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Wie verlernen wir das Patriarchat?

Interview mit Naomi Ryland

Naomi Ryland ist Mitherausgeberin des Buches „Unlearn Patriarchy“ – ein Bestseller, in dem 15 Autor*innen und Feminist*innen die von Männern dominierten Strukturen in unserem Alltag aufdecken. Im Interview mit Helen Hecker erklärt Ryland, warum es sich lohnt, die eigenen toxischen Verhaltensmuster zu hinterfragen und Macht neu zu denken.

Wann ist dir das letzte Mal im eigenen Alltag aufgefallen, dass du in traditionellen Rollenbildern festhingst?

Gute Frage! Also bei mir ist gerade das Thema Erziehung und Mutterrolle sehr präsent. Dabei ist es oftmals eine Herausforderung auszuhandeln, wer was übernimmt. Ich tappe meistens in die Falle zu denken: „Care-Arbeit“ ist keine echte Arbeit. Zum Beispiel habe ich mich neulich wieder einmal dabei erwischt, dass ich in Bezug auf meine Lohnarbeit gesagt habe: „Aber morgen muss ich arbeiten“ – anstatt zu realisieren, dass ich ja die ganze Zeit arbeite. Ich denke, es wäre spannend, ein neues Vokabular zu entwickeln und genau zu definieren, was Arbeit bedeutet. Denn egal ob du im Büro bist oder zu Hause, es ist Arbeit.

Autorin Kübra Gümüşay schreibt im Buch: „Das Patriarchat zu verlernen, Klasse zu verlernen, Rassismus zu verlernen, bedeutet nicht, deren Existenz zu leugnen. Verlernen bedeutet, den Missstand ganz genau zu studieren und es genau deshalb anders zu machen.“  Wie sehr beeinflussen uns patriarchalische Denkmuster tatsächlich?

Was ich – oder wir – bei der Recherche festgestellt haben, ist, dass patriarchalische Strukturen schlichtweg in unseren Köpfen drin sind. Die wichtigste Erkenntnis für mich dabei war: Das Patriarchat ist nicht irgendwas Getrenntes von mir, sondern ich bin Teil davon. Wir alle tragen es in uns und reproduzieren es. Bewusst oder unbewusst. Dabei gibt es aus meiner Sicht keinen Bereich, in dem wir nicht in irgendeiner Form davon beeinflusst werden. Ich würde aber nicht sagen, dass man in der Pflicht ist, es zu verlernen. Das muss jede und jeder für sich entscheiden. Wenn man jedoch frei, gleichberechtigt und nachhaltig leben möchte, dann sehe ich persönlich keine andere Wahl.

Glaubst du, dass sich viele Menschen dieser Muster in ihren Köpfen gar nicht bewusst sind?

Ja, weil es häufig ein unbewusster Lernprozess ist. Etwas, das uns sozusagen bei der Erziehung, in der Schule oder am Arbeitsplatz unbewusst kommuniziert und vorgelebt wurde. Es ist ein bisschen so wie die Geschichte vom Fisch im Wasser, der gefragt wird, wie es ist, im Wasser zu leben. Und er antwortet darauf: „Was ist denn Wasser?“

Wenn wir die ganze Zeit von bestimmten Strukturen umgeben sind und sich diese auch innerlich verfestigen, dann braucht es häufig einen externen Anstoß, um dies überhaupt zu erkennen. Ich glaube, dass wir Frauen es dabei – bis zu einem gewissen Grad – einfacher haben, weil wir selbst oftmals an unsere eigene Begrenztheit gestoßen werden. Umgekehrt fällt es vielen Männern einfacher, im System zu leben, weil sie die eigenen Grenzen nicht erreichen. Mich hat zum Beispiel die eigene Erfahrung mit Diskriminierung darauf gebracht, dass es das Patriarchat überhaupt gibt und dass wir es bekämpfen sollten.

Kannst du das genauer erklären?

Ich meine damit vor allem meine Erfahrung als Gründerin. Bevor ich selbst gegründet habe, dachte ich: „Feminismus? Brauch ich persönlich nicht. Ich erreiche ja alles, was ich erreichen möchte.“ Als Gründerin hatte ich dann aber einen Aha-Moment. Ich erlebte plötzlich, wie es ist, in der Minderheit zu sein. Insbesondere, als wir nach einer Finanzierung gesucht haben. Das Vertrauen von männlichen Investoren zu gewinnen war als Frau wesentlich schwieriger.

