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Leseprobe aus “Die Zeit der Verluste”

Am 20.11. erscheint das neue Buch. Es dreht sich um diese seltsame Zeit, in der wir leben, um private und um kollektive Trauer. Anbei eine erste Leseprobe

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste, Hanser Berlin 2023

DANIEL SCHREIBER

DIE ZEIT DER VERLUSTE

Hanser Berlin

1. Auflage 2023

ISBN 978-3-446-27800-4

© 2023 Hanser Berlin in der

Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

Umschlag: Anzinger & Rasp, München

Motiv: © Navot Miller

DIE ZEIT

DER

VERLUSTE

I

 

Das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen die Mauer schlagen. Entfernte Möwenschreie. Motorenlaute, die erst an- und dann wieder abschwellen. Als ich zum ersten Mal die Augen öffne, ist das Licht, das durch das Fenster fällt, noch gedämpft. Ich möchte weiterschlafen. Noch einmal versinken in das Bett, dessen Geruch mich an das Waschmittel meiner Kindheit erinnert. Noch einmal versinken in das Vergessen. Schon halb wach, glaube ich nicht, dass mir das gelingen wird. Doch als ich die Augen erneut öffne, ist die Dämmerung bereits dem Licht des Tages gewichen. Die Laute des Wassers haben sich verstetigt, ebenso wie das Schreien der Möwen, die Geräusche der Vaporettos, der Wassertaxis und der Boote, die die Supermärkte beliefern oder den Müll abfahren. Vereinzelte Stimmen rufen sich etwas auf Italienisch zu. Ich versuche, mich nicht zu bewegen, als könnte ich so noch kurz die Zeit anhalten.

Mich überkommt das Gefühl einer gewissen Dankbarkeit. Ich muss mich nicht fragen, in welcher Stadt und in welchem Hotel ich mich befinde. Und fühle mich ausgeruht. Die Nacht zuvor haben mich die Motorengeräusche der Boote wach gehalten, was mich nicht überraschte, denn in den bewegten anderthalb Jahren, die hinter mir liegen, ist mir auch der Schlaf abhandengekommen. Jener verlässliche Schlaf, den man als gegeben hinnimmt, bis er ausbleibt. Ich brauchte lange, um einzuschlafen, und wachte mitten in der Nacht auf. Selbst wenn es mir gelang, länger zu schlafen, begann ich den Tag mit dem Gefühl schwerer Müdigkeit.

Ich überlege, wie lange es her ist, dass ich mich so entspannt gefühlt habe wie an diesem Morgen. Und erschrecke. Erst jetzt fällt mir ein, woran ich beim Aufwachen seit langem als Erstes denke. Doch womöglich ist es ein gutes Zeichen, dass mich dieser Gedanke später als gewöhnlich findet.

 

Während ich mich in der Foresteria, dem Gästezimmer des Palazzo, umschaue, stelle ich fest, wie bekannt sie mir schon vorkommt, obwohl ich erst seit ein paar Tagen hier wohne. Die karierte Bettwäsche, die altmodischen Volants, das an ein Bullauge erinnernde ovale Fenster, der dunkle Schreibtisch mit seiner turmalingrünen Muranoglas-Lampe – alles umgibt eine Aura von Verlässlichkeit. Vielleicht liegt das an den reinlichen Gerüchen des Zimmers, an den unverwechselbaren Geräuschen der Stadt. Vielleicht daran, dass der Aufenthalt hier, wie ich hoffe, das Ende einer langen Zeit der Ruhelosigkeit einleitet.

Anderthalb Jahre lang habe ich mich verausgabt. Fast jede Woche war ich für Lesungen und Veranstaltungen auf Reisen. Zugleich ließ ich vieles bleiben, was für mein inneres Gleichgewicht notwendig war. Ich hörte auf, jene Menschen zu sehen, die mir nahestanden, ließ persönliche Nachrichten unbeantwortet, auch die meiner besten Freundinnen und Freunde und meiner Familie. Ich achtete immer weniger darauf, was ich aß und wie ich meinen Körper behandelte. Bezichtigte mich in Momenten der Schwäche des Selbstmitleids, um meine Disziplin zu stärken. Ich hatte zunehmend das Gefühl, mir, meiner Gefühlswelt und meinem Denken fremd zu werden. Meine Erschöpfung wurde zu einem Dauerzustand. In den Monaten zuvor war diese Phase kulminiert. Deswegen hatte ich fast alle Termine abgesagt und mich von den sozialen Medien zurückgezogen, wo ich nur noch ab und zu ein Lebenszeichen von mir gab. Mit dem Aufenthalt in Venedig sollte eine neue Phase beginnen.

