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Können wir jetzt aufhören, Fremdsprachen zu lernen?

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: Wie Sprache unser Denken beeinflusst – und ob wir KIs das Übersetzen überlassen sollten.

Eigentlich geht es in der aktuellen Serie darum, welche Vorgänge im Gehirn mit verantwortlich dafür sind, wenn wir zu viel essen (Öffnet in neuem Fenster). Diese Woche aber gibt es eine Sonderausgabe.

Heute habe ich auf Twitter ein absolut irres Video gesehen: Ein Mann spricht in die Kamera, auf Englisch, und eine KI übersetzt das, was er sagt, in andere Sprachen und passt sogar die Lippenbewegungen an. Ich musste es direkt selbst ausprobieren. Hier komme ich, auf Italienisch (spreche ich nicht) und Hindi (kein Wort):

https://twitter.com/BentFreiwald/status/1701582920413016505 (Öffnet in neuem Fenster)

Das ist wirklich irre. Hier ist das Tool (Öffnet in neuem Fenster).

Aber stop. Wir müssen mal kurz durchatmen. Müssen wir jetzt keine Fremdsprachen mehr lernen? Der Sprung von übersetzen Videos zu Live-Übersetzungen ist nicht mehr sonderlich groß. Als Audio-Version gibt es das schon jetzt.

Sich überall verständigen können? Schön und gut. Es gibt immerhin über 7.000 verschiedene Sprachen auf der Welt. Was für eine absurde Veränderung, wenn wir mit jedem Menschen, überall, kommunzieren könnten.

ABER: „To have a second language is to have a second soul.“ Das soll Karl der Große schon gesagt haben. Das ist ein wunderschöner Satz, den viele von uns direkt fühlen können. Kaum spricht man eine andere Sprache mehr oder weniger fließend, schon fühlt es sich so an, als würde sich auch der eigene Charakter mit der Sprache verändern.

Der Satz fasst auch eine Position zusammen, die es seit Jahrhunderten gibt: Sprache beeinflusst die Art und Weise, wie wir denken.

Gleichzeitig gab es immer auch Menschen, die genau vom Gegenteil überzeugt waren. Was macht es schon für einen Unterschied, mit welchem Begriff ich frisch gemahlenen Kaffee benenne? Er riecht schließlich immer gleich.

Je nachdem, welche Position man einnimmt, hat das Video oben verschiedene Implikationen. Die Frage, die ich mir stelle, ist: Was geht verloren, wenn wir eine KI künftig jede Übersetzungsarbeit machen lassen? Ich denke, einiges.

Dass es wissenschaftliche Daten zu dieser eigentlich uralten Debatte gibt, ist eine relativ neue Entwicklung. Lera Boroditsky ist eine der führenden Kognitionswissenschaftler:innen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich Sprache auf unser Gehirn auswirkt. Die Erkenntnisse aus ihrer Forschung solltet ihr kennen.

Erkenntnis 1: Links, rechts, nord, west

Kuuk Thaayorre ist eine pamanische Sprache, die in der Siedlung Pormpuraaw im westlichen Teil der Kap-York-Halbinsel, Queensland in Australien, von den Thaayorre gesprochen wird. Ein interessanter Unterschied zu unserer Sprache: Sie benutzen keine Wörter wie „links“ oder „rechts“. Stattdessen geben sie alle Richtungen in Nord, Ost, Süd und West an. Also wirklich: alle. Sie sagen Sätze wie: „Da sitzt eine Ameise auf deinem süd-westlichen Bein.“ Sogar beim Hallo sagen, fragen sie nicht, wie es dir so geht, sondern in welche Richtung du gerade unterwegs bist. Boroditsky sagt: „Diese Menschen können sich besser orientieren, als wir es bei Menschen überhaupt für möglich gehalten haben.“ Warum? Wenn man nicht mal über das einfache „Hallo“ hinauskommt, ohne die Himmelsrichtung angeben zu müssen, in die man gerade unterwegs ist, lernt das Gehirn sehr schnell, sich richtig zu orientieren.

Erkenntnis 2: blau, blau, blau, blau

Manche Sprachen unterscheiden sich auch darin, wie viele Farben man in ihnen mit eigenen Wörtern benennen kann. Im Englischen zum Beispiel würde man diese vier Farben einfach nur „blue“ nennen. Im Russischen hingegegen unterscheidet man zwischen hellblau „goluboy“ und dunkelblau „siniy“.

Screenshot: Ted Talk von Lera Boroditsky

Russ:innen machen das ein Leben lang. In Studien hat man herausgefunden, dass sie deshalb schneller darin sind, hellblaue Farben von dunkelblauen zu unterscheiden. Und nicht nur das: Im Gehirn von Russ:innen taucht eine Art Überraschungssignal auf, ein elektrischer Impuls einige Millisekunden, nachdem eine Farbe von hellblau zu dunkelblau gewechselt ist. Dieses Signal taucht bei englischsprachigen Probant:innen nicht auf.

Ich selbst habe ein ähnliches Experiment mal in Riga mit Deutschen und Letten gemacht. Ich wollte herausfinden, ob Letten zwischen mehr verschiedenen Grautönen unterscheiden können als Deutsche (weil sie ihr Leben lang von grauen Beton-Gebäuden umgeben sind und mehr Wörter für Grautöne haben). Die Studie hieß „10 Shades of Grey“ und konnte keinen signifikanten Unterschied feststellen. Auch okay.

Erkenntnis 3: Die Mond und der Sonne

Viele Sprachen unterscheiden sich auch darin, welche Artikel die Nomen haben. Die Sonne ist im Spanischen männlich (el sol), der Mond weiblich (la luna). Könnte dieses Detail verändern, wie Menschen denken? Lera Boroditsky sagt: ja.

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Kategorie Sprache & Gehirn

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