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Lieber Kai,

Ich hatte mir letztes Jahr einen Abrisskalender des amerikanischen Magazins The New Yorker gekauft, ein Cartoon überlebte dabei den Jahreswechsel und hängt seitdem über meinem Schreibtisch. 

Was sollen wir in dieser Zeit fühlen? Was ist ein passendes Gefühl dazu, was gerade in der Welt passiert? Wut? Trauer? Oder überwiegt gar die Resignation, das Gefühl der Betäubung?
Halt mich für verrückt, aber ich habe letztes Wochenende aus einer Laune heraus Flüge nach Kabul herausgesucht. Nicht mit der ernsthaften Absicht hinzufliegen, eher aus Neugier, ob das überhaupt so geht. Hatte ich eben noch nie gemacht, so einen Flug nach Afghanistan rauszusuchen. 

Und siehe da: Letztes Wochenende hätte ich noch einen Flug nach Kabul buchen können, für ca. 400 Euro One Way über Istanbul mit Turkish Airlines.  Die Reisezeit war sogar noch ganz annehmbar. Schon verrückt, dachte ich mir schon damals. Dass das noch möglich ist.
Schon aberwitzig die Idee: Einen halben Tag unterwegs, Bordsnacks noch schnell knabbern, Anschnallzeichen geht aus und schwupps: Willkommen in der Hölle auf Erden.

Das war noch zu einem Zeitpunkt, wo die meisten "Experten"  davon ausgingen, dass Kabul sicherlich so drei Monate durchhalten würde. Dass es nicht einmal drei Tage dauern würde, bis die Taliban die schwarz weiße Flagge ihres sogenannten Islamischen Emirats über dem Präsidentenpalast hissen konnten - das lässt glaub ich immernoch die meisten ziemlich fassungslos zurück.

Überraschenderweise ist der Flug nach Kabul auch jetzt noch möglich, jetzt aber nur noch über Islamabad, also Pakistan, oder Neu-Delhi. Ist auch nur ein wenig teurer, dauert aber dafür wesentlich länger. 

Wie merkwürdig, dass ich immernoch einen solchen Flug buchen könnte. Jetzt, in dieses Land, aus dem so schlimme Bilder kommen. Vielleicht dürfte ich als deutscher Staatsbürger sogar immernoch einreisen.

Andersherum sieht die Sache anders aus. Afghanistan ist für die meisten zur Falle geworden. Für alle Menschen vor Ort, die in den letzten zwanzig Jahren an eine demokratische, pluralistische Idee für Afghanistan geglaubt haben, denen wird jetzt der Vogel gezeigt.
Egal wie viele Rettungsflüge unterwegs sind, es werden noch viele weitere Menschen ermordet werden, die für Afghanistan nicht die Scharia wollen. Ein Alptraum. Wegschauen darf aber keine Option sein. Was wir daraus genau zu lernen haben, vermag ich aber nicht zu sagen. 

Und während im Impf-Paradeland Israel die Delta Variante reihenweise Geimpfte befällt (Öffnet in neuem Fenster) und die schlimmsten Waldbrände der jüngeren kanadischen Geschichte gerade British Columbia verwüsten (Öffnet in neuem Fenster), ist es für mich ein mulmiges, fast schon schuldiges Gefühl hier gerade wieder mein ruhiges, friedliches Berliner Leben zu zelebrieren. Und gerade durch die ansteigenden Corona Zahlen wirkt es nicht so, als würde dieses friedliche Leben lange anhalten.

Nochmal abschließend zum Thema Aiwanger: Ich glaube da kommen wir nicht so richtig auf einen Nenner, auch wenn ich dir in vielen Punkten recht gebe.
Du sagst:

Deshalb finde ich es so gefährlich, sich positiv auf ihn zu beziehen,  selbst wenn in einem Interview aus Infamie und Ignoranz ein richtiger  Gedanke stecken mag. Ein Tropfen Wasser macht aus einem mit Öl  verseuchten Tümpel auch noch keinen Bergsee.

Aus der Führerscheinprüfung weiß ich noch: 1 Tropfen Öl kann bis zu 600 l Wasser verunreinigen. Also habe ich sicherlich nicht vor aus Aiwanger einen Bergsee zu machen. Es geht nicht darum ihm Pluspunkte zu geben, ihm ein gewonnenes Argument zu schenken. Dennoch empfinde ich es in dieser hitzigen Debatte wichtig, richtige oder nachvollziehbare Argumente als solche gelten zu lassen, um die Gegenseite und den gesellschaftlichen Kontext außerhalb meiner Blase zu verstehen.
Und falls wir in dieser Pandemie zu dem Punkt kommen, wo Postkarten des Berliner Bürgermeisters die Impfmuffel oder Impfverweigerer*innen nicht mehr zu motivieren vermögen...

... dann möchte ich bis dahin verstanden haben, wieso das so ist. Und um so eher ich diese Argumente nachvollziehen kann, desto erleichterter bin ich. Ist es doch ein Beleg dafür, dass wir doch alle vom gleichen Planeten kommen. Nur weil Herr Aiwanger die Grünen verteufelt, werde ich nicht ihm dem Gefallen tun und ihn genauso in eine schwarze oder weiße Schublade stecken. 

Für neuen Input zu dem Thema hier ein weiteres Impfkritikbeispiel: Ein kurzer Radiobeitrag von Ulrike Guérot (Öffnet in neuem Fenster) vom Juli, die dort die Impfstrategie kritisiert und sich sehr auf den Freiheitsbegriff bezieht. Auch da wirst du einige Dinge finden, denen du deutlich widersprechen wirst (ich auch), aber finde ich die offene Debatte wichtig, gerade, wo nun also doch die Stiko die Impfempfehlung auch für Kinder und Jugendliche (Öffnet in neuem Fenster) ausgegeben habt, also die nicht mündige Bevölkerung. Mir macht da die einseitige Debatte schon Sorge.

Was mir zusätzlich Sorgen macht, durch die Geschehnisse in Israel, ist die Tatsache, dass wir uns ab Oktober nicht mehr kostenlos testen lassen können.  Ist es doch bewiesen, dass wir als Geimpfte dennoch den Virus weitergeben können. