Die Erinnerung ausgraben
Francos Verbrechen aus weiblicher Sicht
Abertausende Menschen – insbesondere Männer – wurden während der Diktatur Francos in Spanien hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Zurück blieben entrechtete Witwen, Mütter, Töchter und Enkelinnen, deren Erinnerungen, Schmerz und Resilienz nun in einer Chronik von Fotografin Eva Máñez sichtbar gemacht werden.
Von Helen Hecker, Palermo / Valencia
Endlich kann Mari Carmen Simeon Vedreño die sterblichen Überreste ihres Großvaters in Würde bestatten. Lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Mehr als 80 Jahre ist es her, dass Alfonso Simeon Fuertes mit einem Kopfschuss an der „Paredón de España“, der berüchtigten Friedhofsmauer von Paterna, hingerichtet wurde. Die kleine Stadt, nur 20 Fahrminuten von Valencia entfernt, gilt wie keine andere als Symbol für Spaniens verdrängte Vergangenheit.
Auf dem Friedhof befindet sich das wohl größte Massengrab aus der Zeit des Franco-Regimes. 2.238 Menschen wurden hier zu Friedenszeiten, also zwei, drei und sogar zehn Jahre nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges hingerichtet. „Meiner Mutter wurde immer gesagt, dass ihr Vater allein deswegen starb, weil er sie nach der Geburt in den Händen halten wollte und so aus seinem Versteck kam. Zeitlebens litt sie darunter“, erzählt die Enkelin.
Als Simeon Vedreño in der Presse las, dass Archäolog*innen und Forensiker*innen begonnen hatten, die Gräber von Paterna zu öffnen, trat sie dem Verein bei, der die Angehörigen bei den Exhumierungen unterstützt. „Nun können wir meinen Großvater neben meiner Mutter beisetzen und sie im Tod vereinen.“ Simeon Vedreños Großvater ist einer der 197 Toten, die in der „Fosa 114“ verscharrt wurden. Es ist die gewaltigste der insgesamt 70 Gruben von Paterna. In Spanien wird sie auch „Fosa de la cultura“, zu Deutsch „Grab der Kultur“, genannt, denn aus ihr bargen Wissenschaftler*innen 2021 die sterblichen Überreste vieler Lehrer, Journalisten, Schriftsteller, Bürgermeister und Richter.
Sie alle wurden wohl im Schnellverfahren erschossen. Oftmals schlichtweg aus Rache, weil sie zu den Verlierern des Bürgerkriegs zählten oder in Opposition zu General Francisco Franco standen, der das Land von 1939 bis 1975 mit eiserner Faust regierte. Etwa 140.000 Menschen kamen so ums Leben. Neuste Schätzungen der spanischen Regierung (Öffnet in neuem Fenster) gehen davon aus, dass es noch rund 1.200 unentdeckte Massengräber mit rund 114.000 Franco-Opfern gibt. Diese künftig ausfindig zu machen und die Toten nach Jahrzehnten des politischen Verdrängens würdevoll zu bestatten, ist eine immer lauter werdende Forderung der spanischen Bevölkerung.
Die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit
Den Anfang dieser Bewegung machten vor allem die Familienangehörigen der Hingerichteten. Ihrem unerschöpflichen Einsatz ist es zu verdanken, dass die Öffnung der Massengräber heute überhaupt bewilligt wird. “Eine Exhumierung erfolgt niemals aus institutioneller Initiative heraus”, erklärt Fotojournalistin Eva Máñez, die neben Simeon Vedreño auch viele weitere Hinterbliebene bei der Suche nach ihren verschollenen Verwandten begleitete. “Es ist immer eine Vereinigung von Angehörigen, welche die lokale Regierung darum bitten muss und oftmals auch die Kosten dafür übernimmt.” So waren es auch Familienangehörige, welche die etablierte Reporterin bereits 2016 kontaktierten und baten, die allererste Exhumierung von Paterna fotografisch zu begleiten. “Sie fragten mich, ob ich ihnen dabei helfen könne, den Journalisten und der Öffentlichkeit klarzumachen, was damals an diesem Ort passiert war. So hat alles für mich angefangen”, erinnert sich Máñez.
Rückblickend wundert sich die 51-Jährige, dass sie nicht schon eher auf die Idee gekommen war, ein Projekt über Paterna zu machen. “Ich bin in der Nähe des Ortes aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Im Unterricht haben wir über das, was damals vorgefallen war, gesprochen. Aber ich war nie zuvor auf dem Friedhof gewesen”, gesteht die in Valencia lebende Fotografin. Es seien wohl aber eben diese Kindheitserinnerungen gewesen, welche Máñez emotional an das Projekt banden und dazu führten, dass sie über fünf Jahre lang zwischen Valencia und Paterna hin- und hergondelte.
Begegnung mit den Hinterbliebenen
Dabei dokumentierte sie nicht nur die bis heute voranschreitenden Exhumierungen, sondern lernte immer mehr Menschen kennen, die sich der Suche und Bergung ihrer verschollenen Verwandten verschrieben hatten. Als sie dann vergangenes Jahr ein Fotofestival aus Castelló (Öffnet in neuem Fenster) bat, einige ihrer bereits veröffentlichten Pressebilder auszustellen, entschied sie, nicht nur Fotos von Gräbern zu zeigen, sondern eine persönliche Botschaft zu übermitteln: “Ich bin Feministin. Und genau deswegen wollte ich, dass die Menschen aus weiblicher Perspektive auf die Vergangenheit blicken.”
Eva Máñez erinnerte sich an viele interessante Frauen, die sie im Laufe der Jahre kennengelernt hatte, und beschloss, zwei oder drei von ihnen zu portraitieren. Statt im Sommer in den Urlaub zu fahren, verabredete sie sich mit den Zeitzeuginnen – Töchtern, Enkelinnen oder Nichten der hingerichteten Männer. Viele von ihnen seien bereits siebzig, achtzig oder gar neunzig Jahre alt gewesen und manche hätten das erste Mal über ihre Erlebnisse gesprochen. Schnell wurden aus den einigen wenigen Interviews immer mehr: “Irgendwann musste ich meine Recherche unterbrechen, weil die Ausstellung wartete. Ich erhielt jedoch weiterhin Nachrichten von Frauen, die mir unbedingt ihre Geschichte erzählen wollten.”
Leben voller Demütigungen
So entschied Máñez, aus den insgesamt 60 gesammelten Interviews und Portraits ein ganzes Buch zu machen. Die Erzählungen darin handeln aber nicht nur vom Schmerz und der Suche nach den Ermordeten, sondern vor allem von der Widerstandsfähigkeit und den Lebensbedingungen der Frauen zur damaligen Zeit. “Viele der Ehefrauen, Schwestern und Töchter der Männer mussten nach deren Ermordung die Verantwortung für die Familie übernehmen”, erklärt Máñez. Das faschistische Regime habe ihnen jedoch jeglichen Besitz weggenommen. Unter General Franco durften Frauen weder ein eigenes Konto besitzen noch Geld erben oder allein Geschäfte abschließen. „Die große Frage, die ich mir immer wieder stellte war: Wie haben diese Frauen mit ihren Kindern überhaupt überleben können?“, so die Buchautorin.
Viele der Frauen erzählten ihr dabei vom Schwarzmarkt und kilometerweiten Zugfahrten, um Eier gegen Mehl zu tauschen. Aber auch von den sozialen Repressionen und Demütigungen unter Franco. Ihr Leben lang seien sie als „los rojos“ (zu Deutsch: die Roten) gebrandmarkt gewesen. „Die meisten standen unter polizeilicher Beobachtung und wurden gezwungen, in Kasernen oder Kirchen zu putzen. Sie wurden erniedrigt, indem man sie beispielsweise durchs Dorf jagte und ihnen Rizinusöl zu trinken gab. Das führte dazu, dass sich ihr Darm entleerte”, berichtet die Fotografin betroffen. Diese jahrelangen Demütigungen waren ein politisches Mittel, um die Moral der Bevölkerung zu kontrollieren und wurde durch das sogenannte „Ley de Responsabilidades Políticas“ (zu Deutsch: Gesetz über politische Verantwortlichkeiten“ legalisiert.
Die geschuldete Wiedergutmachung
Dass die Hinrichtungen oftmals erst der Beginn des Leids vieler Angehöriger waren, weiß auch Emilio Silva. Sein „Verein zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses“ ist eine der zahlreichen Bürger*inneninitiativen, die sich in Spanien seit Jahrzehnten für die Rehabilitierung der Franco-Opfer einsetzt. Seit 20 Jahren hilft Silva Hinterbliebenen bei der Suche und Bergung ihrer verschollenen Verwandten. Er selbst recherchierte lange Zeit nach den Gebeinen seines Großvaters, bis er sie in einem Massengrab in Léon fand.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk (Öffnet in neuem Fenster) sagte Silva: „Kein Regierungschef hat sich jemals mit den Angehörigen der Repressionsopfer Francos öffentlich getroffen. In 45 Jahren Demokratie. Das sagt doch viel über die politische Kultur in diesem Land aus.“
Tatsächlich blieb nach dem Tod des Diktators 30 Jahre lang die Unterstützung des Staates bei den Exhumierungen aus. Erstmalig mit dem „Gesetz der historischen Erinnerung“ im Jahr 2007 wurde öffentliche Hilfe bei der Suche nach den Hingerichteten zugesagt, wenn auch ohne die Zusicherung auf finanzielle Mittel. Im vergangenen Jahr wurde das alte Gesetz durch ein neues ersetzt, das ab sofort sämtliche Urteile während der Franco-Diktatur für nichtig erklärt und damit die Verletzung der Menschenrechte anerkennt. Eine Wiedergutmachung, die für viele zu spät kommt.
Ein Vergrößerungsglas der spanischen Geschichte
„Paterna ist eine Art Vergrößerungsglas, in dem nicht nur das zum Vorschein kommt, was unter Franco geschehen ist, sondern auch, was nach seinem Tod hätte geschehen müssen“, ergänzt Máñez. Viel zu lange sei die Vergangenheit totgeschwiegen worden. Sie heute aufzuarbeiten und die Erinnerungen auszugraben sei nicht nur ein sentimentales Unterfangen, sondern eine moralische Verpflichtung für die ganze Gesellschaft. Die Veröffentlichung ihrer Fotografien war für die Reporterin dabei ein wichtiger Beitrag.
Zudem überzeugte sie immer öfter auch befreundete Journalist*innen und Fotograf*innen, nach Paterna zu kommen: “Ich sagte zu ihnen: Das müsst ihr sehen! Darüber muss gesprochen werden!” Mit Erfolg. Dank der Berichterstattung der vergangenen Jahre habe sich die Erinnerung an die Ermordeten ihren Weg zurück in das kollektive Bewusstsein der Spanier*innen gebahnt.
Die Pionierinnen der Emanzipation
Dass es für viele Frauen nicht einfach war, ihr Schweigen zu brechen, kann die Spanierin heute verstehen: “Ich nenne diese Frauen die Hüterinnen der Erinnerungen. Denn um in den 40 Jahren des Terrors zu überleben, mussten sie sich ruhig verhalten und nach unten schauen. Sie haben die Demütigungen ertragen und nicht darüber gesprochen, weil es sonst eine doppelte Repression für sie bedeutet hätte.”
Entscheidend sei jedoch, so Máñez, dass es heute eine neue Generation gebe von 20-, 30- und 40-jährigen Frauen, die Vergangenheit Bescheid wüssten. “Nur wenn uns bewusst wird, was passiert ist, können wir jenen Frauen gerecht werden, die uns vorausgegangen sind, so vieles ertragen mussten und letztlich für eine bessere Zukunft gekämpft haben.” Dieses stellvertretende Gedächtnis, sagt die Journalistin, sei notwendig, um heute in Spanien eine vollwertige Demokratie aufzubauen und die Geschichte umzuschreiben.