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Träumen ist eine echte Superkraft

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Was es dir bringt, jede Nacht zu träumen.

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Seit ich in diesem Newsletter von den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen übers Träumen schreibe, achte ich deutlich mehr darauf, was in meinen Träumen so passiert. Heute Nacht zum Beispiel habe ich davon geträumt, dass wir in dem Zeltlager, in das ich jedes Jahr mit 150 Kindern und Jugendlichen fahre, aus Versehen etwas Falsches zum Mittagessen gekocht haben. Überall im Zeltlager verteilt lagen haufenweise Fischstäbchen, die wir zubereiten sollten, aber übersehen hatten. Wir mussten sie alle wegschmeißen! Anschließend habe ich davon geträumt, dass ich in eine Dachgeschosswohnung gezogen bin, die keine Wände hatte. Man hätte also jederzeit mehrere Stockwerke herunterfallen können, wenn man nicht aufgepasst hätte. Das Schlimme: Der ganze Wohnblock wackelte permanent!

Wenn du jetzt denkst: Hä?? So ging es mir auch. Träume sind weird. Was soll das eigentlich alles?

In der ersten Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) dieser Mini-Serie ging es darum, welche Hirnregionen wie aktiv sind, wenn wir träumen. In der zweiten (Öffnet in neuem Fenster) haben wir uns angeguckt, ob unsere Träume ihre Wurzeln in der Realität haben. Bevor es nächste Woche um luzides Träumen geht, machen wir heute nochmal einen Schritt zurück: Warum träumen wir überhaupt? Hat das einen Sinn? Hilft uns das bei irgendwas? Und wie!

In seinem Buch „Why We Sleep“ beschreibt der Neurowissenschaftler Matt Walker, dass Träumen mindestens zwei Funktionen hat, die du kennen solltest.

Funktion 1: Träume machen kreativer und lassen uns Probleme besser lösen

Wie ich in einer früheren Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) schon mal beschrieben habe, ist Schlaf wahnsinnig wichtig für unser Gedächtnis. Gerade in den Tiefschlafphasen stärken wir unsere Erinnerungen. Eine Funktion dabei ist die sogenannte Konsolidierung. Einfach gesagt: Aus einem langsamen, bewussten und anstrengenden Prozess wird ein schneller, unbewusster, automatischer. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass uns Klavierstücke irgendwann ganz leicht fallen, wenn wir sie oft genug geübt haben (und oft genug geschlafen haben).

In den letzten Jahren hat man herausgefunden, dass das Gehirn beim Schlafen noch einen Schritt weitergeht. Während wir träumen, in der REM-Phase, nimmt es die neuen Erinnerungen und vermischt sie mit alten Erinnerungen. Es bildet neue Verbindungen zwischen ihnen. Das scheint eine wichtige Grundlage für etwas zu sein, von dem wir alle gern noch mehr hätten: Kreativität.

Es überkommt uns im Schlaf

Welche Auswirkungen hat das? Diese Studie (Öffnet in neuem Fenster) hat mich beeindruckt: Forscher:innen haben Proband:innen einen komplexen Algorithmus beigebracht. Was die Teilnehmer:innen nicht wussten: Es gab einen Shortcut, einen einfachen Rechenschritt, mit dem man die Rechenzeit deutlich reduzieren konnte und zum gleichen Ergebnis kam. Bevor sie ins Bett gegangen sind, hatten nur wenige Teilnehmer:innen diesen Shortcut entdeckt.

Nach dem Schlaf hat sich die Zahl der Teilnehmer:innen, die von ihm wussten, verdoppelt! Teilnehmer:innen, denen der Schlaf verweigert wurde, hatten so einen Eureka-Moment nie. Und: Die Ergebnisse blieben stabil, egal, wann die Teilnehmer:innen die Aufgaben bewältigen sollten. An der zusätzlichen Zeit alleine kann es also nicht gelegen haben. Es lag am Schlaf. Aber lag es auch an den Träumen? Wahrscheinlich schon, wie eine andere Studie nahelegt.

