Ausgelöschte Identitäten
Indigene Frauen auf der Flucht
Indigene Frauen, die aus Lateinamerika in die USA einreisen, erfahren auf ihrer Flucht besonders viel Gewalt, Missbrauch und Rassismus. Doch die Öffentlichkeit nimmt ihre Geschichten kaum wahr. Die Anthropologin Shannon Speed möchte das ändern.
Von Marinela Potor, Cincinnati
Estrella Castro Ola (Name zum Schutz der Identität geändert) wollte nur noch der Gewalt in ihrem Umfeld in Guatemala entkommen. Als 19-Jährige hatte sie bereits miterleben müssen, wie ihr Vater ermordet wurde – vermutlich von ihrem Onkel. Danach begann dieser Onkel sie zu schlagen und zu vergewaltigen, wovon Castro Ola schwanger wurde. Nach der Geburt hörten die Übergriffe ihres Onkels nicht auf. Sie bat wiederholt die Polizei um Hilfe, die jedoch nie eingriff. Als ihr Kind zwei Monate alt war, beschloss die junge Frau aus Verzweiflung, es zurückzulassen und ohne Einreiseerlaubnis in die USA zu migrieren. Diese Flucht brachte allerdings noch mehr Gewalt mit sich.
Denn Estrella Castro Ola gehört zur Gruppe der Mam-sprachigen Maya in Guatemala und ist als indigene Frau – laut Anthropologin Shannon Speed – mehr Brutalität ausgesetzt als nahezu jede andere Gruppe von Einwandernden. „Sowohl Lateinamerika als auch die USA sind Gesellschaften, die stark von rassistischen Hierarchien geprägt sind. Je dunkler und indigener eine Person aussieht, desto schlechter wird sie behandelt“, sagt Speed, die seit Jahren das Thema erforscht und Studien und Bücher über die Probleme von indigenen Frauen aus Lateinamerika veröffentlicht.
Indigene Frauen stärker gefährdet als andere Gruppen
Bei indigenen Frauen aus Lateinamerika komme neben dem Aussehen noch hinzu, dass sie im Schnitt sehr klein und damit leichter körperlich zu überwältigen seien. Außerdem sprächen viele von ihnen weder Englisch noch Spanisch, sodass es für sie besonders schwierig sei, sich Gehör zu verschaffen. Ihre Schicksale dringen damit selten an die Öffentlichkeit. Genau das möchte Speed mit ihrer Arbeit ändern. Sie hat Estrella Castro Ola zwischen 2012 und 2018 bei ihren Recherchen im Detention Center „T. Don Hutto“ im US-Bundesstaat Texas kennengelernt (Öffnet in neuem Fenster).
Sogenannte „Detention Center“ sind Flüchtlingslager für Asylbewerber*innen und werden von der US-Einwanderungsbehörde ICE betrieben. Das entspricht in Deutschland etwa der Duldung. Doch anders als in Deutschland können die Menschen die Detention Center nicht verlassen und auch niemanden empfangen. Außenstehende wie Shannon Speed dürfen Insass*innen nur mit spezieller Genehmigung besuchen. So gut wie jede Frau, die Speed dort getroffen hat, hat Gewalt, Rassismus und sexuelle Belästigung erlebt. So auch Estrella Castro Ola: Auf ihrem Weg in die USA wurde sie mehrmals von Schleppern, Kartellmitgliedern und Polizisten vergewaltigt und misshandelt.
Wer kann, besorgt sich Antibabypillen
Dabei waren, wie bei vielen indigenen Frauen aus Lateinamerika, für Estrella Castro Olas Flucht eine Kombination aus häuslicher Aggression, Todesdrohungen von Drogenkartells und Straßengangs sowie Attacken durch Behörden. Denn in Ländern wie Guatemala oder Honduras respektiert der Staat die Rechte von indigenen Gruppen kaum. Vielmehr sind sie in einer Gesellschaft, die seit der Kolonialzeit stark vom Rassismus gegen indigene Gruppen geprägt ist, besonders von Armut und Missbrauch betroffen.
