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„Wenn ich male, bin ich frei“

Über Außenseiterinnen in der Kunst

Fernab von Konkurrenzdenken und ästhetischen Normen kreieren sogenannte „Outsider Artists“ ihre Werke meist im Verborgenen. Insbesondere Künstlerinnen bleiben dabei aufgrund gesellschaftlicher Stigmatisierungen oftmals unentdeckt. Eine Spurensuche nach den Außenseiterinnen.

Von Helen Hecker, Palermo

Bereits als kleines Mädchen liebte Germana Dragna es zu malen. Gewiss nichts Ungewöhnliches für ein Kind, doch für Dragna bedeutete es damals wie heute mehr: „Wenn ich male, bin ich frei.“ Genau das kommt auch in ihren Bildern zum Ausdruck. Angetrieben durch ihre Fantasie erschafft die Malerin farbenprächtige Landschaften, die selbst die Surrealist*innen begeistert hätten. Mittlerweile wurden die Bilder der Sizilianerin auch außerhalb Italiens ausgestellt und fanden ihren Platz in der prestigeträchtigen Art-Brut-Sammlung des Engländers James Pratt.

Dass ihre Werke irgendwen interessieren könnten, hätte die pensionierte Hausmeisterin jedoch lange Zeit nicht für möglich gehalten. Aufgewachsen in einer einkommensschwachen Familie während der Nachkriegszeit in Palermo wird Dragna als jüngstes von acht Geschwistern mit nur zwei Jahren in die Obhut ihrer Tante nach Rom gegeben. Obwohl ihr Onkel und ihre Tante gut situiert waren und ihr vieles boten, sei die Trennung von ihrer Mutter ein Trauma gewesen, das sie nur schwer verdaute. „Ich habe die Vögel meiner Cousins aus dem Käfig befreit, um wenigstens sie zu erlösen.“

Mit neun Jahren kehrte Dragna schließlich nach Sizilien zurück – in eine Familie, die ihr längst fremd war und deren strengen Regeln sie nun folgen musste. Statt wie erhofft Kunst zu studieren, heiratete sie bereits mit 18. Von da übernahmen die Schwiegereltern die Kontrolle über ihr Leben, bis sie sich Jahrzehnte später von ihrem Mann trennte. In Folge ihrer Scheidung emanzipierte sich die zweifache Mutter nicht nur als Frau, sondern auch als Künstlerin.

Erlösung aus dem Leben im Korsett

Sie entwickelte ihre ganz eigene intuitive Maltechnik, indem sie völlig wahllos Tintenkleckse mit einer Taubenfeder auf Papier platzierte, um diese anschließend in menschliche und tierische Formen zu verwandeln oder sie zu bizarren Felsformationen und Unterwasserwelten werden zu lassen. „Gemalt hatte ich schon immer. Vor allem nachts, wenn ich allein war. Doch das war nichts weiter als imitieren. So wie sie es dir in der Schule zeigen“, erzählt die heute 63-Jährige.

Eine ihrer größten Inspirationsquellen seien dabei die Astralreisen, welche Dragna seit rund 30 Jahren macht. Ihr Geist verlasse dabei ohne, dass sie es kontrollieren könne, ihren Körper und wandle zwischen Raum und Zeit. Sie erzählt, dass sie anfangs niemanden davon erzählt habe, weil sie Angst hatte, dass man sie für verrückt erkläre. Doch irgendwann vertraute sich die heimlich Künstlerin einer Lehrerin an, die an der Schule tätig war, in der Dragna als Hausmeisterin arbeitete. Diese wiederum erzählte der Kunsthistorikerin Eva di Stefano vom außergewöhnlichen Talent der Autodidaktin.

Der Expertin war sofort klar, dass es sich um eine Künstlerin der sogenannten „Art Brut“ oder auch „Outsider Art“ handelte, als sie die sich stapelnden Gemälde in Germana Dragnas Wohnung sah. „Typisch für diese Künstler*innen ist ein nahezu obsessiv-kompulsiver Schöpferdrang“, erklärt die Professorin für Moderne Kunst. „Also jemand der die Zimmer voll mit Werken hat.“ Ursache für das nahezu zwanghafte Kreieren, so Di Stefano, sei vor allem die Tatsache, dass Kunst für diese Menschen nicht nur ein Hobby sei, sondern vielmehr eine Lebensnotwendigkeit.

Kunst als Überlebenselixier

Bereits 1945 machte der französische Bildhauer und Maler Jean Dubuffet mit seiner Definition der „Art Brut“ erstmals auf jene Autodidakt*innen aufmerksam, die weder eine künstlerische Ausbildung besitzen noch in Kontakt mit der traditionellen Kunstwelt stehen, sondern ihre Werke fernab ästhetischer Normen aus der Tiefe ihres Selbst schaffen. Das französische Wort „brut“, zu Deutsch „roh“, steht dabei für das Ursprüngliche und Unverfälschte, das ihren Arbeiten innewohnt.

Erst in den 70er Jahren prägte der englische Kunstkritiker Roger Cardinal dann den Begriff der „Outsider Art“ – „Außenseiter*innenkunst“ – um auf den marginalisierten Status dieser Künstler*innen sowohl in der Gesellschaft als auch der Kunstszene hinzuweisen. „Charakteristisch ist, dass das Leben dieser Kunstschaffenden von Einsamkeit und sozialer Ausgrenzung geprägt ist“, erklärt Di Stefano. Viele der frühen Art-Brut-Sammlungen würden beispielsweise vor allem Werke von Patient*innen psychiatrischer Kliniken, Gefängnisinsass*innen oder Menschen mit geistiger Behinderung beinhalten.

Aber auch die freiwillige Abkapselung von der Gesellschaft oder widrige Lebensumstände könnten zum kreativen Schaffensdrang beitragen, so die 71-Jährige. „Wenn der Alltag, so wie wir ihn gewohnt waren, plötzlich unmöglich wird, kann Kunst Not lindern.“ Die soziale Isolation trage dazu bei, dass „Outsider Artists“ erneut ihren instinktiven Impulsen folgen und diese in naiven Formen und archaischen Motiven äußern, welche sonst im Unterbewusstsein vergraben liegen.

Diese Originalität sei auch ein Grund, warum „Art Brut“ bei vielen Betrachter*innen starke Emotionen auslöse, so Di Stefano: „Die moderne akademische Kunst ist von Ambitionen und den Mechanismen des Marktes geprägt.“ Um dem Publikum zu gefallen, richten sich viele Kunstschaffende danach, was Kritiker*innen, Galerist*innen oder Museumsdirektor*innen verlangen. Dies raube jedoch jene künstlerische Freiheit, die in der „Art Brut“ unangetastet bleibe.

„Art Brut gibt mir die Hoffnung, dass es auch in einer kapitalistischen Welt noch Menschen gibt, die trotz sozialer, wirtschaftlicher, physischer und psychischer Einschränkungen mit ihrer Vorstellungskraft und Fantasie versuchen, Probleme zu lösen.“ Aus diesem Grund gründete die Kunsthistorikerin bereits vor 14 Jahren das „Observatorium für Outsider Art“ in Sizilien. Mit der Online-Plattform und einer viermal jährlich erscheinenden Zeitschrift will sie Außenseiterkünstler*innen sichtbar machen und sie von der Stigmatisierung befreien, die ihnen die Gesellschaft, aber auch die Kunstwelt auferlegt.

Außenseiterinnen sichtbar machen

Insbesondere vor ihrem Ruhestand gelang es der ehemaligen Kunstprofessorin mit Hilfe ihrer damaligen Studierenden, zahlreiche Kunstwerke zu retten, welche Familienangehörige, Heime oder andere Institutionen in den Müll geworfen hätten. Da „Outsider Artists“ von ihrer Umwelt meist kaum Wertschätzung erfahren, gleiche die Suche nach ihnen oftmals einem Dektivspiel, erklärt Di Stefano. Manche würden sogar erst nach ihrem Tod entdeckt werden. Eine besonders große Herausforderung sei es vor allem Künstlerinnen ausfindig zu machen. Viele von ihnen, erklärt die Expertin, seien in der Vergangenheit von ihren Familien als „Verrückte“ weggesperrt worden.