Wenn ich ein Grundgefühl für die zurückliegende Zeit benennen müsste, dann das des Verlorenseins. Ich habe den Eindruck, in einer Welt zu leben, die mir bekannt vorkommt, die immer noch nach vielen der mir vertrauten Regeln funktioniert, aber dennoch durch eine andere, eine unheimliche Version ihrer selbst ersetzt wurde. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber reden möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu, nur um sich dann, traurig den Kopf schüttelnd, wieder von mir zu verabschieden.

 

Wie die Autorin Kathryn Schulz in ihrem Buch Lost & Found feststellt, ist Verlust eine sonderbare Kategorie, die alles Mögliche einschließen kann, auch Dinge, die nichts miteinander zu tun haben: das Große und das Kleine, den Alltag und die Weltgeschichte. Wir verlieren Schlüssel, Telefone oder unsere Lieblingskleidungsstücke, aber auch unser Herz, unseren Verstand oder unseren Glauben an die Welt. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir mit den daraus resultierenden Gefühlen nur schlecht umgehen können. Dass wir der Verstörung nicht gewachsen sind, die mit diesen Verlusten und der von ihnen verursachten Trauer einhergeht.

Trauer gehört für uns alle zum Leben, egal, welche biografischen Zufälle dazu führen, dass wir mal früher, mal später mit ihr konfrontiert werden. Selbst wenn wir jene schweren Verluste, die unser Dasein nachhaltig erschüttern und unseren Alltag aus dem Gleis werfen, noch nicht erlebt haben – den Tod eines Partners oder einer Partnerin etwa, den eines Eltern- oder Geschwisterteils oder gar den eines Kindes –, haben wir alle Dinge verloren, die uns viel, manchmal sehr viel bedeuten. Wir haben Trennungen durchlebt. Haben von Menschen Abschied genommen, auch wenn wir es nicht wollten. Mussten uns von Lebensträumen lossagen. Nach solchen Verlusten scheine das frühere Leben immer noch irgendwo zu existieren, schreibt Hilary Mantel in einem Text über Trauer, doch man finde nicht mehr zu ihm zurück.

Wir glauben, dass die Farbe des Trauerns Schwarz ist, das alles Licht in sich aufnehmende, alles auslöschende Schwarz. Und manchmal fühlt sich Trauer auch so an: wie der Nachklang einer Implosion, die im Inneren nichts als Trümmer hinterlässt. Doch für gewöhnlich läuft sie anders ab, für gewöhnlich wünscht man sich nur, mit einem so eindeutigen Gefühl konfrontiert zu werden, mit einer so absoluten Farbe und ihrem Versprechen der Katharsis. Die wahre Farbe der Trauer findet sich in den verwirrenden Abstufungen des Graus. Eines Graus des Unglaubens, der Erschöpfung, der Taubheit. Eines stillen, nichtkathartischen Graus, das sich scheinbar unwiderruflich über das Leben legt.

 

Ich lausche weiter den Wellen, Booten und Möwen der Stadt, den vereinzelten Stimmen. Noch liegend schaue ich durch das kleine Fenster auf das Wasser des Rio di San Polo, der ein paar Meter weiter in den Canal Grande mündet und nicht einmal durch einen Gehweg vom Centro Tedesco di Studi Veneziani im Palazzo Barbarigo getrennt ist, wo ich mich für ein paar Tage aufhalte. Nicht nur der Waschmittelgeruch der Bettwäsche, sondern die Einrichtung und das kleine Gästezimmer selbst scheinen wie selbstverständlich aus einer anderen Zeit zu stammen. Ich greife nach dem Telefon und schalte den Alarm aus, der gleich klingeln wird. Schließe noch einmal kurz die Augen.

