[SHORTS:]ROT (Teil 2)

Andrea de la Torre hatte heute Morgen nervös vor ihrem Ankleidespiegel gestanden. Heute, an ihrem achtzehnten Geburtstag, gab sie ihr großes Debüt als professionelle Flamenco-Tänzerin. Natürlich hatte sie jahrelang geprobt für diesen Tag – hatte sich vorgestellt, wie es wäre, vor der versammelten Menge in der großen Halle der Escuela de Artes aufzutreten. Es war eine seit langem erwartete Exposición Extraordinaria – die Professoren würden sich wie jedes Jahr die besten Künstler und -innen aus den Bereichen Tanz, Malerei und Bildhauerei herauspicken, um sie fortan an ihrer Escuela zu unterrichten.  

Des Morgens war ihre Bedienstete mit dem wunderbaren roten Kleid zu ihr gekommen und hatte ihr beim Anziehen geholfen. „Sie sehen wunderschön aus, mi pequeña“, hatte María gemeint, und Andrea hatte sie, schärfer als gewollt, ermahnt, María möge sie doch bitte nicht gerade heute mit dem Kosenamen aus ihrer Kindheit ansprechen. María hatte sich entschuldigt: „Sí, perdone, señorita… es ist nur… Sie erinnern mich so sehr an Alma.“ 

Andrea fand diese Entschuldigung albern, natürlich sah sie ihrer Mutter ähnlich! Und Andrea wusste auch, was María nicht ausgesprochen hatte: dass das Kleid eigentlich ihrer großen Schwester zugestanden hätte.  

„Ana ist seit vielen Jahren tot. Genauso wie Adrián.“ 

„Es tut mir leid, señorita. Ich wollte Sie nicht verärgern.“ 

Dann war María aus dem Zimmer gegangen und hatte Andrea allein zurückgelassen.  

Andrea hatte sich auf die Zunge gebissen, bis sie Blut schmeckte.  

Doch das war jetzt vergessen. Andrea stand vor der Menge, die tosenden Applaus klatschte.  

In vier Minuten würde der Applaus langsam abebben und Andrea würde sich in ihrem wundervollen, langen roten Kleid noch einmal vor der Menge drehen.  

Gegen Ende der Drehung würde sie eine rasche Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnehmen; und als sie zum Stillstand kam, zwei Menschen, die aufeinander zuliefen.  

Und dann würde erst der richtige Trubel losbrechen.