Zum Hauptinhalt springen

[Shorts:]ROT (Teil 1)

Die Bilder von Ana Molina waren zumeist sehr fröhlich und bunt. Strahlende Farben, Mandalas, afrikanisch inspirierte Muster wechselten sich mit anderen Elementen aus allen möglichen Kulturen und Stilen.

Nur eine Sache fiel dem kritischen Kunstbeobachter auf. Kein einziges ihrer Bilder war rot – oder enthielt überhaupt diese Farbe.

Denn für Ana Molina war Rot die Farbe von Blut, und sie hatte Angst vor Blut. Stattdessen enthielten ihre Bilder Pink, Magenta oder Lila. Und so gefiel es ihr, und auch immer mehr der Öffentlichkeit. Als „Lilana“ erlangte sie langsam lokale Bekanntheit in ihrer Heimatstadt Sevilla, und die bald 25jährige rechnete sich gute Chancen aus, mit ihrer Kunst bald an der besten Escuela de Artes von ganz Andalusien aufgenommen zu werden.

Sie hatte lange für diesen Traum gekämpft. Es war nicht leicht gewesen für sie in ihrer Vergangenheit. Nach allem, was sie von ihrem Adoptivvater erfahren hatte, war sie vor langer, langer Zeit – damals musste sie um die sieben Jahre alt gewesen sein -  gemeinsam mit ihrem leiblichen Vater und einem kleinen Bruder, an den sich Lilana aber nicht erinnern konnte, mitten aus dem Meer vor der Küste von Málaga gerettet worden. Der kleine Bruder – er musste um die vier, fünf Jahre alt gewesen sein – und Lilana waren noch am Leben, für ihren Vater jedoch kam jede Hilfe zu spät. Die Kinder waren so traumatisiert, dass sie kaum sprachen, und so kamen sie zuerst in ein schreckliches Kinderheim in Málaga, und wurden dann getrennt voneinander adoptiert.

Anas Adoptivvater, Herr Molina, war nicht begeistert gewesen ob ihrer Leidenschaft für die Kunst, die er als brotlosen Zeitvertreib ansah. Und so ging Ana, seit sie achtzehn war, ihre eigenen Wege und lebte von der Hand in den Mund ihr ärmliches Künstlerinnenleben. Aber nun sollte sich bald vieles ändern, wenn sie es denn schaffte, bei der Präsentation ihrer Kunstwerke auf der Exposición Extraordinaria der Escuela zu glänzen.

Lilana hatte für die Exposición ihre besten und wildesten Entwürfe hervorgeholt, und malte wie besessen. Schließlich, als alles bereit war – der letzte Firnis getrocknet, alle Pinsel und Paletten wieder gereinigt - , und der große Tag näher rückte, an dem die Exposición stattfinden sollte, überkam sie ein seltsames Gefühl.

Sie hatte sehr lange nicht mehr an den kleinen Bruder gedacht, den sie angeblich irgendwann gehabt hatte. Manchmal, in ihren Träumen, schien sie ein Gesicht wahrzunehmen, aber nur wie unter Wasser. Dann war es wieder weg, verschwommen, und am Morgen wusste sie nichts mehr davon.

Sie war mit einem ekelhaften Geschmack im Mund aufgewacht. Blut. Sie musste wohl ein wenig blutendes Zahnfleisch haben, dachte sie; sie würde nicht darum herumkommen, bald zum Zahnarzt zu gehen.

Und dann stand Lilana in der großen Halle, vor ihren Bildern. Sie traute ihren Augen nicht.

In drei Minuten würden die Besucher der Exposición Extraordinaria die Kunstausstellung betreten und unter dem in großen schwarzen Lettern geschriebenen „Lilana“ eine Wand voller verschieden großer Leinwände sehen, die allesamt blütenrein weiß waren.

Ein Raunen würde durch die Menge gehen, und Lilana, die die Farbe Rot so sehr hasste, würde mit hochrotem Kopf hinausstürmen.

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Chrysalis und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden