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Der Weg ist das Ziel

Interview mit Christine Thürmer

Christine Thürmer geht ihren Weg: Auf zahlreichen Wandertouren hat die 56-jährige Ex-Managerin die Welt kennengelernt – und nebenbei auch sich selbst. Ob Geschichtstrip, Gourmettour, Literaturpfad, Pilgerweg oder Wildnis-Abenteuer –unterwegs sein und neue Erfahrungen machen sind ihr Lebensinhalt geworden.

Von Anne Klesse, Hamburg

Mit mehr als 60.000 gewanderten Kilometern gelten Sie weltweit als die Frau, die am Weitesten gewandert ist. 2007 gaben Sie Ihren Management-Job auf und widmen sich seither dem Wandern, Radfahren und Paddeln. Wenn Sie zurückblicken: Was waren die wichtigsten Dinge, die Sie dabei gelernt haben?

Das Langstreckenwandern zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Es ist eine absichtslose Beschäftigung. Man läuft nicht, um irgendetwas zu tun. Wandern ist Erholung. Und zweitens beinhaltet es die Nutzung einer spezifischen Struktur wie gekennzeichnete Wanderwege. Ich war bisher auf vier Kontinenten unterwegs: Europa, Nordamerika, Südamerika, Asien. Auf meinen Reisen habe ich gelernt, eine Art Gottvertrauen zu haben. Damit meine ich nicht, unvorbereitet in Situationen zu gehen – die richtige Ausrüstung ist enorm wichtig. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich Probleme meist von allein auflösen, wenn man besonnen bleibt.

Sie sagen „Wandern ist Erholung“, aber gleichzeitig muss das eine körperliche und psychische Herausforderung sein: Sie wandern 30 Kilometer am Tag, tage- oder wochenlang allein durch die Wildnis. Da muss man fit und sich selbst genug sein…

Beim Wandern senkt sich die Glücksschwelle. Ich reise mit sehr reduziertem Gepäck, meist sind es fünf Kilogramm Ausrüstung. Der größte Luxus ist das, was ich nicht tragen muss. Plötzlich fühlt sich jedes kleine bisschen, was über das Nötigste hinausgeht, wie großer Luxus an. Das löst richtig Glücksgefühle aus.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich schlafe unterwegs immer in meinem kleinen Zelt auf einer fünf Zentimeter dicken Isomatte. Wenn überhaupt, wasche ich mich in einem Gebirgsbach oder Tümpel. Ich habe mir aber zur Regel gemacht, einmal in der Woche einen Ruhetag einzulegen und in einem Hotel zu übernachten. Da fühlen sich Matratze und Dusche so toll an! Auf das warme Wasser und den Duft von Duschgel freue ich mich tagelang, wenn ich noch paniert mit Dreck, Schweiß, Mückenschutzmittel und Sonnencreme durch die Wildnis laufe.

Verzicht, indem man eine Zeit lang nicht die gewohnten Dinge um sich hat, lässt die Wertschätzung steigen?

Bei unserem hohen Lebensstandard muss schon Außergewöhnliches passieren, damit wir vor Glück jauchzen. Unterwegs aber hat mich schon ein Schokoriegel richtig glücklich gemacht. Auf meiner ersten Wanderung bin ich von Mexiko nach Kanada zehn Tage lang durch Hochgebirge fernab der Zivilisation gelaufen. Weil man dort nirgends unterwegs einkaufen kann, musste ich Proviant für zehn Tage mitschleppen. Am neunten Tag hatte ich nur noch ein Abendessen, etwas Müsli und 27 „M&Ms“ übrig.

Die hatten Sie genau abgezählt?

