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Lieber Kai,

Ich habe mal wieder länger nicht von mir hören lassen. Und auch dieser Brief wird eher kurz, da mir einfach gerade die Zeit hinten und vorne fehlt. Dieses Projekt in dem ich stecke ist ein ziemlicher Ritt. Filmproduktionen sind immer ein Ritt, aber durch die Kombination aus krankheitsbedingten Ausfällen und strikten Deadlines ist diese Produktion doch außergewöhnlich anstrengend. 

Kennst du das, dass du so viel Input die gesamte Zeit bekommst, dass dein Kopf nur ungefähr die Hälfte verarbeiten kann und die andere Hälfte darauf wartet, in einem stillen Moment aufzutauchen, um dann endlich verarbeitet und evtl. auch hinterfragt zu werden? In meiner Rolle als Regieassistenz bin ich eigentlich ein Informationsverteiler. Informationen kommen zu mir, ich leite sie an die richtigen Stellen weiter. Durch das Verstehen und Setzen von Prioritäten weiß ich, wann ich was wie kommunizieren muss. So weit die Theorie. Derzeit unterscheidet sich die Prioritätsstufe aber ungefähr zwischen rot und dunkelrot, zu spät oder viel zu spät. Ich fühle mich wie ein Tennisspieler mit einer außer Kontrolle geratenenen Ballmaschine, bloß ohne Schläger. Deshalb konnte ich leider mir noch nicht das Deichkind Konzert anhören. Der Kopf wehrt sich, sich darauf einzulassen, nicht abzuschweifen, doch noch die nächste Arbeitsemail zu öffnen oder zu schreiben. Aber ich hole es bald nach. 

Meinen einen freien Tag in der Woche verbringe ich dann meistens so, dass ich nur an die Decke starren will. Niemanden sehen. Es gibt so viel Input die ganze Zeit, dass mein ganzes Ich Zeit braucht, es zu verarbeiten, sich von Input zu verabschieden. Und da es nicht nur um die Arbeits- sondern auch die emotionale Ebene geht, mache ich da gerade die Schotten dicht. Jede Minute ohne Kommunikation ist eine gewonnene. Nachdem ich letzten Sonntag aber schon an die Decke meines Hotelzimmers gestarrt habe, war es dieses Mal Zeit ein Bookmark hervorzuholen, was schon seit Wochen auf meiner To-Do Liste ist. Eine große Wanderung, 15 km, genannt der Genießerpfad Belchensteig (Öffnet in neuem Fenster). Deutschlands schönster Wanderweg 2020!

Es klingt für mich wahnsinnig konservativ, dass ein solcher Wanderweg mein sonntägliches Happening ist - besonders, wenn ich mir überlege, auf was für Festivitäten du dich zeigleich herumtreibst. Aber für mich bot es genau das, was ich gebraucht habe: Ruhe. Stille. Natur. Und endlich eine Möglichkeit, mich von Input zu verabschieden, mich loszusagen, von all dem, was auf mich einprasselte. Blöd nur, dass in solch stillen Momenten, natürlich dir plötzlich To Do's einfallen, die du noch nicht erledigt hast. Wollte ich nicht noch XY anrufen? Den und den über diese eine Änderung informieren? Bei so und so nachfragen, ob das und das wirklich bestätigt ist? Es ist schrecklich. 

Deswegen habe ich auch erstmal Zeit damit verbracht, durch Podcasts neuen Input zu bekommen, um meinen Kopf thematisch abzulenken. Irgendwie hat das geklappt und mich auch zum Weiterdenken gebracht, was mich in die günstige Situation bringt, dir diesen Brief zu schreiben, also, mal wieder, filmfremden Output herzustellen. Eine Nichtigkeit von außen betrachtet, für mich aber ein großer Erfolg.

Diese Wanderung war hingegen wirklich sehr schön. Die Komplettwanderung ist auf 6 Stunden angesetzt. Ich hab knapp 4 1/2 gebraucht, habe aber gerade während der ersten Hälfte aber auch Zeit gebraucht, das Wandern nicht als Wegstrecke zu begreifen, die ich hinter mich bringen muss, sondern als Prozess, den ich genießen soll, wo ich mich umgucken soll, wo ich innehalten kann. Kennst du diese Auslaufstreifen für LKWs in Bergregionen? So habe ich mich zuerst gefühlt. Die ersten Kilometer brauchte ich quasi einzig und allein um mein Tempo zu drosseln und mich aus dem Alltag zu lösen. Dann wurde ich irgendwann langsamer, fand meinen Rhythmus und befreite meinen Kopf. 

