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Die Zeit der Verluste

Über die Arbeit an einem neuen Buch, unsere Fähigkeit und Unfähigkeit zu trauern, das Schreiben und den Tanz mit der Verdrängung

Dear all,

vielleicht fällt das Schreiben einigen wenigen, überaus glücklichen Menschen leicht. Für mich gibt es wenig Schwereres. Aber womöglich sollte es auch schwer sein, zumindest wenn man es ernst nimmt und sich nicht damit zufriedengeben möchte, Dinge zu sagen, die so schon viele Male gesagt worden sind. Dass man von zuhause aus oder in einem Café schreiben kann und dass man dafür nichts braucht als einen Laptop oder auch nur einen Stift und etwas Papier, sollte uns nicht glauben lassen, dass diese Tätigkeit uns nicht viel, manchmal fast alles abverlangt. Ich persönlich finde es einfacher, ein paar Brote zu backen, ein großes Dinner vorzubereiten, die Fenster meiner Wohnung zu putzen oder einer Freundin dabei zu helfen, ein Stück Garten umzugraben, als mich meinen Texten zu widmen. 

Wie viele von uns spüre ich, dass sich in den vergangenen Jahren etwas unwiederbringlich verändert hat – etwas, von dem ich nie gedacht hatte, dass es sich verändern könnte. Wie gehen wir mit dieser Entwicklung um? Wie können wir überhaupt damit umgehen?

Das neue Buch, an dem ich arbeite, dreht sich um die Menschen, die ich verloren habe, und um jene Dinge, die wir in den vergangenen Jahren alle verloren haben. Es wird „Die Zeit der Verluste“ heißen und Ende des Jahres erscheinen. Als ich die Arbeit daran begann, hatte ich wie bei meinen anderen Büchern den Eindruck, dass ich gerade dabei bin, mich einem Thema zu stellen, das im Halbdunkel liegt und mit dem ich mich lange nicht auseinandersetzen wollte. Wie viele von uns spüre ich, dass sich in den vergangenen Jahren etwas unwiederbringlich verändert hat – etwas, von dem ich nie gedacht hatte, dass es sich verändern könnte. Wie gehen wir mit dieser Entwicklung um? Wie können wir überhaupt damit umgehen? Dieses Gefühl wurde und wird von der Trauer um meinen Vater, über die ich an dieser Stelle schon geschrieben habe, noch verstärkt.

Davon ausgehend erzähle ich in „Die Zeit der Verluste“ von einem Tag im nebelumhüllten Venedig und nehme sowohl die Gegenwart dieses Tages als auch die vergangenen Jahre und zukünftigen Monate in den Blick. Dabei versuche ich etwas zu durchdringen, das uns oft überfordert und an unsere Grenzen bringt: Unsere private und gesellschaftliche Trauer. Die Trauer, die uns im Leben alle irgendwann einholt. Unsere Fähigkeit und Unfähigkeit zu trauern.

Beim Schreiben öffne ich Türen in meinem Inneren, die ich vielleicht schon einmal geöffnet, danach aber mit Nachdruck wieder geschlossen habe. Ich erlebe Phasen des Trauerns neu, die ich glaubte, hinter mir gelassen zu haben. Hinzu kommen neue, unvorhergesehene Phasen, Gedanken und Gefühle, mit denen ich nicht gerechnet hätte.

In gewisser Weise habe ich schon vor knapp zwei Jahren mit der Arbeit an diesem Buch begonnen, als deutlich wurde, wie krank mein Vater war. Ich habe sie begonnen, ohne es zu wissen. In dieser Zeit habe ich viele Bücher zu diesen und verwandten Themen gelesen und mit einigen Menschen darüber gesprochen. Und immer wieder hatte ich das Gefühl, auf einen inneren Widerstand zu treffen, den es mir kaum zu überwinden gelang.

Dieses Gefühl habe ich auch beim Schreiben des Buches. Es geht so viel langsamer voran als bei einigen anderen Büchern. Etwas in mir möchte vor dem Thema fliehen, möchte in die Sonne, in den Park oder am besten gleich ans Meer und alles vergessen, auch wenn das nicht geht, vor allem letzteres. Beim Schreiben öffne ich Türen in meinem Inneren, die ich vielleicht schon einmal geöffnet, danach aber mit Nachdruck wieder geschlossen habe. Ich erlebe Phasen des Trauerns neu, die ich glaubte, hinter mir gelassen zu haben. Hinzu kommen neue, unvorhergesehene Phasen, Gedanken und Gefühle, mit denen ich nicht gerechnet hätte. An manchen Tagen schaffe ich ein paar Absätze, an anderen ein paar Seiten, aber immer möchte ich danach mit niemandem sprechen und nur stumm auf meinem Sofa liegen. 

„Die Zeit der Verluste“ soll kein trauriges Buch werden. Ich möchte nicht, dass man ihm anmerkt, wie schwer seine Entstehung ist. Es soll ein Buch sein, das nachhaltig Hoffnung schenkt und Trost spendet. Ich wünsche mir so sehr, dass die Lesenden beim Lesen auch für sich selbst etwas durcharbeiten werden, egal, ob sie gerade um jemanden trauern oder nicht.

Vielleicht kennen einige von euch diese Situation und vielleicht kennt ihr sie auch, wenn ihr nicht schreibt, sondern anderen Tätigkeiten nachgeht. Der Tanz mit der Verdrängung ist, wenn wir uns auf ihn einlassen, einer der herausforderndsten Tänze, die es gibt. „Die Zeit der Verluste“ soll kein trauriges Buch werden. Ich möchte nicht, dass man ihm anmerkt, wie schwer seine Entstehung ist. Es soll ein Buch sein, das nachhaltig Hoffnung schenkt und Trost spendet. Ich wünsche mir so sehr, dass die Lesenden beim Lesen auch für sich selbst etwas durcharbeiten werden, egal, ob sie gerade um jemanden trauern oder nicht. Denn, wie gesagt, private wie gesellschaftliche Verluste holen uns alle irgendwann ein. Und vielleicht fällt ihnen danach etwas, das unfassbar schwer ist, nicht mehr ganz so schwer.      

Alles Liebe,

Daniel 

„Die Zeit der Verluste“ erscheint am 20. November bei Hanser Berlin und ist auch schon auf allen gängigen Plattformen vorstellbar. Das Cover-Motiv stammt vom Künstler Navot Miller. In den nächsten Monaten werdet ihr hier zwei exklusive Auszüge vorab daraus lesen können.

 

 

  

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