Was würdest du heute zu einer Person sagen, die Feminismus ablehnt?

Leider müssen wir häufig selbst etwas nachempfinden, um dafür sensibilisiert zu werden. Oder um zu begreifen, was es bedeutet, diskriminiert zu werden oder nicht frei zu leben. Sobald man die Erfahrung gemacht hat, kann man es nicht mehr ignorieren. Deswegen empfinde ich auch Empathie für Menschen – insbesondere Männer – die sich dem Feminismus noch nicht angeschlossen haben. Ich glaube, dass auch die besten Statistiken der Welt kognitiv nicht so viel rüberbringen, als wenn man wirklich selbst etwas erlebt hat. Deswegen wäre es super, wenn wir bestimmte Dinge erlebbarer oder nahbarer machen könnten. Insbesondere für weiße heterosexuelle Männer. Ich glaube, das ist eine große Herausforderung. Für uns alle.

Warum würdest du gerade weißen heterosexuellen Männern solche Erfahrungen wünschen?

Weil das Männlichkeitsbild, das wir alle kennen, ein Teil des Patriarchats ist. Es hilft, Männer in einer bestimmten Rolle zu halten, die wirtschaftsfördernd ist und viel mit Kapitalismus und Produktivität zu tun hat. Ich glaube, dass sich Männer viel schwerer damit tun, Rollenbilder zu durchbrechen und dadurch viele Träume von Jungs früh kaputt gehen, da sie das Gefühl haben, nicht das verwirklichen können, was sie eigentlich gerne möchten.

Abgesehen von dir und Lisa Jaspers als Herausgeberinnen kommen noch viele weitere Feminist*innen wie zum Beispiel Madeleine Alizadeh, Teresa Bücker, Kübra Gümüşay, Emilia Roig und Kristina Lunz zu Wort. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit diesen Autor*innen?

Im ersten Schritt hatten wir die Themen zusammengestellt und dann überlegt, wer darüber schreiben könnte. Dann haben wir nachgefragt und es war total überwältigend, wie viele von den ganz, ganz großartigen Menschen tatsächlich ja gesagt haben. Heute ist es großartig zu sehen, was wir in Bewegung setzen konnten, indem wir eine Gruppe von Menschen zusammengebracht haben, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Lebenserfahrungen heraus berichten. Viele von ihnen sind sich sicherlich auch nicht immer einig darüber, was der Weg aus dem Patriarchat sein könnte. Trotzdem unterstützen sich alle und gehen liebevoll und wertschätzend miteinander um.

Die 15 Essays in eurem Buch sind unterschiedlichen Lebensbereichen gewidmet, die es „neu zu erlernen“ gilt. Dass es toxische Strukturen in der Arbeitswelt oder Politik gibt, ist sicherlich eher zu vermuten als bei Liebe oder Sex. Wie bist du auf diese Bereiche gekommen?

Basierend auf Lisa Jaspers und meinem ersten Buch „Starting a Revolution“, das sich vor allem mit dem Thema Arbeit und Business beschäftigt, haben wir ziemlich schnell festgestellt, dass das Patriarchat auch in anderen Gesellschaftsbereichen eine krasse Rolle spielt. Genau das, was ich vorher meinte: Sobald man es einmal sieht, ist man dafür sensibilisiert. Dabei gibt es natürlich noch viel mehr Bereiche, als die, die wir im Buch abgedeckt haben. Zum Beispiel wurde uns nahegelegt, dass der Körper auch ein Thema ist, was total fehlt. Und ich finde im Nachhinein, dass Natur noch ein spannendes Thema gewesen wäre, weil wir unser hierarchisches Denken sogar auf den ganzen Planeten übertragen. Dennoch glaube ich, dass die Kapitel in unserem Buch viele neue Erkenntnisse enthalten, weil alle Beitragenden aus sehr persönlichen Erfahrungen heraus geschrieben haben.

Waren bestimmte Erkenntnisse auch für dich überraschend?

Für mich war das Kapitel von Laura Gehlhaar zum Thema „Unlearn Sex“ extrem interessant. Sie hat aus einer Perspektive geschrieben, mit der ich vorher nicht sehr vertraut war. Aber sie hat es auf eine Art und Weise gemacht, die man unglaublich gut nachempfinden kann. Und genau das ist es, was wir uns von dem Buch erhoffen: Empathie! Sie ist so wichtig, wenn es um sozialen Wandel geht. Wenn ein Text es schafft, bei einer Person Empathie für eine bestimmte Lebensperspektive oder Lebensgestaltung zu erwecken, dann ist das wahnsinnig kraftvoll und mächtig.

