ihrer Familie von Istanbul nach Bielefeld gekommen und hatte lange das Gefühl, sie müsste sich beeilen mit der Schule, später mit der Universität. Das hat zu extremen Stress geführt. Erst seit Kurzem schafft sie es, das Geleistete zu genießen. Der Wunsch, eine deutsch-türkische Tagesschau bis zu ihrem 40. Geburtstag in die Realität umzusetzen – also bis zum Sommer 2024 – begleitet sie zwar nach wie vor. Aber inzwischen lautet ihr Mantra: „Go with the flow“. Ihre Schwester Dilan wünscht ihr „mehr Wertschätzung von den richtigen Stellen – und dass die Leute wirklich verstehen, was für eine wichtige Arbeit sie macht.“

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