Ich hatte sie sogar nach Farben sortiert. Alle meine Gedanken kreisten zu diesem Zeitpunkt um Essen, weil ich so hungrig war. Dann begegneten mir überraschend Wochenendausflügler. Wir kamen ins Gespräch, sie boten mir einen Schokoriegel an. Das hat sich wie Weihnachten und Neujahr zusammen angefühlt! Ich habe die Verpackung aufgerissen, der erste Bissen war besser als jeder Drogenrausch. In dem Moment hatte ich zwei Erkenntnisse: Über 1.000 Euro hätte ich mich nicht ansatzweise so sehr gefreut wie über den Riegel: Geld ist für Glück unerheblich. Und diese „instant satisfaction“ kannte ich vorher nicht. Natürlich habe ich mich in der Vergangenheit auch schon über Geschenke oder gut dotierte Aufträge gefreut. Aber das Gefühl beim Reinbeißen war so unglaublich direkt und körperlich, das war einfach toll und mit nichts in meinem Leben davor zu vergleichen: Körperlich so stark spürbare Befriedigung ist die existenziellere.

Wandern ist also der Weg zum Glück?

Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass das so ist. Das Wandern macht mich zu einem glücklicheren Menschen. Ich war zwar auch vorher schon eine Frohnatur. Auch mein Bürojob hat mir immer sehr viel Spaß gemacht. Aber jetzt bin ich durch und durch glücklich mit meinem Leben.

Sie haben vorher viel Geld verdient und Karriere gemacht, nun konzentrieren Sie sich auf das Wandern und leben ein materiell bescheidenes Leben. Sie sind die meiste Zeit des Jahres unterwegs, schreiben Bestseller und halten Vorträge über Ihre Touren. Wie ist es zu dieser Umkehr gekommen?

Mein Geld damals habe ich gut angelegt, sodass ich bis heute davon profitiere. In Deutschland habe ich nur noch eine kleine Wohnung in einem Plattenbauhochhaus in Berlin-Marzahn. 25 Quadratmeter, siebter Sock, 260 Euro warm. Niemand aus meinem Freundeskreis kann nachvollziehen, warum ich mich hier wohl fühle, aber für mich ist es genau richtig. So konnte ich meine Fixkosten auf ein Minimum reduzieren und habe trotzdem ein Zuhause, in das ich zurückkehre.

Klingt, als hätten Sie den Sinn des Lebens gefunden?

Als Managerin war ich früher sehr durchgetaktet – jetzt habe ich täglich nur noch zwei Termine: Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Dazwischen kann ich machen, was ich will. Meine Entscheidungen sind frei von Zwängen und den Bedürfnissen anderer. Ich spüre die totale Freiheit, auch beim Denken. Die meisten von uns sind in ihrem Alltag fremdbestimmt – ob bei der Arbeit, beim Abendbrot machen oder wenn wir die Hausaufgaben der Kinder kontrollieren. Beim Wandern aber setze ich bloß einen Fuß vor den anderen und lasse meine Gedanken hemmungslos schweifen. Das ist sehr befreiend.

Sie wandern immer allein. Sehnen Sie sich nicht irgendwann nach Input von außen?

Langeweile kenne ich nicht, ich habe immer viele Hörbücher dabei. Anfangs habe ich vor allem Krimis gehört, dann Romane und die deutsche Klassik. Einmal habe ich das gesamte Nibelungenlied in Mittelhochdeutsch, gelesen und kommentiert von Peter Wapnewski, durchgehört. Das dauert fast neun Stunden! Welcher normale Mensch tut sich das an? Ich aber hatte die Zeit und Ruhe dafür, das zu entdecken. Natürlich passieren auch mal nicht so tolle Dinge. Ich hatte schon Unfälle, bin mal in eine unterirdische Höhle eingebrochen und wurde von einem Hund gebissen. Aber letztendlich ist alles immer gut ausgegangen.

Im stressigen Alltag haben wir dieses „im Hier und Jetzt sein“ vermutlich alle viel zu selten. Lässt sich das lernen?

