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Krankengrüße aus Neukölln

... und anstatt des regulären Newsletters ein Essay über ein absolutes (und vollklimatisiertes) Highlight dieses Ausstellungssommers im Potsdamer Museum Barberini

Dear all,

ich bin leider mit einer COVID-Infektion aus Sizilien wiedergekommen und liege seit ein paar Tagen völlig flach. Diese Sommerwelle ist total real. 

Deshalb gibt es diese Woche keinen regulären Newsletter. Aber ich wollte die Möglichkeit nutzen und euch ein ganz herrliches Wochenende wünschen. Genießt den Sommer - der meiner Erfahrung nach immer schneller vorbei ist, als man denkt - und bleibt gesund!  

Und für alle, die auch heute etwas zum Lesen brauchen: Anbei ein Essay, den ich über die wunderbare Abstraktions-Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini geschrieben habe, die viele Bilder enthält, die in Deutschland so gut wie nie zu sehen sind. Für diejenigen unter euch, die in der Nähe wohnen, wäre die Ausstellung vielleicht sogar das ideale Ausflugsziel dieses Wochenende. Sie lohnt sich wirklich sehr - und Museumsräume sind in der Regel klimatisiert.

Alles Liebe!

Daniel

Die Form der Freiheit

Eigentlich ein so schönes Blau, ein Blau, wie man sich das Meer vorstellt, das nur nie so aussieht. Ein Ultramarin, tief, komplex und bewegt. Man geriete fast ins Schwärmen, wären da nicht die ruhelose Grattage und die Fingerspuren, die zum Angriff auf den malerischen Raum blasen, die blutroten Schlieren, die buchstäblich einen Strich durch jedes oberflächliche Wohlgefühl machen, und das brachial pulsierende Schwarz, von dem man irgendwann den Blick nicht wenden kann. Ein Absturz in eine düstere Welt ausradierter Sicherheit. Ein Wegbruch des Lebens. Und dennoch Hoffnung und dieses eigentlich so schöne Blau.

Die „Komposition Champigny“ von Alfred Otto Wolfgang Schulze, genannt Wols, entstand 1951. Doch schaut man sie sich in der neuen Schau im Potsdamer Museum Barberini an, überkommt einen das Gefühl, dass sie zeitgemäßer kaum sein könnte. Wie lebt man, nachdem die Welt sich fast zerstört hatte? Wie macht man weiter, wenn man das Vertrauen in die Menschheit verloren hat? Was lässt sich fühlen, wenn die Lava unvorstellbarer Traumata unablässig in den Alltag quillt? Wie malt man am Nullpunkt der Geschichte? Vielleicht haben wir heute, angesichts der erschütternden Weltlage wieder einer Ahnung davon, wie es wirklich war, damals, als der Zweite Weltkrieg „wie ein schwerer Leichnam in unseren Armen“ lastete, wie Simone de Beauvoir einmal schrieb. Und dennoch Hoffnung und dieses eigentlich so schöne Blau.

Als das Barberini und sein Kurator Daniel Zamani 2018 mit der Konzeption der Ausstellung „Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“ begannen, ließ sich noch nicht ahnen, wie aktuell sie sich heute anfühlen würde. Vielleicht hatte die oft als bedeutungsleer und zombiehaft verschriene Wiederkehr der Abstraktion in der zeitgenössischen Kunst den Anstoß gegeben, sich auf eine Zeit zurückzubesinnen, als das Abstrakte keine Mode, sondern Lebensnotwendigkeit war. Als es eine Antwort auf die Frage darstellte, wie man nach einer unvorstellbaren Selbstzerstörungsorgie überhaupt noch Kunst schaffen konnte. Vielleicht war es das Bedürfnis, die festgefahrenen kunsthistorischen Diskurse über den Abstrakten Expressionismus der New York School und das europäische Informel um die École de Paris aufzubrechen. Vielleicht war es an der Zeit, noch einmal mit Nachdruck den Geniekult um männliche Malerheroen wie Jackson Pollock zurechtzurücken – und so erstrangigen Künstlerinnen wie Mary Abbott, Janice Biala, Helen Frankenthaler, Lee Krasner, Joan Mitchell, Judit Reigl, Janet Sobel oder Hedda Sterne ihren verdienten Platz zu geben. All das gelingt dieser Ausstellung – und noch viel mehr.

