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Das Angstzentrum im Gehirn? Gibt es nicht.

Jeden Freitag erzähle ich dir von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft und Psychologie, die du kennen solltest. Heute: ein Deep Dive zur Frage, ob bestimmte Hirnregionen bestimmte Emotionen erzeugen.

Diese Woche im Podcast: „Warum selbst unser Gehirn aufs Bauchgefühl hört“. Jetzt auf Spotify anhören! (Öffnet in neuem Fenster)

Als ich Kognitionswissenschaften studiert habe, hatte ich einen Lieblingskurs: Cognitive Neuropsychology. Die Dozentin war jung, sie erklärte die Zusammenhänge verständlich und mit Euphorie. In einer Vorlesung ging es um das Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen. Sie warf mit dem Beamer ein großes Bild an die Wand. Darauf sah man eine Frau, die gerade durch den Wald spazierte. Vor ihr auf dem Boden zischte eine Schlange. Mit großen Pfeilen wurde dargestellt, wie das Bild der Schlange durch die Retina in den visuellen Kortex der Frau gelang und welcher Hirnregion sofort Bescheid gesagt wurde: der Amygdala.

Dieser kleine Mandelkern war hier schon mehrfach Thema. Selbst, wenn ihr den Newsletter erst neu abonniert habt, wird euch sicher schon mal untergekommen sein, warum die Amygdala so wichtig ist: Oft wird sie als das Angst-Zentrum im Gehirn bezeichnet. Bei der Frau im Wald, die die Schlange sieht, feuern die Neuronen in der Amygdala wild vor sich hin, die Angst wird erzeigt und sorgt schließlich dafür, dass eine Fluchtreaktion ausgelöst wird: angespannte Muskeln, mehr Sauerstoff im Blut, um zu fliehen.

Die Idee dahinter: Emotionen werden von ganz bestimmten Gehirnregionen reguliert, ausgelöst, verarbeitet. Jede Emotion wird von einer anderen Hirnregion erzeugt. Angst entsteht in der Amygdala. Ohne Amygdala: keine Angst.

Heute geht es um Wissenschaftler:innen, die versucht haben, diesen Zusammenhang nachzuweisen – und daran gescheitert sind. Es scheint, mal wieder, ganz anders zu sein, als man lange Zeit dachte. Die Erkenntis wiederum, wofür die Amygdala und andere „Emotions-Regionen“ veranwortlich sein könnten, ermöglicht einen ganz anderen Blick auf Emotionen. Willkommen zu einer etwas längeren Ausgabe von Das Leben des Brain.

Was, wenn Menschen keine Amygdala mehr haben?

Wie so oft in der Hirnforschung setzen Wissenschaflter:innen auch in der Erforschung von Emotionen auf Patient:innen, deren Gehirne beschädigt sind. Die Idee dahinter ist simpel: Wenn jemand mit einer Verletzung in einem Bereich des Gehirns Schwierigkeiten hat, eine bestimmte Emotion zu erleben oder wahrzunehmen, dann haben wir den Beweis. In dieser Region entsteht diese Emotion.

Das ganze funktioniert nicht nur bei Menschen. Die Amygdala zum Beispiel wurde zum ersten Mal mit der Emotion Angst in Verbindung gebracht, als zwei Wissenschaftler (Heinrich Klüver und Paul C. Bucy) die Schläfenlappen von Rhesusäffchen entfernten. Was anschließend passierte? Die Affen näherten sich ohne Zögern Schlangen, fremden Affen, Tieren, vor denen sie sonst Angst hatten.

Einer der bekanntesten menschlichen Patient:innen ist der Fall „SM“ (Öffnet in neuem Fenster). Sie leidet an einer genetischen Krankheit, der sogenannten Urbach-Wiethe-Krankheit, die dafür sorgte, dass die Amygdala im Laufe ihrer Kindheit und Jugend nach und nach ausgelöscht wurde. SM schien geistig gesund und sogar normal intelligent, aber ihr Verhältnis zur Angst schien in Labortests relativ ungewöhnlich.

Wissenschaftler zeigten ihr Horrorfilme wie The Shining und Das Schweigen der Lämmer, sie setzten sie lebenden Schlangen und Spinnen aus. Einmal gingen sie sogar durch eine Geisterbahn. Aber: nichts. Sie berichtete von keinen starken Angstgefühlen. Andere Emotionen wurden von SM normal erlebt und wahrgenommen. Insgesamt schien SM furchtlos zu sein, und ihre beschädigte Amygdala schien der Grund dafür zu sein. Die Wissenschaftler schlussfolgerten: eine gut funktionierende Amygdala ist Grundvoraussetzung für Angst.

Doch dann geschah etwas Seltsames. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass SM Angst in Körperhaltungen sehen und in Stimmen hören konnte. Sie fanden sogar einen Weg, SM dazu zu bringen, Angst zu empfinden, indem sie sie baten, Luft zu atmen, die mit zusätzlichem Kohlendioxid angereichert war. Während des Sauerstoffmangels geriet SM in Panik.

Sie konnte also unter bestimmten Umständen auch ohne ihre Amygdalae eindeutig Angst fühlen und wahrnehmen. Ein erster Hinweis, dass es vielleicht doch etwas komplexer ist als ursprünglich gedacht.

