Welche Folgen es hat, dass du dich ständig falsch erinnerst
Du liest Das Leben des Brain – was du über dein Gehirn wissen solltest. Heute: Warum du manchen Zeugenaussagen seeehr skeptisch gegenüber sein solltest.
Unser Gehirn ist wirklich gut darin, sich Dinge vorzustellen. So gut, dass es manchmal denkt, diese Dinge seien wirklich passiert. Die Geschichte muss nur plausibel genug sein. In den letzten beiden Ausgaben von Das Leben des Brain ging es um Dr. Julia Shaw und darum, wie sie Versuchspersonen davon überzeugt, sich an Verbrechen zu erinnern, die sie nie begangen haben. Mit welchen acht Schritten sie das macht, könnt ihr hier nochmal nachlesen (Öffnet in neuem Fenster).
Heute steigen wir nochmal tiefer ein mit der Frage, welche Folgen es eigentlich hat, dass unsere Erinnerungen unzuverlässiger sind als Kinder, die "gleich" ihr Zimmer aufräumen wollen.
Kurzer Deep Dive in die Erinnerung
Der Neuropsychologe Martin A. Conway schlägt vor, die Genauigkeit von Erinnerungen nach zwei Kriterien zu bewerten: nach Korrespondenz und nach Kohärenz. Die Korrespondenz gibt an, wie nah die Erinnerung an dem tatsächlichen Ereignis ist (Fakten, Fakten, Fakten). Die Kohärenz gibt an, wie gut die Erinnerung zu unseren anderen Erinnerungen passt – also: wie gut sie zu dem Bild passt, das wir von uns selbst haben. Passt ein Ereignis nicht in unser aktuelles Selbstbild, kann es gut sein, dass wir die Erinnerung im Nachhinein verzerren.
Als ich beim Onlinemagazin Krautreporter einen Artikel über falsche Erinnerungen schrieb, kommentierte Leserin Ina:
„Ich habe vor kurzem gegenüber einer Freundin behauptet – in der festen Überzeugung, dass die Aussage zutrifft –, dass ich wahrscheinlich infolge meiner regelmäßigen sportlichen Aktivitäten (denen ich tatsächlich konsequent nachgehe) in den vergangenen zwölf Monaten nie krank gewesen sei. Sie wies mich darauf hin, dass das so nicht korrekt ist. Ihr Einwand war berechtigt. Ich habe einmal für zwei Tage und ein weiteres Mal für drei Tage mit Fieber und anderen Erkältungssymptomen im Bett gelegen. Als irritierend empfinde ich, dass ich keine für mich erkennbare Veranlassung hatte, von der Wahrheit abzuweichen. Es war auch gewiss nicht meine Absicht, meine Freundin bewusst zu belügen. Ich war von der Richtigkeit meiner Aussage überzeugt – sie war trotzdem definitiv falsch.“
Dass unser Gehirn es nicht so mit akkuraten Erinnerungen hat, kann heftige Folgen haben. Zum Beispiel bei Gerichtsverfahren. Oft sind die Erinnerungen von Zeug:innen entscheidend für den Ausgang eines Prozesses. In einem Experiment etwa sollten sich die Teilnehmer:innen an einen Täter erinnern, der neben anderen Verdächtigen vor einer Wand stand.
Die Versuchspersonen teilte man in zwei Gruppen auf: Eine Gruppe sollte ihre Erinnerungen an die beobachtete Tat für sich behalten und lediglich den Täter identifizieren. 61 Prozent überführten so den Täter (juchu!). Die zweite Gruppe sollte vor der Identifikation eine Beschreibung des Täters liefern, sie sollte sein Aussehen also in Worte fassen. Nur 27 Prozent überführten bei der anschließenden Identifikation den Täter.
Was war da los?
Durch die Beschreibung hatte sich die zweite Gruppe nur die Merkmale eingeprägt, die man leicht in Worte fassen kann. Die Feinheiten der ursprünglichen Erinnerungen der Teilnehmer:innen wurden von ihren Schilderungen und Beschreibungen überlagert. Denn: Wenn wir etwas Gesehenes beschreiben, verändern wir unsere Erinnerung daran. Wie eine Karteikarten, die wir aus einem Stapel herausziehen und anstatt sie nach dem Lesen direkt zurückzulegen, schmeißen wir sie weg, schreiben eine neue Version auf eine neue Karte und legen sie erst dann wieder zurück – ganz schön fehleranfällig.
Und das gilt nicht nur für Experimente: Die Anwält:innen und Studierenden des amerikanischen Innocence Project (Öffnet in neuem Fenster) decken Justizirrtümer auf, indem die sie DNA-Tests durchführen lassen und so die Unschuld von Verurteilten beweisen. Mindestens 337 Menschen haben sie auf diese Weise in den USA bereits befreit. Im Durchschnitt verbrachten diese Menschen 14 Jahre im Gefängnis, obwohl sie keine Straftat begangen haben. Bei 75 Prozent dieser Fälle kam es zu falscher Identifikation durch: Augenzeugen. Uff.
Sich erinnern heißt Dingen eine Bedeutung geben
Trotz der großen Fragen, die falsche Erinnerungen aufwerfen, gilt: Dass unser Gedächtnis fehleranfällig ist, hilft uns dabei, uns selbst und die Welt besser zu verstehen. Es hilft uns, dem Erlebten einen Sinn und Dingen eine Bedeutung zu geben, auch wenn sie eigentlich diese Bedeutung nicht haben.
Forscher:innen gehen davon aus, dass falsche Erinnerungen in erster Linie das Nebenprodukt eines sich ständig verändernden Gehirns sind. Wir passen uns unserer Umgebung an, denn diese verändert sich dauernd. Wir können lernen, schlussfolgern, uns Dinge vorstellen, Ereignisse verbinden, ohne uns dabei selbst zu verlieren. Das ist alles ziemlich mega. Wenn falsche Erinnerungen der Preis sind – so be it.
Trotzdem sollte uns bewusst sein, wie fehleranfällig unsere Erinnerungen sind. Niemand fasst das so gut zusammen wie die US-Psychologin Elizabeth Loftus in ihrem TED-Talk (Öffnet in neuem Fenster):
„Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia. Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch.“
Echten Brains gebe ich hier jetzt noch drei Tipps, wie sie falsche Erinnerungen vorbeugen können. Willst du lesen? Dann:
Echtes Brain werden! (Öffnet in neuem Fenster)
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