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Für eine Kultur der Verwundbarkeit!

Oft erzählen mir Menschen in persönlichen Gesprächen, dass ihr Arbeitstag unproduktiv wird, weil ihnen Aufgaben und Auseinandersetzungen (zB Meetings) im Weg stehen. Und allzu oft erlaubt es die Firmenpolitik nicht, dies einfach zuzugeben. "Das wird gegen mich benutzt", sagen sie dann. "Ich habe Angst, dass dann Dinge ohne mich entschieden werden". Oder auch: "Dafür gibt es bei uns kein Verständnis".

Dinge nicht zu können, ist überhaupt nicht schlimm, und dennoch setzen wir – bewusst oder unbewusst – alles daran, uns als möglichst stark und kompetent darzustellen. Ganze Unternehmenskulturen sind darauf aufgebaut, dass diejenigen belohnt werden, die am besten durchkommen. Und der Mythos, es genüge, sich nur ordentlich anzustrengen, man müsse sich ja nur ein wenig bemühen, dann ginge schon alles, hält sich hartnäckig. Wenn jedoch "ein bisschen anstrengen" so viel Kraft kostet, dass 90 % der Arbeitszeit dafür draufgehen, ist das ein Problem. Besonders wenn andere nur 10 % aufwenden müssen und diejenigen einen Vorteil haben, die sich am besten anpassen können. Denn Anpassung bedeutet Monokultur, bedeutet Stillstand.

In meinem Unternehmen haben wir eine Kultur geschaffen, in der es okay ist, Schwächen zuzugeben. Ich bin sehr stolz auf uns als Team und dankbar, dass uns dies gelungen ist. Ein Vorteil war sicher, dass wir Gründer*innen uns schon recht lange kannten, ohnehin offen mit unserer Neurodiversität umgehen und so auch gerade mit den Dingen, die wir nicht können. Eine Unternehmenskultur der Verwundbarkeit zu schaffen, ist aber auch ohne diese besonders guten Voraussetzungen möglich.

Maske tragen ist anstrengend. Bildquelle (Öffnet in neuem Fenster)  

Firmenkultur muss grundsätzlich von oben (vor-)gelebt werden. Und gute Anführer*innen sind demütig genug, sich verwundbar zu zeigen. Warum Menschen sich mehr Verwundbarkeit zutrauen sollten, hat Brene Brown ganz hervorragend in ihrem TED-Talk https://www.ted.com/talks/brene_brown_the_power_of_vulnerability?language=en (Öffnet in neuem Fenster) und in ihrem Buch "Daring Greatly" dargelegt.

Es gibt auch noch einen weiteren Aspekt: Nur eine Kultur der Verwundbarkeit zeigt sich offen für die Diversität von Menschen, für ihre Stärken und Schwächen. Im Arbeitskontext bedeutet das ganz konkret, dass nur dann Menschen offen sagen können "Ich kann das nicht", wenn darunter nicht verstanden wird "Ich kann meinen Job nicht machen".

In der Praxis...

In der gelebten Praxis kann das dann zum Beispiel so aussehen: Einige Monate nach Firmengründung stellten wir einen neuen Mitarbeiter (nennen wir ihn X) ein. Wir hatten bereits ein Stück weit unsere eigene Kultur etabliert und dazu gehörte auch, dass es okay war, sich für einen "Bad Brain Day" abzumelden. "Sorry Leute, heut geht nix" war akzeptiert und wurde maximal mit einem "Wie können wir dich unterstützen?" beantwortet.

Daher war es sehr schön, zu erleben, dass mich X etwa vier Wochen nach seiner Einstellung ansprach: "Ich möchte damit offen umgehen, ich habe Depressionen und in den letzten Tagen bin ich in eine depressive Episode gerutscht".

"Wir stehen hinter dir. Wie können wir dich unterstützen?", war meine Antwort.

Dem Gespräch folgten konkrete Hilfen, auf die ich gerne ein anderes Mal eingehen möchte. In der Folge hat sich X nicht nur mir, sondern dem ganzen Team geöffnet und breite Unterstützung erfahren.

Ich möchte daher für eine Atmosphäre werben, in der diese Offenheit möglich ist, und in der Mitarbeiter*innen ohne Angst sie selbst sein können.

Und das bedeutet ...?

Wie man mit dieser Veränderung beginnen kann, welche arbeitsrechtlichen Implikationen eine Kultur der Verwundbarkeit vielleicht hat, und wo ihre Grenzen liegen, ist ein Thema für eine der nächsten Ausgaben.

Klar ist aber: Es fängt bei dir selbst an.

Dazu gehört auch ein offener Umgang mit dem Thema Neurodiversität, weg vom Stigma, hin zur Normalisierung. Weg von der Belastbarkeitsolympiade hin zu einem Team, das Schwächen genauso feiert wie Stärken.

Du kannst dich auch fragen: Wie würdest du gerne in deinem Arbeitsumfeld dazu beitragen? Wo siehst du Schwierigkeiten? Müsstest du dein Führungsverhalten ändern? Oder deine*n Vorgesetzte*n überzeugen?

Schau dir dein Umfeld an. Wie wird über Menschen gesprochen, die bestimmte Dinge nicht können? Die wegen Krankheit ausfallen? Die sich krankmelden, obwohl sie gar kein Fieber haben? Du kannst mir gerne dazu schreiben!

Schöne Osterfeiertage,

Julian

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