Zum Hauptinhalt springen

Mein lieber Sven,

mir schwirrt gerade der Kopf und das liegt nicht daran, dass ich vier Monate nach meiner ersten Corona-Infektion zum zweiten Mal in Quarantäne bin. Mir geht’s gut und ich wäre auch ein wenig empört gewesen, wenn es mich in dieser Runde nicht erwischt hätte. Egal, mit wem ich es gerade zu tun habe – ständig erzählt mir jemand: Kratzen im Hals, bleibe besser mal zuhause, du, Kai, positiver Test, wollte dir nur Bescheid geben. Ein Hoch auf uns, die wir uns zwei Jahre lang gesagt haben, im Sommer 2022 sei alles überstanden, als wäre ein Virus nicht Ausdruck von Natur, sondern eine Software, die man auf Wunsch mit dem Add-on „Sommer, Sonne, Eitatei“ updaten kann.

Ging mir ja genauso. Ich war auf zwei Festivals, auf der von Dir zurecht gefeierten Hochzeit und jetzt sitze ich zuhause und höre die Welt durch das offene Küchenfenster zu mir hoch rufen: Huhu, Kai, wie geht’s dir da oben? Mir geht’s prima, aber ich bin ja auch nicht so naiv wie du.

Mir schwirrt der Kopf aber noch viel mehr von dem, was gerade auf allen Kanälen auf mich hereinprasselt. Unser Wirtschaftsminister sprach vor einer Woche davon, (Öffnet in neuem Fenster) dass unsere Gesellschaft im schlimmsten Fall in eine Zerreißprobe gerät, die bis an die äußersten Ränder und darüber hinaus an uns zerren wird – dann nämlich, wenn die Gaslieferungen aus Russland ausbleiben werden in den kommenden Monaten.

Niemand weiß im Moment, was Putin vor hat, wahrscheinlich weiß er das noch nicht einmal selbst. Auf der einen Seite arbeiten er und sein Hofstaat schon seit Jahren daran, den dekadenten Westen zu destabilisieren, und da ist eine Gas-Pipeline auch nur ein weiterer Kanal neben Facebook. Was also sollte ihn davon abhalten, uns in eine Situation zu manövrieren, in der wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, weil entweder Wohnungen kalt bleiben oder die Öfen der Chemieindustrie, und wir uns dann überlegen können, ob Millionen von Deutschen besser frieren oder arbeitslos werden? Auf der anderen Seite ist auch Russland darauf angewiesen, nicht für alle Zeiten alle Beziehungen zu sprengen, und seien es nur die geschäftlichen, und Gasfelder lassen sich nicht einfach abdrehen wie das Wasser in der Badewanne.

Ich habe heute diesen Podcast mit der Energie-Expertin Karen Pittel gehört (Öffnet in neuem Fenster) – Professorin „für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Energie, Klima und erschöpfbare natürliche Ressourcen“ an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, daneben Leiterin des Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen am ifo-Institut für Wirtschaftsforschung und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Immer wieder fällt darin der aufschlussreiche Begriff „Gas-Triage“. Selbst sie antwortet auf die Frage, was auf uns zukommt, mit einem wortreichen Achselzucken. Keine Ahnung, fragen Sie mich was Leichteres, und, achja, fragen Sie mich doch mal nach dem Winter in einem Jahr, darauf weiß ich zwar auch keine Antwort, aber der wird noch viel krasser.

Und nebenbei senkt in den USA ein demokratischer Senator final den Daumen zu einem Klimaschutzprogramm, das im Zentrum der Präsidentschaft von Joe Biden hätte stehen sollen. Über ein Jahr lang arbeiteten die Stäbe der Demokraten an Wochenenden und bis tief in die Nächte daran, alle Wünsche von Joe Manchin III zu erfüllen, damit er Regelungen würde zustimmen können, die dazu animieren, Elektroautos zu kaufen und die Emissionen von Kohlekraftwerken zu senken. Am Ende alles vergeblich. John Podesta, ehemals Berater von Barack Obama für eine Klimapolitik, die die Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben auf diesem Planeten so weit wie möglich erhält, sagte dazu in dieser Woche: (Öffnet in neuem Fenster)

It seems odd that Manchin would choose as his legacy to be the one man who single-handedly doomed humanity.

An diesem Punkt stehen wir nun, Sven: Überall auf der Welt bestimmen Menschen über den Fortbestand der Menschheit und ich habe nicht den Eindruck, dass wir in der Lage wären, diese Prüfungen zu bestehen. Im Gegenteil: Ich muss mich nur für eine Viertelstunde durch Twitter stöbern und stoße mit großer Sicherheit auf Tweets von Menschen, die schon jetzt gegen die links-grün-versiffte Elite mobilisieren, die Wasser predigt und Wein säuft und nur darauf aus ist, den kleinen Leuten das zu verbieten, was ihr Leben lebenswert macht. Genau diesen Menschen fühlen sich Menschen wie Manchin verpflilchtet. Beziehungsweise ihrem eigenen Konto, vor das sie ihre Wählerinnen und Wähler spannen wie Esel:

He talked about his grandchildren. It turns out that’s all bullshit. He  cares about profits for his coal company and his own political future  over the future of our planet.