Ich rate allen, mal eine Weitwanderung zu machen. Denn dann passiert eine Verhaltensänderung: Durch diese extreme Reduktion, mit Hunger, Durst, Hitze, Kälte, und der damit verbundenen Herabsenkung der Glücksschwelle verschwinden auch Ängste. Ich werde oft gefragt, ob ich als Frau allein in der Wildnis keine Angst habe. Die Frage ärgert mich, denn meiner Erfahrung nach sind Frauen sogar prädestinierter für Langstrecken als Männer. Außerdem werden wir weniger als Bedrohung wahrgenommen, uns schlägt eine größere Hilfsbereitschaft entgegen als allein wandernden Männern. Ab einem gewissen Alter kommt noch der – wie ich ihn nenne – Oma-Bonus hinzu, dann hat man quasi Narrenfreiheit. Das ist super! Wer solche Strecken hinter sich lässt, den kann nichts mehr erschrecken, davon bin ich überzeugt. Mir wurde schon häufig gesagt, dass ich ein ganz besonderes Selbstbewusstsein ausstrahle. Ich führe das auf meine vielen positiven Erfahrungen zurück. Langstrecke hat das Potenzial, nachhaltig das Leben zu verändern.

Der Weg ist also tatsächlich das Ziel – und nicht das Ziel selbst?

Man sollte schon einen Start- und einen Zielpunkt sowie Regeln für sich definieren. Auf Langstreckenwanderungen stößt man immer auf Probleme – die Frage ist nicht ob, sondern wann. Meine Regel lautet: Ich laufe immer durchgängig, ich nehme nicht den Bus oder trampe, sobald mich die Motivation verlässt. Später bleibt vor allem das Wissen, es geschafft und sich trotz aller Herausforderungen durchgebissen zu haben. Daraus ziehe ich ein starkes Selbstwertgefühl, das wichtig ist für das große Glück.

Wie entscheiden Sie sich für den richtigen Weg?

Auch da gehe ich strategisch vor. Die meisten Menschen entscheiden sich für eine Strecke, weil ihnen die Landschaft, die Umstände oder die Popularität der Tour gefallen. Das ist tückisch, denn entscheidend dafür, ob eine Wanderung Spaß macht oder nicht, sind andere Dinge. Für mich ist das Klima sehr wichtig. Norwegen kann noch so malerisch sein – nach einer Woche bei elf Grad und Nieselregen bekomme ich schlechte Laune. Mein zweites Kriterium ist das Budget. Wenn in Skandinavien eine Tafel Schokolade fünf Euro kostet, macht das einfach keinen Spaß. Man sollte sich also ehrlich fragen: Was passt zu mir, welches Budget habe ich, für welche Strecke bin ich fit genug?

Wie immer im Leben geht es also darum, die eigenen Kräfte realistisch einzuschätzen und danach zu handeln?

Genau. Das Wandern ist da ein gutes Bild für das Leben an sich. Wer mal einen Durchhänger hat, dem rate ich: Fahr sofort in die nächste Stadt, nimm dir ein schönes Hotelzimmer, gönn dir eine warme Dusche und eine leckere Mahlzeit. Ruf nicht zu Hause an, dann bekommst du nur Heimweh! Schlaf dich aus und denk am nächsten Tag in Ruhe darüber nach, ob du tatsächlich abbrechen willst. Gute Entscheidungen lassen sich grundsätzlich am besten treffen, wenn man ausgeruht und satt ist. Die allermeisten wollen dann übrigens weiterwandern. Hinter dem Wunsch abzubrechen steckt grundsätzlich im Leben meist körperliche oder mentale Überlastung. Man hat sich einfach zu viel zugemutet.

Haben Sie je einen Weg, den Sie gegangen sind, bereut?

Nein. Ich glaube, dass wir Menschen eher die Wege bereuen, die wir eigentlich gerne gegangen wären, die wir uns aber nicht zugetraut haben.

Buchtipp:

Christine Thürmer: „Auf 25 Wegen um die Welt. Vom Wohlfühlweg bis zum Wildnisabenteuer“ (Öffnet in neuem Fenster), 304 Seiten, inkl. 27 Karten, Piper Verlag (2023)

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