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Wer ist die Chefin im Kopf?

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über freien und nicht so freien Willen.

Manchmal ist die Sache klar. Als ich mit meinen Freund:innen ein Haus für unseren Italienurlaub an der Küste gesucht habe (aus dem ich diesen Newsletter gerade verschicke), haben wir die besten Optionen miteinander verglichen, nach genau den Kriterien, die uns wichtig waren: Bilder, Größe, Anzahl der Schlafzimmer, Pool im Garten, Lage, Anreise. Die Entscheidung war goldrichtig und vor allem: bewusst, nach Abwägung der Argumente.

Bei anderen Entscheidungen ist es offensichtlich, dass wir sie nicht bewusst getroffen haben – sondern unbewusst. Zum Beispiel, als beim Paddle-Tennis (eine neu entdeckte Sportart, die ich sehr empfehlen kann) bei der Annahme des Balls meines Gegenspielers mein Arm in der letzten Sekunde zurückzuckte. Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, warum ich das gemacht hatte. Der Ball flog erst gegen die seitliche Wand und dann auf den Boden. Das verstößt gegen die Regeln. Das Zurückzucken allerdings passierte schnell und ohne, dass ich mich bewusst dafür entschieden hatte. Mein Körper, mein Unterbewusstsein wusste vor meinem Bewusstsein, dass ich den Ball nicht annehmen sollte.

Der Großteil der Entscheidungen, die wir im Alltag treffen, ist aber nicht so eindeutig wie diese beiden Beispiele. Viel öfter als früher angenommen laufen die Entscheidungsprozesse unbewusst ab, auch in Situationen, die wir im Nachhinein als bewusste Entscheidungen wahrnehmen.

Heute geht es um enorm einflussreiche Studien aus der Hirnforschung. Sie haben die Art und Weise, wie wir über uns, unsere Entscheidungen und unseren (freien) Willen nachdenken, nachhaltig verändert. Denn sie berühren Fragen, die folgenreich sein können: Wenn wir unsere Entscheidungen oftmals gar nicht bewusst treffen – können wir dann überhaupt verantwortlich sein für das, was wir tun?

Was wirst du in acht bis zehn Sekunden tun?

Eine der spektakulärsten Studien (Öffnet in neuem Fenster) zur Fragen, welche Rolle eigentlich unser Unterbewusstsein bei Entscheidungen spielt, leitete John-Dylan Haynes, ein deutsch-britischer und einer der derzeit führenden Hirnforscher Deutschlands.

Haynes und sein Team haben die Gehirne ihre Probant:innen mit einem Magnetresonanztomographen (MRT) gemessen. Sie schoben die Teilnehmer:innen in die Röhre und gaben ihnen eine super einfache Aufgabe. Dafür hatten sie sowohl beim linken als auch beim rechten Zeigefinger einen kleinen Knopf. Diese sollten sie drücken, und zwar immer dann, wenn sie den Willen hatten, sie zu drücken.

Sie konnten also komplett frei entscheiden, welchen der Knöpfe sie drücken und wann sie ihn drücken. Sie lagen insgesamt eine Stunde in dem MRT, im Schnitt drückten sie alle 20 Sekunden einen der Knöpfe.

Das aufregende Ergebnis war: Die Wissenschaftler:innen sahen anhand der Gehirnscans, welchen Knopf eine Person drückt – allerdings schon deutlich bevor sie den Knopf gedrückt hat. Ganze acht bis zehn Sekunden bevor eine Person einen der Knöpfe gedrückt hatte, wussten die Wissenschaftler:innen schon, wie sie sich entscheiden würde. Zur Erinnerung: Die Testpersonen waren der festen Überzeugung, sie würden sich frei und selbst für einen der Knöpfe entscheiden.

Die Erkenntnis: Die Aktivität im Gehirn, die in diesem Experiment dem Drücken einer der Knöpfe vorausging, war zuerst im Unterbewusstsein (im Orbifrontalkortex und angrenzenden Regionen im Frontalhirn) sichtbar. Erst anschließend wurde den Personen bewusst, welchen Knopf sie drücken wollten.

Die Folge: Wir halten unseren unterbewussten Willen für unseren bewussten Willen.

Dieses Experiment reihte sich ein in Studien (Öffnet in neuem Fenster) ab den 1960er Jahren, die bereits eine Lücke zwischen den Hirnaktivitäten und dem Bewusstwerden einer Entscheidung gefunden hatten (allerdings eine deutlich kleinere).

Übrigens: Zehn Sekunden sind absurd lang. Stell dir mal vor, du würdest an deinem Schreibtisch sitzen und nach einem Stück Schokolade greifen. Dass du das tun würdest, hätte man acht bis zehn Sekunden vor dem tatsächlichen Greifen schon in deinem Gehirn voraussagen können.

„Der freie Wille ist im neurobiologischen Sinne eine Illusion“

Namenhafte Neurowissenschaftler:innen zogen und ziehen aus solchen Experimente weitreichende Schlüsse.

Robert Sapolsky, der an der Universität Standorf lehrt, schreibt in seinem Buch Behave: The Biology of Humans at Our Best and Worst:

„From the perspective of modern neuroscience, there is no such thing as a unified ‘you’ making decisions. Instead, we are driven by a cascade of subconscious impulses and actions.“

Der deutsche Neurowissenschaftler Wolfgang Singer, bekannt für seine Forschungen zur Synchronisation von Gehirnaktivitäten, sieht die Ergebnisse als Hinweis darauf, dass Entscheidungen durch unbewusste neuronale Prozesse vorbestimmt werden:

„Der freie Wille ist im neurobiologischen Sinne eine Illusion, denn Entscheidungen werden von unbewussten Prozessen getroffen und das Bewusstsein hat nur die Aufgabe, diese nachträglich zu rechtfertigen.“

Es gibt aber auch Wissenschaftler:innen, die die Ergebnisse etwas anders interpretieren. Steven Pinker zum Beispiel schreibt in The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature:

„The fact that some unconscious processes precede conscious decision-making does not mean that the conscious mind is irrelevant. It shapes, monitors, and adjusts our decisions in ways that purely reflexive behavior cannot.“

Wir sind unserem Unterbewusstsein nicht ausgeliefert

Wer liegt nun richtig? Müssen wir uns vom freien Willen verabschieden und können wir vor Gericht fortan stets einfach unserem Unterbewusstsein die Schuld geben und sind damit fein raus?

Der Hirnforscher Stefan Kölsch forscht seit Jahren zum Unterbewusstsein. Er sagt, dass Sapolsky, Singer und Co. fälschlicherweise aus den Experimenten schließen, dass aller bewusste Wille aus dem Unterbewussten entspringe. Dass das nicht der Fall ist, zeige ein weiteres (aus seiner Sicht „brillantes“) Experiment von John-Dylan Haynes.

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