Das sagte Jamal Raad, Direktot der Klima-NGO Evergreen Action. Und Vergleichbares lässt sich auch über jene sagen, die sich hierzulande Beschlüssen in den Weg stellen, die einen Paradigmenwechsel einläuten würden für unsere Art zu leben und zu wirtschaften. Es ist zum Verrücktwerden.

Vor vielen Jahren habe ich in dem sehr klugen Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ des Kognitionsforschers Daniel Kahneman den Satz gelesen: Unsere Erkenntnisse über die Begrenztheit des menschlichen Bewusstseins lassen keine ermutigenden Botschaften zu für die Bewältigung der größten Krise, der sich die Menschheit in ihrer Geschichte gegenübersieht.

Jetzt erleben wir, wie recht Kahneman hatte. Wir haben uns bis zu einem Punkt fortentwickelt, an dem wir Entscheidungen zu treffen haben, die uns über den Kopf wachsen. Um den Wohlstand zu erhalten, den die Menschheit seit Beginn der Industrialisierung aufgebaut hat, müssen wir ihn in Frage stellen. Um die Freiheit zu bewahren, die uns Erfindergeist, Technologie und Bildung ermöglicht haben, müssen wir sie beschränken. Um bei uns zu bleiben, müssen wir uns aufgeben.

Wie soll das gehen, Sven? Wir scheitern doch schon daran, die Pandemie so ernst zu nehmen, wie sie es uns seit dem Frühjahr 2020 aufgetragen hat. Moment, muss kurz husten. So, bin wieder da.

Ich weiß, wie das gehen kann. Indem wir Beziehungen zu Menschen aufbauen und pflegen, die uns in genau solchen Momenten der Bestürzung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit, wie zumindest ich sie gerade im Tagestakt erlebe, auffangen – und wir sie.

Zumindest in meinem Leben ist es im Moment auch im positiven Sinn ein wenig verrückt: Je größer die Krisen werden, je drängender das Gefühl, es sei alles verloren, als umso reicher empfinde ich mein Leben. Denn ich weiß Menschen um mich, die an dieser Welt genauso leiden wie ich und trotzdem oder gerade deshalb jeden Tag einen Witz mehr machen als ihnen Tränen über die Wangen laufen. Diesen Menschen, von denen Du einer bist, Sven, will ich gerade jetzt zurufen: Ich bin so froh, dass ich Euch getroffen habe und dass Ihr Teil meines Lebens seid. Ihr seid bei mir, wenn ich einschlafe, und liegt neben mir, wenn ich aufwache. Ich fluche manchmal laut und tobe und bin mir darin selbst zu viel und womöglich Euch auch. Aber mich mit der Welt zu konfrontieren, nicht davon zu laufen, wenn es anstrengend wird, und gerade dort nach Antworten zu suchen, wo die Schmerzen am größten werden, ist für mich der einzige Weg, Sinn und Freude in dem zu finden, was wir Leben nennen.

Dort, Sven, genau dort wächst die Liebe und deshalb bin ich dankbar für die vielen Krisen, die uns gerade heimsuchen. Sie weisen mir jeden Tag den Weg durch den Dschungel und führen mich an die Orte, an denen es wirklich um etwas geht. Und dort liegen wir uns mal weinend in den Armen und mal tanzen wir. Lass uns diese Orte so schön wie möglich machen, mit Lichterketten, Kerzen, Discokogeln und guten Boxen. Noch nie waren sie so wichtig wie jetzt. Und für alle, die nicht Du sind, Sven, und auf der Suche sind nach solchen Orten (MEINST DU WIRKLICH, SVEN, DASS HIER LEUTE HEIMLICH MITLESEN, WIE IRRE WÄRE DAS?): Meldet Euch bei uns – wir haben da ein, zwei Ideen für den Herbst. 

Sei(d) umarmt,
Dein Kai

PS: Für meine Musikempfehlung in dieser Woche musst Du Dir zwei knapp zwei Stunden Zeit nehmen – oder immer mal wieder reinzappen. Ich kann versprechen, Du wirst keine Sekunde bereuen. Wenn es eine Band gibt in Deutschland, die es schafft, aus Bestürzung Disco zu machen, dann die. 

https://www.youtube.com/watch?v=fhaOO5INNQo&t=4754s (Öffnet in neuem Fenster)

(Deichkind – Hurricane Festival 2022)

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Briefe zwischen Freunden und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden