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Triffst du auf Englisch andere Entscheidungen?

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: über Moral, Eisenstangen, Sprengungen und deine Muttersprache.

Bevor es losgeht: Ich bin die nächsten zwei Wochen in Süditalien im Urlaub. Diesen brauche ich wirklich dringend, deshalb setzt Das Leben des Brain in diesen zwei Wochen aus. Die nächste Ausgabe kommt direkt, wenn ich zurück bin. Und: Im Hintergrund arbeite ich gerade an einem Projekt, das Das Leben des Brain nochmal auf ein ganz neues Level heben wird. Seid gespannt! Nun aber los.

Du stehst in Berlin-Mitte auf einer Brücke und schaust dich um. Du bewunderst, wie sich geleckte Neubauten zwischen die schicken Altbauten gedrängt haben. Unter der Brücke rauscht eine Straßenbahn heran. Du guckst dich weiter um und erschreckst: Unten, mitten auf den Gleisen, stehen fünf Personen und schauen – na klar – auf ihr Handy. Sie sehen die heranrasende Straßenbahn nicht! Die Straßenbahn droht, die fünf Menschen zu überrollen. Aber: Du entdeckst einen übergewichtigen Mann vor dir auf der Brücke. Wenn du ihn herunterschubsen würdest, würde er die Straßenbahn zum Stehen bringen – und die fünf Menschenleben wären gerettet.

Was würdest du tun? Den Mann herunterschubsen und sein Leben gefährden – oder die Tram weiterfahren lassen und damit fünf Menschenleben gefährden? Allgemein formuliert: Darf (durch Schubsen) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten?

Vielleicht kennst du dieses Szenario schon. Es ist eines der bekanntesten moralphilosophischen Gedankenexperimente und wurde schon 1930 diskutiert. Genauso lange werden auch Experimente mit diesem Szenario durchgeführt, in der Hoffnung dadurch etwas über die moralische Entscheidungsfindung von Menschen zu lernen. Mittlerweile ist das theoretische Problem dahinter sogar aktuell geworden: Wie sollen selbstfahrende Autos sich „entscheiden“, wenn vor ihnen eine Gruppe von Menschen auftaucht?

Heute geht es um einen Aspekt, der in all den Studien lange ignoriert wurde: Die Sprache, in der dir dieses Dilemma präsentiert wird, scheint großen Einfluss darauf zu haben, wie du dich am Ende entscheidest.

Wenn eine Eisenstange durch dein Gehirn katapultiert wird

Zunächst ein Schritt zurück: Was ist Moral überhaupt? Und was kann unsere Moral beeinflussen? Moralisch ist, was die Gesellschaft als richtig empfindet, das Verhalten, das sie akzeptiert. Moral legt die Standards fest, nach denen wir miteinander umgehen, um miteinander klar zu kommen.

So über Moral zu sprechen, ist ziemlich abstrakt. Und es klingt fast so, als wären Moral und Recht das Gleiche. Was natürlich nicht stimmt. Wenn du jemandem Geld stiehlst, ist es immer eine Straftat. Wenn du aber einer armen Person, die vielleicht auf der Strafe bettelt, Geld klaust – dann würden viele das als moralisch verwerflicher bezeichnen, als wenn du Reichen etwas wegnimmst. Kein Wunder, dass der Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ so erfolgreich war.

Die Idee, dass unser moralischer Kompass eine neurologische Basis im Gehirn hat, nahm 1848 an Fahrt auf. In Nordamerika wurden immer mehr Eisenbahnschienen gebaut, ein Knochenjob für viele Arbeiter, auch für den damals 25-jährigen Phineas Gage. Wer sich schon öfter mal mit Neurowissenschaften beschäftigt hat, wird diesen Namen kennen. Er ist einer der berühmtesten Patient:innen in der Geschichte.

Gages jedenfalls sprengte ständig etwas in die Luft, das war sein Job: schweres Gestein wegsprengen, damit die Eisenbahn dort entlang fahren kann. Das geht so: Tiefe Löcher bohren, Schießpulver und Sand hineinkippen, alles mit einem Eisenrohr verdichten und den Zünder legen. Rums!