Du selbst hast über das Thema Macht geschrieben. Kannst du kurz erklären, worum es in dem Kapitel geht?

Ich habe darüber geschrieben, wie es sich anfühlte, Macht abzugeben. Und zwar im Rahmen meines eigenen Unternehmens. Aus einer klassischen Hierarchie – also ganz nach dem Motto „ich bin die Gründerin und Geschäftsführerin und sage, was zu tun ist“ – haben wir uns in ein selbstorganisiertes Unternehmen gewandelt, in dem alle mitentscheiden können und sollen. Dabei hat sich meine Vorstellung davon, was Macht überhaupt bedeutet, völlig geändert. Zuvor war es für mich eine Art Nullsummenspiel, bei dem ich selbst weniger bekomme, wenn andere mehr bekommen. Als ich dann mehr über das Thema forschte, habe ich festgestellt, dass dieses Nullsummenspiel natürlich ein sehr patriarchalisches Bild von Macht ist.

Wie könnte denn nicht-patriarchalische Macht aussehen?

In anderen Kulturen gibt es – ähnlich wie auch vormals in Europa – ein anderes Verständnis von Macht. Demnach wächst Macht, sobald man sie mit anderen teilt. Das heißt, wenn ich selbst Macht abgebe und nicht als dominierende Führungskraft im Weg stehe, dann haben andere die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Macht auf diese Weise zu sehen ist sehr befreiend und schön. Außerdem könnte es uns dabei helfen, auch einen anderen Anspruch an unsere Institutionen und die Politik zu haben. Wenn wir lernen, dass Macht etwas Liebevolles sein kann, dass sie fair und gewaltfrei ist, dann sind wir vielleicht auch imstande, unsere Systeme zu ändern und uns weniger ohnmächtig zu fühlen. Denn das ist meiner Meinung nach eines der größten Probleme in unserer ganzen Gesellschaft.

Hast du abschließend einen Tipp, wie wir patriarchalische Strukturen in unserem eigenen Alltag identifizieren können?

Selbstreflexion ist meines Erachtens überaus wichtig, um toxische Strukturen im Alltag aufzudecken. Sobald ich das Gefühl habe, dass irgendetwas nicht stimmt oder ich einen inneren Widerstand spüre, versuche ich kurz innezuhalten und mich zu fragen: Warum folge ich diesem patriarchalischen Verhalten jetzt, obwohl es sich nicht gut anfühlt? All das musste ich aber auch erst einmal lernen, weil ich nicht damit aufgewachsen bin, auf meine innere Stimme zu hören. Ich glaube, das sind leider sehr wenige von uns.

Und was kann dann dabei helfen, diese Verhaltensweisen zu überwinden?

Meiner Erfahrung nach kann ein Coaching oder eine Therapie super hilfreich sein. Wenn man nicht das Geld dafür hat oder ausgeben will, wäre mein Tipp, Gesprächsrunden zu gründen oder mit Freunden über die innere Gedankenwelt und Tabus zu reden. Leider reden wir über ganz viele Dinge nicht, weil wir oftmals denken: „Wenn ich das komisch finde, bin ich komisch.“ Wenn wir aber lernen, offen über alles zu sprechen, erleben wir ziemlich schnell, dass es anderen ähnlich geht. Und gemeinsam sind wir bekanntlich stärker.

Weitere Infos:

Naomi Ryland, Jahrgang 1985, ist in Großbritannien aufgewachsen und machte Berlin vor 15 Jahren zu ihrer Wahlheimat. 2014 gründete sie mit Freundinnen eines der bekanntesten deutschen Jobportale, tbd* (ehemals The Changer), um Fachkräften im sozialen und nachhaltigen Bereich zu helfen, ihre Karriere durch einfachen Zugang zu Jobs und einer Community zu entwickeln. Gemeinsam mit Lisa Jaspers ist sie Herausgeberin und Autorin des Handbuchs „Starting a Revolution“ sowie des SPIEGEL-Bestsellers „Unlearn Patriarchy“ (2022, Ullstein Verlag).

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