Mein Kopf wanderte zu einer Frage, die mich schon länger umtreibt, die jetzt auch mal hier ihren Platz finden muss, auch an dich gerichtet, Kai: Was ist es eigentlich, was du willst? Und was ist es eigentlich, was du brauchst?

Die Wants und Needs sind in der klassischen Filmerzählung wichtige Attribute, sind Teil der klassischen Heldenreise beim Film. Das eine ist, was die Heldin will, das andere, was die Heldin wirklich braucht.
Beispiel: Petra will den Wettbewerb gewinnen, aber was sie eigentlich braucht, ist von ihrer Mutter für das akzeptiert zu werden, wer sie wirklich ist. 

Das ist das Grundprinzip: Ein Charakter will etwas, braucht aber etwas ganz Anderes, um glücklich zu sein. Der Film bzw. die Geschichte begleitet den Charakter auf diese Reise, diesem Prozess. Es gibt auch Abwandlungen natürlich: Heldin X will Z. Um erreichen von Z, muss sich X aber erst einmal verändern. Ein Beispiel dafür ist Findet Nemo. Um Nemo wiederzufinden, muss Nemos Vater Marlin seine eigenen Ängste besiegen und Nemo vertrauen. Erst dann kann die Familie wieder vereint werden. 

Warum dieser Ausflug in die Drehbuchtheorie? Weil ich vorgestern auf meiner schönen Wanderung, das mich selbst gefragt habe. Weiß ich denn noch, was ich will? Oder weiß ich, was ich gerade brauche? 

Es ist ein ziemlicher Stress gerade bei mir und ich habe ein bisschen das Gefühl, den inneren Kompass aus den Augen verloren zu haben, mir die Frage zu beantworten, was ich will oder brauche. Das Wollen ist dabei natürlich einfacher zu beantworten als das Brauchen. In einer Zeit, in der viele Menschen etwas von mir wollen, verliere ich immer mehr aus den Augen, was ich eigentlich will. Ist es deckungsgleich? Ich bezweifle es.

Früher war ich da klarer. Auch im Kommunizieren eben eines solchen Plans. Ich hatte konkrete Ziele, 5-Jahrespläne, sowas. Das habe ich mittlerweile alles aus den Augen verloren. Natürlich sei dahin gestellt, ob die damaligen Pläne wirklich von mir kamen oder doch eher das waren, was mir von außen als "Erfolg" definiert wurde. Sag mal Kai, hast du sowas eigentlich?  5-Jahres Ziele oder sowas?

Ich merke, dass ich mich stetig davon abgelenkt fühle, meine Wünsche und Bedürfnisse zu realisieren, dafür gibt es einfach zu viele Geräusche drumherum. Ich habe auch das Gefühl, dass wir gesellschaftlich so aufgestellt sind, dass wir mittlerweile eher kurzfristig denken. Es geht doch vielerorts weniger um das, was in zwanzig Jahren ist, als das, was in zwei Jahren ist.
Oder ist das nur meine Wahrnehmung?  Es passt zumindest zu dem, womit wir gesellschaftlich zu kämpfen haben.

Auf dem Gipfel des Belchens kannst du bei gutem Wetter übrigens bis zum Mont Blanc und zu den Alpen blicken. Es war leider ein Tick zu bewölkt dafür, aber das machte mir nichts aus. Es war trotzdem eine ungewohnte Ruhe da oben. Wenigstens dort.

In der klassischen Heldenreise, nach allen Wants und Needs und inneren Konflikten, die besiegt werden, kommt die Heldin am Ende an ihr Ziel an, besiegt den Drachen, gewinnt das Turnier, findet ihren Partner. Das Happy End. Das ist natürlich sowieso schon trügerisch, da der Film nie zeigt, was danach passiert (außer The Graduate (Öffnet in neuem Fenster)).
Natürlich (und zum Glück) ist das Leben etwas komplexer als eine klassische Heldenreise eines Films. Wenn unser Abspann läuft, merken wir es voraussichtlich schon nicht mehr. 

In der Wahrnehmung der eigenen Endlichkeit finde ich es aber so um so dringender mir zu fragen, zwischen all den Geräuschen und Einflüssen von außen, dem Wollen der Anderen: Was will ich? Und noch wichtiger: Was brauch ich? 

Weißt du es, Kai? Derzeit zucke ich noch etwas resignierend mit den Schultern. Diese Wanderung war aber auf jeden Fall wirklich sehr schön und erholsam. Auch das ist ja schon was. 

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=2UMI0YXcV-A (Öffnet in neuem Fenster)

(Wir sind Helden - Wir müssen nur wollen)

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