Denn ihr größter Verdienst liegt vielleicht darin, dass sie erfahrbar macht, wie radikal der Schritt war, den die Malerinnen und Maler der Abstraktion der Nachkriegszeit machten, und wie nachhaltig sie dabei versuchten, sich den existentiellen Fragen ihrer Zeit zu stellen. Der Krieg hatte mit seiner Auslöschung von Lebenswelten auch für den Wegfall malerischer Gewissheiten gesorgt. Mit Anleihen an surrealistische Ideen des Irrationalen und Unbewussten, mit einem neuen Blick auf das Erbe des Kubismus, der impressionistischen Landschaft und der mexikanischen Muralisten und in Widerstand gegen die Dogmen geometrischer Abstraktion machte man auf beiden Seiten des Atlantiks einen nie dagewesenen Neuanfang. Ob in Action-Painting, Farbfeldmalerei oder lyrischer Abstraktion: Nach dem Ende der Zivilisation sollte es um den Ausdruck von Individualität und Gefühl gehen. Um eine spontane prozess-orientierte Begegnungen mit der Leinwand, wie es der amerikanische Kritiker Harold Rosenberg einmal formulierte. Eine schöpferische Begegnung, die dem Denken und dem Sprechen vorausgeht und die von künstlerischer Freiheit und Selbstbehauptung charakterisiert ist – eine Begegnung völlig frei von Ideologien, frei von dem, was die Welt an den Rand der Zerstörung gebracht hatte.

Wie die 97 Werke der Ausstellung zeigen, konnte diese Begegnung alle möglichen Formen annehmen. Die Drip-Paintings von Janet Sobel, Lee Krasner, Jackson Pollock und Bernard Schultze lassen mit ihrer Allover-Ästhetik alle traditionellen Ideen vom Bildaufbau hinter sich und inszenieren die materielle Präsenz von Farbe völlig neu. Die Soak-Stain-Technik von Helen Frankenthaler oder Morris Louis, bei der die Leinwand mit verdünnter Reinfarbe durchtränkt wird, gibt nicht nur dem Zufall gekonnt einen Raum, sondern hebt auch jede Unterscheidung von Bildgrund und Malschicht auf. Die gestischen Abstraktionen von Franz Kline, Fritz Winter oder Georges Mathieu gehen mit einer unerhörten Körperlichkeit einher. Die großformatigen Farbfeld-Gemälde von Mark Rothko, Barnett Newman oder Ruprecht Geiger kreieren visuelle Kraftfelder und bündeln kontemplativ-spirituelle Energien. Wenn Clyfford Still, K.O. Götz oder Judit Reigl die Bildoberfläche mit Spachteln und anderen Werkzeugen strukturieren, öffnen sie den malerischen Raum für eine ungewöhnliche Dynamik. Die Kratzer, Kerben oder durch Feuer malträtierten Oberflächen in den Arbeiten von Wols, Otto Piene oder Antoni Tàpies rufen Assoziationen zu körperlichen Wunden hervor. Und die luftig-bewegten Arbeiten von Joan Mitchell, Sam Francis oder Norman Bluhm wirken wie verblüffende Dekonstruktionen Monetscher Landschaften. Auch wenn die Abstraktion jener Epoche häufig als eine „Universalsprache“ verstanden wurde, zeigt sich hier, dass ihre Ausdrucksweisen so vielseitig waren, dass man kaum von einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen visuellen Grammatik sprechen kann. Doch die Bildsprachen der einzelnen Künstlerinnen und Künstler vereint etwas Großes: Ein Individuum stellt sich hier in seiner Ganzheit der Leinwand und macht eine visuelle Bühne der Gefühle aus ihr.