Ich bin mir nicht sicher, wann die Trauer, gegen die ich mich wehre und die ich dennoch immer spüre, begonnen hat. Ich weiß nur, dass sie mich schon lange begleitet. Ich könnte ihren Beginn an jenem Tag verorten, als ich im Begriff war, eine Bühne in Heidelberg zu betreten, und meine Mutter anrief, die am Abend eigentlich nie anrief. Ich schaute auf das Telefon und auf die vielen Menschen, die in dem Saal versammelt waren, schaltete das Gerät aus, erklomm die Stufen zur Bühne, setzte mich auf den Stuhl neben der Moderatorin und entschied mich, die in mir aufkommende Panik zu unterdrücken und in den Saal zu lächeln. Ich wusste, was der Anruf bedeutete. Ein Teil von mir erwartete ihn seit Monaten. Mein Vater war schon lange krank gewesen. Dennoch hatte ich auf irrationale Weise an der Idee festgehalten, dass dieser Moment nicht eintreten würde. Ich wollte nicht, dass man mir anmerkte, was geschehen war. Ich absolvierte die Veranstaltung, beantwortete die Fragen der Moderatorin und der Zuschauenden und signierte anschließend meine Bücher. Danach ging ich mit den Veranstaltenden etwas essen. Ich floh so lange vor der Nachricht, bis ich am späten Abend wieder im Hotel war. Ich packte schon meine Sachen, um mit dem frühesten Zug zu meiner Mutter an die Mecklenburgische Seenplatte zu fahren, als ich sie zurückrief und von ihr hörte, dass mein Vater gestorben war.

Die Trauer um ihn begleitet mich jeden Tag. Zugleich habe ich das Gefühl, so viel mehr verloren zu haben als meinen Vater. Ich habe das Gefühl, dass sich sein Tod in eine Vielzahl von kleinen und großen Tragödien einreiht, dass sich mein privater Verlust mit den vielen kollektiven Verlusten vermengt, die wir in den vergangenen Jahren erfahren haben. Von ihnen potenziert wird. Manchmal bin ich mir nicht sicher, um wen oder um was ich trauere, ob ich das vermeintlich Kleine und das vermeintlich Große, meinen privaten Alltag und die Weltgeschichte, noch trennen kann.

Ein paar Tage vor meiner Reise unterhielt ich mich mit einer Freundin darüber. Gemeinsam überlegten wir, wann wir zum ersten Mal wirklich verstanden hatten, dass etwas ein Ende fand. Dass etwas, von dem wir dachten, dass es lange so bleiben würde, tatsächlich verlorengegangen war. Wir nahmen dieses Gefühl des Verlusts beide als akut wahr.

Spätestens seit den Ereignissen der Pandemie und des mit atomaren Drohungen einhergehenden russischen Feldzugs in der Ukraine hatten viele von uns realisiert, dass eine zuletzt fragiler werdende, doch immer noch greifbare Ära der Stabilität vorbei war. In Büchern, Artikeln und den Fernsehnachrichten wurde so anhaltend über eine Zeitenwende und manchmal sogar eine Apokalypse gesprochen, dass ich eine Abneigung gegen diese Worte entwickelte, gegen ihre Hülsenhaftigkeit, die mehr verdeckte als beschrieb.

