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Traue niemals deinem Gehirn!

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen übers Gehirn, die du kennen solltest. Heute geht es um eine meiner Lieblingsstudien und darum, was Christian Lindner damit zu tun hat.

Bevor es losgeht: Herzlich Willkommen den fast 700 neuen Leser:innen dieses Newsletters, die seit letzter Woche dazu gekommen sind! Es kostet mich natürlich einige Zeit, Das Leben des Brain zu schreiben. Wenn euch diese Zeit einen Latte Macchiato Wert ist, könnt ihr hier ein echtes Brain werden (Öffnet in neuem Fenster) und meine Arbeit mit vier Euro im Monat unterstützen! Jetzt aber zurück zum Thema.

Du bist jetzt Teil eines Experiments. Deal? Okay, dann lies dir mal kurz diesen Absatz durch. In ihm steckt nämlich eine der mächtigsten Lektionen, die es über die Macht der Sprache gibt: 

Die Kriminalitätsbestie verwüstet zunehmend die Stadt Addison. Die Kriminalitätsrate der einst friedvollen Stadt ist über die letzten Jahre stetig gestiegen. Heute gibt es Kriminalität in allen Wohngegenden. Im Jahr 2004 wurden noch 46.177 Verbrechen gemeldet, im Jahr 2007 waren es bereits 55.000. Der Anstieg von Gewaltverbrechen ist besonders beunruhigend. Im Jahr 2004 gab es 330 Morde in der Stadt, im Jahr 2007 waren es über 500.

Die arme Stadt Addison. Jetzt habe ich zwei Fragen an dich:

  • Was muss die Stadt Addison deiner Meinung nach tun, um die Kriminalität zu verringern?

  • Und welcher Teil des Berichts oben hat deine Entscheidung, was Addison tun sollte, am meisten beeinflusst?

485 US-amerikanischen Student:innen wurden in einem Experiment (Öffnet in neuem Fenster) diese Fragen gestellt. Der Hälfte allerdings wurde zuvor ein anderer Text vorgelegt. Kein grundlegend anderer. Eigentlich wurde nur ein Wort ausgetauscht. Statt um ein Kriminalitätsvirus ging es im Text der anderen Hälfte um ein Kriminalitätsraubtier.

Die Antworten auf die beiden anschließenden Fragen unterschieden sich allerdings sehr, und zwar abhängig davon, welche Metapher im Text für Kriminalität benutzt wurde.

Während die Virus-Gruppe vor allem Prävention und soziale Reformen bevorzugte, entschied sich die Raubtier-Gruppe meistens für härteren Vollzug, bessere Polizeiarbeit und neue Gefängnisse

Damit nicht genug. Als die Forscher:innen die Teilnehmer:innen fragten, warum sie sich so entschieden hätten, antworteten fast alle: Natürlich wegen der Statistiken im Text! Die Statistiken waren in beiden Texten gleich. Nur drei Prozent der Teilnehmenden verwiesen auf die benutzte Metapher als Einfluss auf ihre Entscheidung.

Was war da los?

Das Experiment wurde durchgeführt von zwei Psycholog:innen an der University of Stanford: Paul H. Thibodeau und Lera Boroditsky. Beide forschen seit Jahren dazu, wie Sprache unser Denken und unsere Entscheidungsfindung beeinflusst. Vor allem: welche Rolle Metaphern spielen.

Ihre Erklärung für die Ergebnisse oben: Bestien sind wilde Tiere, vor denen wir uns fürchten, sie greifen uns an, sind bösartig und müssen gestoppt werden, sonst ist unser Leben in Gefahr. Mit Bestien geht man nicht vorsichtig um. Da hilft nur hartes Durchgreifen. Wenn Kriminalität als Bestie beschrieben wird, werden all diese Vorstellungen in unserem Gehirn aktiviert, die wir mir Bestien verbinden. Und weil diese Vorstellungen aktiviert sind, übertragen wir auf das Kriminalitätsproblem in Addison. Wir fordern härteren Vollzug und neue Gefängnisse. Wir müssen der Bestie standhalten!

Viren aktivieren wiederum andere Vorstellungen in unserem Kopf. (Wichtig: Die Studie wurde Jahre vor der Corona-Pandemie durchgeführt.) Viren sind ein Gesundheitsproblem, Viren rennen nicht bösartig auf uns zu und wollen uns auch nicht zerfleischen. Entsprechend anders denken diejenigen, die das Kriminalitätsvirus bekämpfen wollen, auch über die passenden Maßnahmen: Prävention, soziale Arbeit.

Was Christian Lindner damit zu tun hat

Vielleicht habt ihr es mitbekommen. Bei einer Bürgerfragestunde hat sich Bundesfinanzminister Christian Lindner über linkes Framing beschwert: “Man wählt ein Wort, um Gefühle zu erregen. Dienstwagenprivileg! Reiche! Haben einen Dienstwagen! Ein Privileg! Kriegen die noch Geld vom Staat. Dienstwagenprivileg! Das nennt man Framing! Damit Sie im Bauch schon das Gefühl haben, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!”

https://twitter.com/watch_union/status/1561898368389054464 (Öffnet in neuem Fenster)

Vielleicht kennt Christian Lindner die Studie oben nicht. Aber natürlich weiß auch er, wie Sprache unser Denken beeinflussen kann. Und wie wichtig es ist, früh in einer öffentlichen Debatte die richtigen Begriffe zu platzieren. Nicht nur, weil es um Deutungshoheit geht. Sondern auch, weil diese Begriffe direkten Einfluss auf die Meinungen der Menschen haben können. Nicht, dass ihm sein Dienstwagen noch weggenommen wird!

Nächste Woche geht es nochmal ausführlicher genau darum: Was die Wissenschaft darüber weiß, wie Sprache dein Denken und Handeln beeinflusst und vor allem, welche alltäglichen Metaphern wir mal grundlegend hinterfragen sollten.

Eure Bestie unter den Newsletter-Autoren: Bent 🧠✌️

Kategorie Sprache & Gehirn

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