Long story short: Eine Sprengung ging schief. Die Eisenstange, mit der er das Loch stopfte, entzündete das Schießpulver und schoss aus dem Loch hinaus, einmal durch den Schädel von Phineas Gage. Sie soll gut 20 Meter hinter ihm gelandet sein. Ein glatter Durchschuss.

Da hat jemand seine Moral in die Luft gesprengt

Gage wurde schnell behandelt, der Arzt bescheinigte ihm nur eine geringe Überlebenschance. Gage allerdings starb nicht. Zur Verwunderung vieler überlebte er. Und zunächst schien auch alles in Ordnung zu sein. Er erholte sich, und konnte sogar ganz normal sprechen, mit Werkzeugen umgehen, und sich an seine Vergangenheit erinnern. Alles normal. Also: fast.

Seine Kollegen und Vorgesetzten beschrieben ihn früher als zuverlässigen Arbeiter, verantwortungsvoll und still. Nach seinem Unfall veränderte er sich, er fluchte dauernd und heftig, war launenhaft, respektlos. Wer ihm einen Ratschlag gab, erfuhr Abweisung und Wut.

Die Eisenstange hatte etwas in seinem Gehirn zerstört, das eine entscheidende Rolle bei diversen sozialen Aspekten unseres Verhaltens spielt, auch bei der Moral: den Frontallappen.

Jetzt kann man das komplexe moralische Verhalten des Menschen kaum auf eine einzige Region im Gehirn schieben. Viel mehr hat wieder ein großes, kompliziertes Netzwerk auf verschiedenen Hirnregionen seine Finger im Spiel. Moralische Funktionen und abnormales moralisches Verhalten hängen von einem funktionellen neuronalen Netzwerk ab, das kortikale und subkortikale Strukturen verbindet; und das von Neurotransmittern und hormonellen Systemen moduliert wird. Entscheidend für uns ist: Das Gehirn hat seine Finger im Spiel.

Beeinflusst die Sprache deine Moral?

Zurück zur oben erwähnten Studie und zum moralischen Dilemma mit der Straßenbahn. Forscher:innen der University of Chicago sammelten Daten von Menschen in den Vereinigten Staaten, Spanien, Korea, Frankreich und Israel. Das Ergebnis: Wenn das Dilemma in einer Fremdsprache präsentiert wurde, entschieden sich mehr Teilnehmer:innen dafür, fünf Menschen zu retten, indem man einen Menschen tötet.

Selbst, wenn die Forscher:innen die Gruppen der Teilnehmer:innen nach dem Zufallsprinzip zusammenstellten – die Wahrscheinlichkeit, fünf Menschenleben zu retten, war unter denjenigen, die eine Fremdsprache benutzten, doppelt so hoch.

Im zweiten Experiment nutzen die Wissenschaftler:innen eine weniger emotionale Version des Dilemmas:

Du stehst dieses Mal nicht auf einer Brücke, sondern auf einer Straße. Von links kommt die Tram herangefahren. Vor dir entdeckst du eine Weiche, mit der du die Tram umlenken kannst auf ein anderes Gleis. Auf diesem allerdings steht ebenfalls eine Person. Betätigst du die Weiche und gefährdest eine Person – oder lässt du alles so, wie es ist, und gefährdest fünf Personen?

In diesem Szenario machte es keinen Unterschied, ob das Dilemma in der Muttersprache oder der Fremdsprache präsentiert wurde. Und das, obwohl die Rechnung dahinter gleich war. In beiden Sprachen (Mutter- und Fremdsprache) entschied sich die große Mehrheit (mehr als 80 Prozent) der Teilnehmer:innen dafür, die Weiche zu betätigen und damit mehr Menschenleben zu retten.

Was steckt dahinter?

Warum treffen wir moralische Entscheidungen anders, wenn wir das Dilemma in einer Fremdsprache präsentiert bekommen? Natürlich haben sich die Forscher:innen die gleiche Frage gestellt. Und Antworten geliefert.

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