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Moin Kai,

Ich grüße dich aus Bremen. Der Nordwind pfeift mir um die Ohren, ich höre die Möwen aus meinem Hotelzimmer - es ist schön, mal wieder im Norden zu sein! Als gebürtiges Nordlicht merke ich meine Verbundenheit zum flachen Nordland immer leider erst, wenn ich da bin. Um so mehr bin ich froh, mal wieder für eine Weile hier zu sein, wenn auch nicht in meiner Heimatstadt. Wusstest du, dass Bremen eigentlich ne echt sympathische Stadt ist? 

Ich bin besonders beeindruckt, wie freundlich die Menschen sind. Nichts von der mürrischen norddeutschen Art zu spüren, die ich aus meinen Hamburger Zeiten eigentlich im Kopf hatte und das Klischee vorgibt. Jetzt bin ich also hier für eine Weile, bis zum Ende unserer Sommerpause. Und mit dem Ende unserer Sommerpause beginnt auch die Zeit des heißen Wahlkampfs. 

Ich spüre in deiner Mail großen Unmut. Und ich kann ihn verstehen. Das Gefühl ist angebracht. Es ist gerade ein bisschen so, als würdest du aufs Deck der Titanic laufen und mit wilden Kommandos in letzter Sekunde verhindern wollen, dass das Schiff den Eisberg rammt und der Kapitän dir nur zurückraunt: "Ja wir sehen das ja auch alle mit dem Eisberg kritisch, aber schrei doch bitte nicht so." 

Zum Glück gibt es bald keine Eisberge mehr.
Zynismus beiseite: Die meisten Menschen sind sich der Gefahr nicht in dem Maße bewusst, wie sie dir bewusst ist, Kai. Das wird sich auch nicht so schnell ändern. Ich fühle mich dieser Tage an meine Zeit in Uganda erinnert. Da war ich vor sieben Jahren und habe eine NGO (Öffnet in neuem Fenster) namens Fontes für einen Monat begleitet.

Die Situation vor Ort: Die Einwohner der Dörfer nutzen das normale Wasser aus Flüssen und Seen als Trinkwasser. Da die Flüsse und Seen aber nicht nur zum Trinken, sondern für alles genutzt wurden, sind sie verunreinigt und der Ursprung von vielen vermeidbaren Krankheiten.
Was macht Fontes? Sie implementiert in diesen Dörfern Wasseraufbereitungssysteme und schafft somit die Grundlage für sauberes Trinkwasser.

Mit der westlichen Brille würden wir uns denken: "Wenn da eine westliche NGO hinkommt und den kleinen Dörfern die Möglichkeit bietet endlich an sauberes Trinkwasser zu bekommen, sind die bestimmt total dankbar! Und sie hüten und pflegen die Anlage und in Windeseile ist das Problem aus der Welt geschafft!"

Wie du dir jetzt wohl bereits denken kannst, war die Realität eine andere. Doch was sprach gegen das neue, saubere Wasser?
Hauptsächlich kristallisierten sich zwei Probleme heraus: Der erste ein finanzieller: Das saubere Trinkwasser sollte umgerechnet 3 Cent pro Kanister kosten. Ein Betrag, der auch für dortige Verhältnisse bezahlbar war, aber wo sich viele Menschen dennoch vor Ort gefragt haben: "Moment, warum soll ich denn jetzt plötzlich mehr zahlen? Es geht doch nur um Wasser?"

Der zweite, ein kulturell-traditioneller: "Wir haben doch schon immer das Wasser aus dem See geholt - jetzt kommt hier eine Organisation und will uns vorschreiben, wo wir unser Wasser herholen sollen?!"

Diese NGO war schon damals zehn Jahre in Uganda tätig und war zum Glück schon an einem anderen Punkt. Sie konzentrierte ihre Arbeit damals auch nur auf fünf Dörfern, bei denen sie ständig mit Rückschlägen zu kämpfen hatten, aber dran blieben. Mal lief es gut, mal nicht. Mal war die Anlage kaputt. Mal musste man die gesamte Arbeit wieder von vorne beginnen. Ein ständiges Auf und Ab. Der Grund, warum die Systeme letztlich doch angenommen wurden, waren aber nicht neue wissenschaftliche Studien, die die Dorfbewohner endlich überzeugten, dass das wohl doch ne gute Sache ist. Sondern das jahrelange Aufbauen von Vertrauen.
Ich habe dieses sehr komplexe Thema jetzt mal zusammengefasst, da hängt natürlich noch viel mehr hinter (wenn du willst, kannst du diesen Blog (Öffnet in neuem Fenster) von Daniel noch nachlesen, der als Freiwilliger die NGO zu meiner Zeit begleitet hat).
Warum ich davon aber jetzt schreibe, kannst du dir glaub ich denken.
Was in Uganda das Wasser war, ist in Deutschland gerade das Benzin.
Eine Feststellung, die so eigentlich schon schlimm genug ist. 

Werden wir im Herbst jemanden in die Regierung wählen, der oder die die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Vertrauen aufbaut, nötige Veränderungen einzuleiten, auch wenn es für jeden einzelnen schmerzhaft wird?
Oder wählen wir eine Regierung ins Amt, an die wir hauptsächlich den Wunsch haben, uns in Ruhe zu lassen? Ich weiß es nicht, bisher fühlt sich diese Wahl jedoch wenig historisch an.

Was mir persönlich im deutschen Wahlkampf mal wieder fehlt, ist die inbrünstige Lust auf was Großes. Deutsche Politik, zeichnet sich eigentlich nie dadurch aus, große Visionen für die Zukunft zu haben, sondern meist reicht eine die Rolle als Moderation, selbst in Wahlkampfzeiten. Es scheint nicht Teil unseres gemeinen Politverständnisses zu sein, dass das nötig ist. Warum ist das so?

Ich will sicherlich keine amerikanischen Wahlkampfverhältnisse, dennoch denke ich, ist die identitätsstiftende Ebene von Politik für eine Gesellschaft nicht etwas, was nur negativ sehen sollten. Ich fänds schon okay, wenn die politischen FührerInnen unseres Landes als Vorbilder dienen würde. Es wäre gut für uns, wenn es so wäre. Das Potential erkenne ich aber leider nur bedingt, genauso wenig wie der eigene Anspruch der Beteiligten. Maskenaffäre, Cum-Ex...you name it.

Kai, wie werden wir in fünfzig Jahren auf diese Zeit zurückgucken? Über wen werden Songs geschrieben, Geschichten erzählt, Filme gedreht? Wird es das überhaupt geben? 

Ich habe im Lockdown das Musical Hamilton geguckt und bis heute komme ich immer wieder in Phasen rein, in denen ich den Soundtrack rauf und runter höre. Das Musical fasziniert mich musikalisch und dramaturgisch, aber auch historisch. Klar, wir wissen beide, das dort Fakten geschönt und romantisiert wurden. Geschenkt. 

https://www.youtube.com/watch?v=DSCKfXpAGHc (Öffnet in neuem Fenster)

Aber trotzdem regt sich da was in mir, wenn im Song Yorktown das Ende des Unabhängigkeitskriegs besungen wird, wenn es im Song heißt "The world turned upside down" und du in diesem Musical siehst, wie hier Geschichte geschrieben wird - menschengemacht.
Und wenn ich sehe, dass 240 Jahre später die Auswirkungen des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs immernoch eine Rolle spielen, wird mir bewusst, welche Verantwortung wir für die nächsten 50, 100, 200 Jahre tragen könnten, wenn wir denn wollen. 

Wenn diese Krise menschengemacht ist, können wir auch für einen menschengemachten Wandel sorgen. Ich komme nur immer mehr auf den Trichter, dass Vernunft und Wissenschaft uns da nur bedingt gesellschaftsübergreifend überzeugen werden, sondern eher Menschen mit breiter Brust, die vorgehen mit der Überzeugung, dass wir es gemeinsam schaffen werden.
Klingt nach charismatischer Ökodiktatur für dich? Für mich leider auch. Und weiß Gott nicht das, was ich will. Ein Dilemma.
Wie kommen wir aus dieser misslichen Lage heraus? Vielleicht sind wir ja in fünf Wochen weiter. Manchmal hilft ja ein wenig Abstand, ein wenig ma. 

Ich wünsche dir einen schönen Sommer.

Liebe Grüße

Sven

https://youtu.be/b5VqyCQV1Tg?t=186 (Öffnet in neuem Fenster)

(The Company of Hamilton - Yorktown (The World Turned Upside Down))

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