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Lieber Kai,

Ich bin sehr lange nicht mehr gereist. Das war früher ganz anders: Südostasien, Australien, Mexiko, große Teile Europas - alles hab ich bereist, was ich irgendwie zeitlich und finanziell unterbekam. Das Reisen war in meinen Mitzwanzigern einer meiner seelischen Anker. Es gab mir ungeheuer viel, mit recht wenig Plan und Grundahnung ein fremdes Land zu betreten und zu schauen, was da auf mich zu kommt. Menschen zu begegnen, in Situationen hinein geschmissen zu werden, die ich selber nicht wirklich kontrollieren konnte. Ich scheute nicht zurück vor Mehrbettzimmern mit 15 anderen Leuten oder auch 20 Euro Flüge mit Ryanair. 

Seitdem ist viel passiert. Mehrbettzimmer wären zwar nicht meine erste Wahl, aber es ist nicht so, dass ich das grundsätzlich ausschließen würde. Bei den 20 Euro Flügen sieht es anders aus. Es ist einige Jahre her, da hat eine alte Weggefährtin mir erzählt, dass sie ab sofort innereuropäisch nicht mehr fliegen werde. Ich fand das zu diesem Zeitpunkt zwar schon sehr löblich, aber in vielerlei Hinsicht nicht praktikabel. Heute blicke ich da anders drauf. Ich musste da einen Prozess durchmachen, um auch beim Fliegen zu begreifen, dass mein Handeln genauso eine Auswirkung hat, wie die Entscheidung, ob ich 500 g Hack bei Aldi, bei der Biocompany oder dann doch garnicht kaufe. Alles macht etwas. Allein schon durch die Auseinandersetzung.

Wir hatten das Thema ja glaub ich schonmal, aber ich kann es niemandem übel nehmen, der günstig in den Urlaub fliegen will. Ich sehe da nicht die Konsumenten in der Pflicht. Ja, ich möchte, dass alle eine bewusste Auseinandersetzung damit haben sollten, ob sie wirklich dieses Stück Fleisch oder wirklich diesen Flug antreten sollten. Aber auch ich "sündige", CO2 Fußabdruck und CO2 Wiedergutmachungsüberweisungen hin oder her. Und das ist schlichtweg menschlich. Wenn ein System es dir erlaubt, gewisse Grenzen auszureizen, dann musst du dich nicht wundern, wenn das auch angenommen wird. Wenn du in einem Restaurant den Restaurantgast entscheiden lässt, was du bezahlst, wirst du als Besitzerin mal positive, mal negative Bilanzen machen. 

Sowieso finde ich es bei dieser Debatte schwierig, dass wir uns als Gesellschaft zerfleischen und in Sünder*innen und Mahner*innen spalten. Dass der CO2 Fußabdruck von BP (Britsh Petroleum) erfunden wurde (Öffnet in neuem Fenster), zeigt diese Farce deutlich auf. Ja, wir müssen unseren Lebensstandard verändern, aber zu glauben, dass ein bisschen weniger fliegen den Unterschied machen würde, ist eben auch nicht richtig. Und sich schlecht zu fühlen, weil man fliegt, in meinen Augen auch. (Öffnet in neuem Fenster) Wenn wir Mahner*innen spielen und die Nutzer*innen von Billigfliegern pauschal abzutun als welche, denen das Klima ja egal sein muss, ohne auch nur einen wirklichen Grund für ihren Flug zu kennen, dann fangen wir eine soziale Debatte an, bei der sich die großen Konzerne, allen voran BP, die Hände reiben können (die ihre Manager*innen weiter in der Buiness Class umherfliegen lässt). 

Und wenn die Kommunikation stimmt, machen Menschen auch einiges mit. Das ist ja auch jetzt bei den exorbitanten Öl- und Gaspreisen zu erkennen, die (fast (Öffnet in neuem Fenster)) alle ja auch einfach schlucken - ja, es ist scheiße, aber es geht halt nicht anders. Aber auch dort überspitzt zu behaupten, dass wir Putin stoppen, indem wir in unserer Bude mit Pulli sitzen und die Heizung mal auslassen - come on. Muss es so einfach gestrickt sein, damit es ankommt? Eventuell schon und dann fällt mein Argument in sich zusammen, vermutlich.

Ich denke aber, das führt uns in die falsche Richtung und verklärt die richtige Perspektive auf die strukturellen, komplexen Anforderungen, um die es eigentlich geht. Diese weitreichenden Folgen geht über den Folgen der Generation EasyJet hinaus (was ja auch eine eher neue Entwicklung ist, die alles Andere als irreversibel sein müsste). Ich sehe uns einen Stellvertreterkrieg auf der Ebene der Billigflieger führen und uns daran sozial so aufreiben, dass am Ende weniger als nichts übrig bleibt. 

Ich versteh schon: Fliegen ist beim Thema Klimawandel ein sehr beliebtes Thema, weil es so griffig ist. Worüber z.B. weniger gesprochen wird, ist die Gebäudesanierung. Auch ich wohne in einem geliebten Altbau mit alten Fenstern, alten Türen, das volle Programm. In den letzten zwanzig Jahren ist da sanierungstechnisch wenig passiert.
Meine Hausverwaltung ist durchaus bereit, neue Fenster einzubauen, würde aber eben den Betrag teilweise auf die Miete aufschlagen. Aber will ich das und damit meine günstige Altbaumiete zerstören? Genauso geht es vielen bei der Entscheidung, ob sie jetzt mit dem Zug nach Köln nach Zürich fliegen oder Bahn fahren. Es ist weiterhin ein Luxus mit der Bahn zu fahren - sowohl zeitlich als auch finanziell. 

Wie gesagt (und wie du siehst): Ich bin nun mal wieder geflogen. Nicht innerhalb Europas war mein Ziel, sondern auf einen anderen Kontinent. Mexiko. Ein Flug, bei dem ich wenigstens wusste: Anders wird es echt schwer. Ein Flug mit Lufthansa, bei dem ich mir zumindest sagen konnte: Ich unterstütze deutsche Arbeitsplätze, die in der Regel fair bezahlt werden (Öffnet in neuem Fenster) (wo man aber zwischen der Airline und dem Konzern mit seiner Tochter Eurowings unterscheiden muss (Öffnet in neuem Fenster)). Und eine Hochzeit als Reisegrund, den man zumindest als once in a lifetime Situation durchaus annehmen kann (ich erzählte dir von der Hochzeit schon im Brief zwischen den Jahren, erinnerst dich (Öffnet in neuem Fenster)?). Diese Gedanken habe ich mir alle vorher gemacht, was ungeheuer anstrengend war und auch ehrlich gesagt genervt hat. Das macht keinen Spaß sich all diese Fragen über die Konsequenzen zu stellen. Ich habe mir sie gestellt und habe für mich entschieden: Das ist es mir wert, ich tue das. Ich bin froh über den Prozess und auch froh über diese Entscheidung. 

Ich habe da ein Puzzleteil meiner Identität quasi wieder entdeckt und genieße das auch, trotz allem. Ich bin ja gerade erst hier angekommen und sauge noch vieles auf. Deswegen möchte ich hierzu noch nichts Abschließendes sagen. Aber um ein Beispiel zu nennen: Auf meinem Flug von Frankfurt nach Mexiko Stadt habe ich einen Fensterplatz ergattert. Die Passagiere strömten hinein und lange Zeit sah es so aus, als würden die zwei Plätze neben mir frei bleiben. Ich freute mich diebisch darüber, würde das den 12 h Flug sicherlich angenehmer machen.

Das änderte sich aber schon bald und es setzten sich zwei Teenagerinnen neben mich, ich tippe mal auf ein Alter von 12 und 15. Danach folgten noch drei weitere Personen - eine Frau, die wie ihre große Schwester aussah, ihre Mutter und eine Frau im sehr hohen Alter, sicherlich über 90, die nur mit Hilfe ihrer Tochter und einer Flugbegleiterin sich durch die schmalen Wege des Flugzeugs bewegen konnte. Es war eine ukrainische Familie, die gerade in diesem Flieger Platz nahm und quer über den Globas reiste und so dem Krieg entkam. Diese Kinder sind vermutlich noch nie so weit geflogen. Vielleicht werden sie es auch nie wieder tun - wer weiß, woher sie kamen, was ihre Zukunft sein wird. Ein Gespräch war nicht möglich - sie sprachen aber russisch, was zumindest vermuten lässt, dass sie aus dem ukrainisch-russischen Grenzgebiet kamen. 