Das gilt vor allem für Frauen, die in den patriarchalen Strukturen kaum ihre Rechte geltend machen können. Deshalb begeben sich viele oft alleine auf die beschwerliche Reise in die USA, in der Hoffnung auf ein friedlicheres Leben. Das Problem: Nahezu jede Station der Flucht der Frauen ist von weiterer Gewalt geprägt.
„Oftmals werden die Frauen auf ihrem Weg von Kartellmitgliedern in Mexiko gefangengenommen und ihre Familien erpresst. Wenn die Familien diese für sie sehr hohen Summen aufbringen können, ist es wahrscheinlich, dass die Frauen weitergelassen werden. Falls nicht, müssen sie sich dann häufig in Form von Sex freikaufen“, erklärt Speed. Wenn sie können, besorgen sich die Frauen darum vorher Antibabypillen, um nicht schwanger zu werden.
Doch selbst wenn sie es in die USA schaffen – sicher können sie sich auch dann nicht fühlen. Das musste auch Estrella Castro Ola feststellen. Nachdem sie die US-Grenze überquert hatte, meldete sie sich bei den Grenzbehörden. Doch die Gewalt, vor der sie fliehen wollte, hörte hier nicht auf. Denn obwohl die Frauen ein Recht darauf haben, Asyl zu beantragen und gesetzlich nicht als illegale Einwanderinnen gelten, werden sie in den USA wie Kriminelle behandelt.
Eingesperrt wie Kriminelle
„ICE prüft zwar offiziell den Status der Einwandernden. Doch dieser Prozess wird häufig bewusst hinausgezogen. In der Zwischenzeit werden sie wie Verbrecher in einem Detention Center gehalten“, erklärt Rechtsanwältin Anna Nathanson den Prozess. „Einwandernde sind dort ebenfalls Gewaltakten ausgesetzt, die in der Regel von den Wärtern ausgehen“, sagt Nathanson. Sie arbeitet für eine Kanzlei in Washington, D.C. und vertritt unter anderem Migrant*innen aus Detention Centern, darunter auch indigene Frauen. Nathanson hat Estrella Castro Ola zwar nicht getroffen. Doch sie hat Mandant*innen mit ähnlichen Fällen betreut.
„Ich würde schon sagen, dass Rassismus eine Rolle spielt. Dunkelhäutige Personen, Moslems sowie indigene Frauen haben es oft schwerer als andere Gruppen“, sagt sie. So müssen indigene Frauen in diesen Lagern nicht selten sexuelle Übergriffe erdulden. Die Menschenrechtsgruppe „Freedom for Immigrants“ veröffentlichte vor einigen Jahren ein inoffizielles Regierungsdokument (Öffnet in neuem Fenster), wonach zwischen 2010 und 2016 rund 14.700 Beschwerden über sexuelle und körperliche Übergriffe gegen ICE eingegangen sind. Die öffentlichen Zahlen von ICE in diesem Zeitraum (Öffnet in neuem Fenster) sprechen lediglich von 374 formellen Beschwerden. Die Mehrheit der Beschwerden habe die Behörde als „unbegründet“ eingestuft, sagte ICE gegenüber The Intercept (Öffnet in neuem Fenster).
Abseits der körperlichen Übergriffe kommen auch psychologische Faktoren hinzu, sagt Anthropologin Shannon Speed. „Wenn du regulär ins Gefängnis kommst, weißt du immerhin, wie lange deine Haftstrafe ist. Diese Frauen haben aber keine Ahnung, wie lange sie in diesen Lagern bleiben müssen. Das zehrt natürlich auch an den Kräften, auch mental. Ich sehe das als psychologische Folter.“ Denn: Dieser Zustand der Ungewissheit hört nicht mit den Dentention Centern auf. Wenn entschieden wird, dass die Frauen als Asylantinnen in den USA bleiben dürfen, beginnt der nächste zermürbende Prozess: das Beantragen der Arbeitserlaubnis, der „Green Card“.
Indigene Identitäten werden ausgelöscht
Bis sie diese erhalten, dürfen die Frauen nicht arbeiten. „Auch dieser Prozess wird bei indigenen Frauen besonders lange hinausgezogen. Ich kenne eine Frau, die fast seit fünf Jahren auf ihre Green Card wartet“, erzählt Speed. Auf ihrer Website schreibt die US-Migrationsbehörde, dass der Prozess etwa 15 Monate dauern sollte. Darum landen viele indigene Frauen auf der Suche nach einem Einkommen als illegal Beschäftigte schließlich wieder in prekären Umständen. Häufig arbeiten sie dabei für einen geringen Lohn, schreibt die Juristin Karla M. McKanders in einer der wenigen Studien zu diesem Thema. (Öffnet in neuem Fenster) Beschweren tun sich die Wenigsten.
Schließlich könnte das Unternehmen jederzeit ICE alarmieren – und damit droht die Abschiebung. Davon sind nicht nur indigene Frauen aus Lateinamerika betroffen. Doch was die Situation für sie besonders schwer macht: Die Öffentlichkeit bekommt davon nichts mit. Wenn US-Medien über solche Fälle berichten, geht es meist nur um die männlichen Arbeiter, schreibt McKanders und spricht daher von den „unausgesprochenen Stimmen der indigenen Frauen“. Das liegt nicht nur an den Sprachproblemen der indigenen Frauen, die ohne Englisch- oder Spanischkenntnisse kaum auf ihre Situation aufmerksam machen können. Es liegt auch daran, dass sie als Gruppe nicht wahrgenommen werden.
Wenn die Daten der indigenen Frauen aus Lateinamerika an den US-Grenzen überhaupt aufgenommen werden, wird häufig nur die Nationalität festgehalten, die im Pass steht. Indigene Identitäten würden damit ausgelöscht, bemerkt Shannon Speed. „Wenn wir nicht genau wissen, wie viele indigene Frauen von diesen Problemen betroffen sind, lässt sich das viel leichter unter den Teppich kehren“, sagt sie.
Mehr psychologische Unterstützung
Es gibt einige Anstrengungen, die Erstsprache von Flüchtenden zu notieren. Wenn eine Person als Herkunftsland beispielsweise Guatemala, aber nicht Spanisch als Erstsprache angibt, ist sie damit vermutlich indigener Herkunft. Doch diese Daten werden nicht flächendeckend erhoben und schließen auch bestimmte indigene Gruppen aus. Aktuell lässt sich darum nicht sagen, wie viele indigene Frauen Ähnliches durchmachen.
Eine umfassende Lösung für das Problem sieht Shannon Speed nicht. Dafür sei das System an zu vielen Stellen zu verfahren. Ein erster Schritt wäre es ihrer Meinung nach aber, den Frauen bessere Unterkünfte, gesündere Ernährung, insbesondere jedoch psychologische Unterstützung anzubieten. Davon hätte auch Estrella Castro Ola profitieren können, glaubt Speed.
Denn nach ihrer traumatischen Flucht und einem Jahr im Detention Center landete sie in einer Einwanderungsunterkunft in Texas namens „Casa Marianella“. Doch dort habe sie keine Ruhe gefunden, beschreibt Speed. Sie sei oft in einer Art Schockstarre verfallen und habe den ihr widerfahrenen Missbrauch nie verarbeiten können. Eines Tages verschwand Castro Ola, um „mit einem Freund” in Washington zu arbeiten. Als Betreuende der „Casa Marianella“ sie schließlich per Telefon erreichten, klang sie sehr nervös. Sie hörten dumpfe Geräusche im Hintergrund und die Verbindung wurde plötzlich unterbrochen.
Bis heute weiß niemand, was mit Estrella Castro Ola passiert ist.