Alle möglichen Regionen können Angst hervorrufen

Immer wieder untersuchten Wissenschaflter:innen die Gehirne von Patient:innen, deren Amygdalae beschädigt waren. Immer weiter weichte sich der direkte Zusammenhang auf. Da war zum Beispiel ein Paar Zwillinge, eineiig, die durch die Urbach-Wiethe-Krankheit die angeblich angstbezogenen Teile ihrer Amygdala verloren hatten. Sie sind normal intelligent, und haben einen hohen Schulabschluss. Aber ihre Wahrnehmung von Angst unterschied sich sehr. Der eine zeigte ähnliche Angst-Zustände wie SM (also nicht in allen Situationen, aber auch, wenn ihm Sauerstoff entzogen wurde). Dem anderen hätte man von außen nicht angemerkt, dass seine Amygdala fehlte, er zeigte stinknormale Angstreaktionen.

Zeit für ein kleines Zwischenfazit: Die Forscher:innen, die die Patient:innen untersucht haben, verabschiedeten sich langsam aber sicher von der Vorstellung, dass die Amygdala das Angstzentrum im Gehirn sei. Einige Patient:innen konnten schließlich auch ohne Amygdala Angst empfinden. Lisa Feldman Barrett, die Emotionsforscherin, schreibt: „Ein psychisches Ereignis, wie z. B. Angst, wird nicht nur von einer einzigen Gruppe von Neuronen erzeugt. Stattdessen können Kombinationen verschiedener Neuronen Angstzustände hervorrufen. Neurowissenschaftler nennen dieses Prinzip Degenerierung. Degenerierung bedeutet: viele Kombinationen von Neuronen können das gleiche Ergebnis hervorbringen.“

Merkwürdige Ergebnisse und eine Meta-Studie, die es in sich hat

Im Laufe der Jahre kamen immer mehr überraschende und verwirrende Erkenntnisse hinzu.

Beispiel 1: In einer Studie zeigte man den Teilnehmer:innen Gesichter, die typischerweise Angst darstellen sollten. Die Aktivität ihrer Amygdalae nahm zu, wenn sie Gesichter mit neutralem Ausdruck betrachteten. ABER: Nur in bestimmten Situationen. Nämlich nur dann, wenn die Augen eines Gesichts den Betrachter direkt anschauten. Wenn die Augen zur Seite blickten, änderten die Neuronen in der Amygdala ihre Feuerungsrate kaum. Hä?

Beispiel 2 kommt von Lisa Feldman Barret selbst. In ihrem Labor wies sie im Jahr 2008 nach, dass die Amygdala tatächlich aktiver ist, wenn sie ängstliche Gesichter sieht. Allerdings stieg ihre Aktivität nur bei den Gesichter (egal ob ängstlich oder nicht), die die Versuchspersonen noch nie gesehen hatten. Hä?

Okay, Lisa Feldman Barrett wird ihre Verwunderung über diese Ergebnisse wahrscheinlich etwas präziser ausgedrückt haben als ich. Sie konnte die Verwunderung aber nicht loslassen. Deshalb machte sie mit ihrem Team eine große Meta-Analyse. Sie untersuchten alle veröffentlichen Studien zu Emotionen wie Wut, Ekel, Glück, Angst und Traurigkeit, die mit bildgebenden Verfahren (also oftmals MRT) durchgeführt wurden. Insgesamt waren das fast 100 Studien mit fast 1.300 Teilnehmer:innen. Also: viele Gehirne, viele Datensätze, viele Szenarien, in denen man versucht hat, eine Gehirnregion einer Emotion zuzuordnen.

Ihre Meta-Studie ergab, dass diese Sicht auf Emotionen kaum haltbar ist. Die Amygdala zum Beispiel zeigte bei Studien über Angst eine konsistente Aktivitätssteigerung, mehr als man zufällig erwarten würde, aber nur in einem Viertel der Studien über Angsterfahrung und in nur etwa 40 Prozent der Studien über Angstwahrnehmung. Außerdem war die Amygdala auch aktiver in Studien zu Wut, Ekel, Traurigkeit und Glück.

Welche Funktion die Amygdala auch immer erfüllt, wenn sie in Situationen der Angst aktiv ist – sie scheint diese Funktion auch bei anderen Emotionen zu erfüllen. Und nicht nur das: Sie ist auch aktiver in Situationen, die überhaupt nichts mit Angst zu tun haben. Wenn du Schmerz empfindest, etwas Neues lernst, neue Menschen triffst oder eine Entscheidung triffst.

Ist das die wahre Funktion dieser Hirnregionen?

Bleibt die Frage, warum genau diese Gehirnregionen in einigen Studien aktiver sind, wenn Teilnehmer:innen bestimmte Emotionen erleben. Welche Funktion haben diese Regionen? Lisa Feldman Barrett hat dafür eine Erklärung, die vielleicht nicht super intuitiv ist, aber wenn man sie einmal versteht, ermöglicht sie einen ganz anderen Blick auf Emotionen. Ich fasse ihre Forschung so zusammen, dass sie jede:r versteht:

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