Wir sprachen nicht miteinander - sie teilten uns keine Sprache und auch so scheuten sie es, selbst mich anzugucken, wenn ich dann doch mal auf mich aufmerksam machen musste, um zur Toilette zu gehen. Durch den engen Raum kriegt man aber ja doch einiges mit - was geguckt wird, womit sich beschäftigt wird. Und so mussten die Kids erstmal feststellen, dass es im Bord Programm die russische Sprache nicht gab, was sie erstmal dazu brachte, irgendeine Musik im Programm zu hören, später sie sich aber dann doch heran trauten, im Kinderprogramm den Film Ostwind anzumachen, ein deutscher Pferdefilm. Keine Ahnung, ob sie irgendwas verstanden. Es wurde aber manchmal gelacht. Immerhin. Nach 12 Stunden trennte sich unser Weg. 

In der Fluggastbrücke, dem sogenannten Finger, standen bereits mehrere Personen vom Bodenpersonal, die auf ankommende Ukrainerinnen warteten.

Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nie darüber nachgedacht, wie weit Ukrainerinnen fliehen würden. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass sie doch in Europa bleiben würden, damit sie auch schnell wieder nach Hause könnten. Die Realität ist aber eine Andere, wie ich danach schnell nachlesen konnte (Öffnet in neuem Fenster).  
Ich doofi. 

Diese Konfrontation erinnerte mich an die vielen Deutschen, die aus Nazi-Deutschland flohen und über Frankreich versuchten, nach Mexiko zu kommen. Eine war davon Anne Seghers, die über diese Flucht das Buch Transit geschrieben hat, was eines meiner liebsten Bücher ist. Christian Petzold hat zu diesem Buch vor vier Jahren einen Film gemacht, der auf seine Weise genauso sehenswert ist. 

https://www.youtube.com/watch?v=G7ni5_s62OE (Öffnet in neuem Fenster)

Jetzt komme ich Deutscher tatsächlich mit einer deutschen Flucht-Geschichte aus der Nazi-Zeit. Ich kann verstehen, dass das manche Personen mindestens bequem finden. Und natürlich: Es gibt etliche gute Romane und Filme dazu (ein weiterer toller Roman ist bspw. Exit West von Mohsin Hamid, der aber eher einem Märchen gleicht, aber gerade dadurch eine Magie entfaltet, die ich bei diesem Thema nicht für vorstellbar gehalten habe). Aber hat dieser Roman in all seiner Melancholie einen besonderen Platz erhalten. Es beschreibt verschiedene Menschen auf ihrer Suche nach einem neuen Zuhause, nach einem Hoffen und Bangen und einer Bürokratie, die über Leben und Tod entscheidet. 

Wenn dich dieser Brief erreicht, ist es hier Samstag Abend. Die Hochzeit wird schon im vollen Gange sein und der Mezcal wird seine Wirkung erzielt haben. Ich sehe hier Freunde aus aller Welt wieder, die für diese Hochzeit den Weg aus bspw. Chile, der Schweiz oder der USA auf sich genommen haben. Dieses Wiedersehen nach mindestens acht Jahren bedeutet mir viel und ich werde in diesem Rahmen mal kurz Flugscham und CO2 Fußabdruck vergessen - wohl wissend, dass der bald wieder kommt. Und ich bin gespannt, was die nächsten Tage hier noch so bringen werden an Erkenntnissen, Eindrücken, Begegnungen. Ich sauge alles auf und sammle schon fleißig für den nächsten Brief. 

Den heutigen Song habe ich übrigens in einem Keramikladen im Mexico City aufgeschnappt. Da musste jetzt durch, bringt aber vielleicht auch meinen Samstag Abend bei 20+ ° C in Puebla, Mexiko in den kaltnassen Prenzlauer Berg. Ich hoffe es zumindest. :-)

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=B3DA6veWVJ4 (Öffnet in neuem Fenster)

(Rainbow Arabia - Holidays in Congo (Myd Remix)

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