Matt Walker und sein Team haben in einer ihrer Studie (Öffnet in neuem Fenster) etwas gemacht, das unter Schlafforscher:innen beliebt ist: Sie haben Teilnehmer:innen mitten in der Nacht aufgeweckt. Manche holten sie direkt aus ihrer REM-Schlafphase, also aus ihren Träumen, zurück in die Realität. Andere haben sie in anderen Schlafphasen aufgeweckt. Anschließend gaben sie den Teilnehmer:innen Aufgaben, in denen sie verschiedene Probleme lösen sollten.

Das Ergebnis: Diejenigen, die direkt aus ihren Träumen gerissen wurden, schnitten bei den anschließenden Aufgaben 30 Prozent besser ab. Und nicht nur das; es änderte sich auch die Art und Weise, wie die Probleme angegangen wurden. Statt etablierte Lösungswege auszuprobieren, ließen sich die Teilnehmer:innen, die aus ihren Träumen gerissen wurden, auf neue, noch nicht erprobte (manche würden sagen: geniale) Lösungswege ein. Matt Walker sagt: „Für mich klingt das [Träumen] nach der biologischen Basis von Kreativität.“

Es scheint aber nicht nur wichtig zu sein, dass man träumt, sondern auch, wovon. In einer weiteren Studie (Öffnet in neuem Fenster) sollten Teilnehmer:innen ein extrem schweres 3-D-Labyrinth lösen. Diejenigen, die während eines kurzen Schlafes von diesem Labyrinth geträumt hatten, waren anschließend im Schnitt 10 Mal besser als diejenigen, die nicht schliefen oder nicht von dem Labyrinth geträumt hatten.

Funktion 2: Träumen ist wie Therapie, nur ohne die lange Wartezeit

Wir halten fest: Träumen macht uns kreativ und lässt uns Probleme besser lösen. Matt Walker nennt Träumen oft aber auch eine „emotionale erste Hilfe“. Was meint er damit? Vor ein paar Jahren wollten er und sein Team dem Sprichwort nachgehen, dass Zeit alle Wunden heilt.

In unserem Gedächtnis speichern wir nämlich nie nur ein Geschehen ab, wie es passiert ist, sondern immer auch, welche Emotionen wir dabei gespürt haben. Wenn wir uns zum Beispiel daran erinnern, dass unsere Freundin oder Ehefrau uns vor einer Woche verlassen hat, ruft unser Gedächtnis nicht nur die Szene ab, in der sie uns ihren Entschluss mitgeteilt hat, sondern auch, wie wir uns dabei gefühlt haben (schrecklich!). Oft fangen wir dann allein durch die Erinnerung wieder an zu weinen. Erinnern wir uns ein Jahr später an die gleiche Szene, sieht das schon ganz anders aus. Könnten Träume dahinter stecken?

Hoffentlich habe ich von meiner Trennung geträumt

Klingt nach einer schönen Hypothese. Hypothesen wollen aber getestet werden. Eine der frühen Pionier:innen in der Traumforschung war die Neurowissenschaftlerin Rosalind Cartwright. In ihren Studien untersuchte sie unter anderem die Träume von Menschen, die aufgrund einer schwierigen emotionalen Situation (z.B. einer Trennung) in eine Depression gerutscht waren.

Dafür ließ sie (Öffnet in neuem Fenster) Patient:innen aufschreiben, wovon sie geträumt hatten. Wenig überraschend träumten nahezu alle Patient:innen. Aber nur einige von ihnen träumten auch von dem Ereignis, das sie emotional so belastet hat. Dann machte Cartwright etwas Smartes: Sie wartete nach der ersten Studienphase ein Jahr und ließ die Patient:innen wiederkommen. Sie wollte wissen, welche Patient:innen ihre Depressionen und Ängste überwinden konnten und welche weiterhin litten. Und sie fand ein erstaunliches Muster.

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