Die Freundin hatte dieses Gefühl des Verlusts zum ersten Mal während des Sommers 2015 empfunden, als sie begann, geflüchteten Menschen zu helfen, und aufgrund der ihnen entgegenschlagenden Anfeindungen verstand, dass in unserer Welt etwas Grundlegendes ins Wanken geraten war. Davon angeregt, erzählte ich ihr von einem Partygespräch ein Jahr zuvor, als eine in Deutschland lebende russische Frau die kriegerische Eroberung der Krim trotz des Völkerrechtsbruchs zynisch als ein Recht ihres Landes verteidigt hatte. Doch eigentlich, meinten meine Freundin und ich, hätten wir schon viel früher begreifen müssen, dass sich etwas unaufhaltsam verschob. Wie lange wussten wir schon vom voranschreitenden Klimawandel, seinen omnipräsenten Extremwetterlagen, von der menschlich verursachten Erderwärmung, die bereits in der Spanne unseres Lebens so weit fortgeschritten war wie zum letzten Mal in einem geologischen Zeitraum mehrerer hunderttausend Jahre. Von den Diktatoren neuen Schlages, die auch in demokratischen Ländern die Kontrolle an sich rissen und die Uhr in eine Zeit des Totalitarismus, der Fremdenfeindlichkeit, der Misogynie und offenen Homophobie zurückdrehten. Von der plötzlichen Salonfähigkeit rechtsextremen Hasses, unter anderem in der ältesten Demokratie der Welt und in jenem Land, unserem Land, das sich aufgrund seiner Geschichte geschworen hatte, besonders wachsam gegenüber dieser Form des Hasses zu sein. Wir hätten es während der Finanzkrise 2008 ahnen müssen. Und womöglich auch schon 2001 nach den Terroranschlägen in New York und den ihnen folgenden US-amerikanischen Angriffskriegen in Afghanistan und im Irak. Und eigentlich hatte sie es gewusst, sagte die Freundin, sie wollte es nur nicht wahrhaben. Ich stimmte ihr zu.

Das Gespräch geht mir wieder durch den Kopf. Ich merke, dass ich noch nicht aufstehen möchte. Wir waren so damit beschäftigt, die Chronologie unserer kollektiven Verluste zu rekonstruieren, dass wir gar nicht dazu kamen, uns darüber auszutauschen, was wir konkret verloren hatten. Handelte es sich um ein Gefühl der Sicherheit? Um Gewissheiten? Ein gemeinschaftliches Selbstverständnis? Vielleicht sind die Verluste, die selbst die Zuversichtlichsten unter uns spüren, zu amorph und zu bedrohlich, um nicht schon ihrer Benennung instinktiv auszuweichen. Wie lässt sich der Erosion gesellschaftlichen Zusammenhalts ins Auge blicken? Wie einer schwindenden Aussicht auf eine freundliche Zukunft?

Selbst wenn wir versuchen, Worte dafür zu finden, stoßen wir auf einen inneren Widerstand, der uns davon abhält, uns die Tragweite unserer Verluste bewusstzumachen. Noch weniger kommen wir dazu, uns jener psychischen Arbeit zu stellen, die die für den Umgang mit ihnen notwendig ist. Schließlich betrauern wir nicht nur die Verluste von Menschen, die uns viel bedeuteten. Wir trauern um alles, was einmal eine zentrale Rolle in unserem Leben gespielt hat, um alles, was einmal beeinflusst hat, wie wir uns selbst sehen und sehen wollen, worauf wir hoffen und wonach wir uns sehnen. Wir trauern um alles, so der Philosoph Michel Cholbi, dessen Verlust unsere »praktische Identität« betrifft, unser Weltverständnis, die Grundlagen dessen, welchen Wert wir unserem Leben beimessen. Doch vielleicht haben wir, verführt vom Gefühl jener vermeintlichen Stabilität, verlernt, wie es geht, dieses Trauern. Möglicherweise waren wir dazu auch noch nie in der Lage.

 

Ich überfliege die Textnachrichten und E-Mails, die über Nacht hereingekommen sind, schaue mir die Eilmeldungen der Zeitungen an, die ich abonniert habe. Ich könnte den Beginn meiner anhaltenden Verstörung auch auf ein Telefonat mit meinem Vater zurückdatieren, auf unser letztes Telefonat. Er hatte Geburtstag. Seit seiner Erkrankung hatten meine Eltern niemanden sehen wollen. Zu groß war ihre Angst, dass er sich mit dem Virus anstecken könnte, das die Welt in Atem hielt und das sein Leben mit Sicherheit weiter verkürzen würde. Wenn sie sich darauf einließen, Besuchen unter bestimmten Bedingungen wie medizinischen Tests zuzustimmen, sagten sie in letzter Minute ab. Sie hatten selbst das gemeinsame Weihnachtsfest abgesagt, von dem wir wussten, dass es das letzte meines Vaters sein würde. Sie kämpften um jeden weiteren Tag, um jede weitere Stunde.

Ich konnte sie verstehen und zugleich auch nicht, wollte, dass alles anders war. Ich war dazu übergegangen, mir, jedes Mal wenn ich mit meinem Vater sprach, in Erinnerung zu rufen, dass es unser letztes Gespräch sein könnte. Was dafür sorgte, dass wir besonders innige Telefonate führten, bei denen ich an mich halten musste, um nicht in Tränen auszubrechen, was mir gerade zum Ende nicht immer gelang. Und mehr noch als unsere Gespräche selbst waren es diese Momente, in denen ich meine Tränen unterdrückte und ihm zum Abschied selbst die Worte im Hals stecken blieben, die das zum Ausdruck brachten, was ich ihm sagen wollte, aber nicht richtig sagen konnte: wie sehr ich ihn vermissen würde.

Bei unserem letzten Telefonat sagte er unvermittelt, dass ich und meine beiden noch lebenden Geschwister ihn jetzt besuchen könnten. Ich spürte mit einer Art Grauen, dass er es dieses Mal so meinte, dass er entgegen allen Befürchtungen wollte, dass wir ihn besuchten, dass er meine Mutter dieses Mal nicht im letzten Moment vorschicken würde, um abzusagen. Ich wollte nicht wahrhaben, was er mir eigentlich mitteilte: dass er das Gefühl hatte, in der letzten Phase des Sterbens angekommen zu sein. Unser Gespräch endete auf die vertraute Weise. Im Hals feststeckende Tränen. Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich auf meine Terrasse und zündete mir eine Zigarette an, dann begann ich, den Koffer für eine meiner Lesungen zu packen. Auf jeder Station der Lesereise, und auch wenn ich zwei oder drei Tage lang zuhause in Berlin war, sagte ich mir, dass ich den Besuch jetzt planen müsse. Dass ich es nicht tat, quälte mich.

Am Morgen vor meiner Lesung in Heidelberg holte mich eine Freundin aus Darmstadt ab, um mir Schwetzingen, das dortige Schloss und dessen bekannte Gartenanlage zu zeigen. Tulpenrabatten reihten sich aneinander, so weit das Auge reichte. Alles war in ein helles Grün getaucht, riesige Fliederbüsche warteten darauf, dass ihre Blütenknospen aufbrachen. Es war der Tag, an dem mir klar wurde, dass nun wirklich der Frühling begonnen hatte, der letzte Frühling meines Vaters, und ein Gefühl unterschwelliger, irrationaler Wut überkam mich, auf die Welt, in der das geschah, aber vor allem auf mich, weil ich meinen letzten Besuch noch nicht angetreten hatte. Weil ich fast drei Wochen hatte verstreichen lassen, ohne mich auf den Weg zu machen. Die Stunden, in denen ich begriff, dass es Frühling geworden war, waren die Stunden, in denen mein Vater starb.

 

Auch jetzt geht mir unser letztes Telefonat durch den Kopf. Seither habe ich mich mit vielen Menschen über Trauer unterhalten, und sie alle haben ihre eigene Geschichte, gehen mit ihrer eigenen Version des Schmerzes durch den Alltag, versuchen sich in ihren eigenen Erklärungen, übersehen ihre eigenen blinden Flecke. Trotz unzähliger Bücher und Podcasts, trotz einschlägiger Forschungen und populärpsychologischer Beiträge sind viele von uns nur sehr schlecht in der Lage, sich ihre private Trauer einzugestehen, sie anzunehmen. Womöglich weil jede Trauer so individuell ist, dass sie sich auch hilfreichen Kategorisierungsversuchen gegenüber als widerständig erweist. Womöglich weil jede Trauer auf einem Paradox beruht – darauf, dass wir etwas einsehen müssen, das wir nicht einsehen können. Darauf, dass Trauern heißt, sich das Herz brechen zu lassen, auch wenn uns all unsere Instinkte genau davon abhalten.  

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