So wie beispielweise die Künstlerin Anna Maria Tosini, eine Dame aus vornehmen Hause, welche Eva Di Stefano kurz vor ihrem Tod entdeckte. Von ihrer Familie aus entmündigt und in ein Heim eingewiesen, begann die 80-Jährige, aus gesammelten Verpackungsmaterialien wie Süßigkeitenpapier oder Obstschalen Skulpturen und Hüte zu kreieren – typisch für viele „Outsider Artists“, die ihre Materialien oftmals aus der Not heraus wählen. Eine Ausstellung, welche Di Stefano für Tosini in Palermo organisierte, erlebte die Künstlerin nicht mehr. Bis zuletzt sei ihr größter Wunsch ein Leben in Freiheit gewesen.

Frauen in der „Art Brut“

Dass insbesondere Frauen die Außenseiterinnen in der Außenseiter*innenkunst sind, weiß auch die österreichische Art-Brut-Sammlerin und Kuratorin Hannah Rieger. Unter dem Titel „Flying High: Künstlerinnen der Art Brut“ organisierte sie gemeinsam mit der Historikerin Ingried Brugger 2019 in Wien die weltweit erste Gruppenausstellung, die ausschließlich weibliche „Outsider Artists“ aus unterschiedlichen Ländern zeigte.

Bereits vor Jahren hatte Rieger den Fokus ihrer rund 500 Werke umfassenden Sammlung auf weibliche „Outsider Artists“ gelegt und meint: „Mir war klar, dass es so etwas brauchte und noch nicht gegeben hat. Auch wenn mir verschiedene Leute sagten, dass ich verrückt wäre, weil das ‚reverse discrimination’ sei.“ Die ehemalige Marketingdirektorin einer Bankengruppe ließ sich davon nicht einschüchtern, denn sie kannte diese Art von Argumenten nur zu gut.

„Das häufigste Argument – egal in welchem Bereich – ist immer: Es gibt nicht genug Frauen!“, so Rieger. „Aber ich bin Feministin genug, um zu wissen: Das ist Diskriminierung!“ Ausmachen ließe sich das grundsätzlich an zwei Aspekten: Der erste der beiden könne auch als Beschäftigungsdiskriminierung definiert werden. „Das bedeutet, dass Frauen in der Art Brut nicht wahrgenommen und integriert werden, weil sie bewusst aus Sammlungen und Ausstellungen ausgeschlossen werden“, so die studierte Ökonomin.

Leidenschaft für marginalisierte Kunst

Der zweite Aspekt dagegen, der sich als Einkommensdiskriminierung bezeichnen ließe, betreffe die Preisgestaltung. Demnach erhielten Frauen im Vergleich zu den gleich berühmten Männern viel geringere Bewertungen und dementsprechend niedrigere Vergütungen. Und das obwohl ein Trend zeigt, dass mitterweile auch große Museen und der globale Kunstmarkt beginnen sich für „Art Brut“ zu interessieren und die Außenseiter*innenkunst immer mehr zum Business wird.

Dagegen ein Zeichen zu setzen und gleichzeitig immer mehr Menschen für das Genre Außenseiterkunst zu begeistern, ist für die heute 65-Jährige nicht nur die Mission ihres dritten Lebensabschnitts, sondern auch eine Frage ihrer Identität als emanzipierte Frau. Ihre Webseite „Living in Art Brut“ und das damit verbundene Projekt als Sammlerin, Kuratorin und Autorin will genau dies zum Ausdruck bringen.

„Da ich in einer Bankengruppe arbeitete, in der es kaum Frauen in den Führungspositionen gab, war ich vor allem beruflich jahrelang auf einem sehr männlichen Erfolgstrip unterwegs.“ Ihre Leidenschaft für marginalisierte Kunst spiegelte dagegen jene weibliche Seite wider, die danach verlangte, gehört zu werden. „Art Brut“, so sagt Rieger abschließend, habe nicht nur ihr geholfen seelische Wunden zu heilen, sondern könne über dies etwas zutiefst Sinnstiftendes für die ganze Gesellschaft sein.

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