Angesichts dieses weitläufigen Ausdrucks großer individueller Freiheit in diesen Werken erscheint es aus heutiger Sicht fast schon absurd, wie stark die Kunstrichtungen der Nachkriegsabstraktion weltanschaulichen und politischen Vereinnahmungen ausgesetzt waren. Während der Abstrakte Expressionismus von vielen zunächst in einer rein europäischen Tradition verortet wurde, sollte er später zum Symbol für den Sieg New Yorks als Kunsthauptstadt gegenüber dem Paris des alten Europas stilisiert werden. Viele westdeutsche Künstlerinnen und Künstler verstanden das Informel als Mittel für die Befreiung von einer politischen Vergangenheit, sogar für eine Tilgung der Zeit des Nationalsozialismus. Andere betrachteten die Strömung als einen Schutzwall gegen die sozialistisch-realistische Kunst aus dem Osten des Landes. In Frankreich und später auch in Amerika wurden beide malerischen Bewegungen als Ausdruck der Philosophie des Existentialismus von Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir interpretiert. Manche Kritikerinnen und Kritiker behaupteten, die Nachkriegsabstraktion werde von der Rückkehr zu einem wie auch immer gearteten „Urzustand“ getragen, andere sahen in ihr das Produkt einer rein „akademischen“ Malerei. Wieder andere konnten in ihr nichts als eine Begleiterscheinung der amerikanischen Konsumkultur und eine Propagandawaffe Kalter Krieger oder gar eine „barbarische“ Bedrohung der europäischen Zivilisation erkennen.

„Die Form der Freiheit“ macht deutlich, dass sich die Werke des Abstrakten Expressionismus und des Informel, wenn man genau hinschaute, schon immer gegen derartige Vereinnahmungen wehrten. Die meisten dieser Interpretationen werden aus heutiger Sicht durch nichts in diesen Bildern gerechtfertigt. Die Potsdamer Ausstellung stellt außerdem klar, wie viel die Strömungen miteinander verband und mit welcher Selbstverständlichkeit der durch den Krieg unterbrochene internationale Austausch auf beiden Seiten des Atlantiks wieder aufgenommen wurde. Nicht nur durch zahlreichen institutionelle Ausstellungen in Europa und Amerika, von der Venedig Biennale bis zu Überblicksschauen in New York oder Chicago, sondern auch auf dem Kunstmarkt, in den akademischen Diskursen der Zeit und natürlich in zahlreichen persönlichen Begegnungen zwischen den Künstlerinnen und Künstlern. Einige von ihnen, Joan Mitchell oder Sam Francis etwa, waren sogar sowohl in Paris als auch in den Vereinigten Staaten zuhause.

Doch bei all den verbindenden Elementen geraten auch immer wieder die Unterschiede zwischen den beiden großen Strömungen in den Blick. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Werke der europäischen Nachkriegsabstraktion schwerer wögen, dass sie von einer gewissen Dunkelheit bestimmt sind, manchmal sogar von Zwanghaftigkeit und Aggression. Vielleicht spürt man in einigen von ihnen das Trauma des Zweiten Weltkriegs stärker, vielleicht konnte es so etwas wie Leichtigkeit häufig nicht geben, wenn man direkt von den Auswirkungen der Kriegshandlungen betroffen oder gar in sie involviert war. Von vielen der ausgestellten amerikanischen Arbeiten jener Zeit wird man sensorisch geradezu überwältigt. Viele der europäischen Werke scheinen einen in die Magengegend zu treffen – gerade heute, da Europa erneut von einem grausamen Krieg heimgesucht wird.

Es überrascht daher vielleicht gar nicht, dass eine der schönsten Arbeiten der Ausstellung von einem amerikanischen Maler stammt. In „Mein Muschel-Engel“ von Sam Francis aus dem Jahr 1986 hat die Hoffnung eindeutig gesiegt. Der Zweite Weltkrieg und seine Traumata liegen in der Ferne. Die leuchtende Komposition setzt ihre strahlenden lebensbejahenden Farben in lose miteinander verbundenen Flecken, Pfützen, Wirbeln und Spritzern auf dem Weiß einer stellenweise unberührten Leinwand in Szene. Es lässt an sommerliche Felder und Wiesen denken, an ein strahlendes Meer. Bei aller malerischen Brillanz ist es von einer ekstatischen, fast kindlich wirkenden Impulsivität geprägt. Man könnte fast gänzlich unbeschwert ins Schwärmen geraten, wäre da nicht dieses düstere, unheilvolle Blau, das immer wieder durch das Bild bricht – ein Preussischblau, das von Vergangenem erzählt und daran erinnert, wie lang und wie beschwerlich der Weg zur Hoffnung war.

„Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945“ im Museum Barberini in Potsdam läuft noch bis 25. September 2022

https://www.museum-barberini.de/de/ausstellungen/4785/die-form-der-freiheit-internationale-abstraktion-nach-1945 (Öffnet in neuem Fenster)

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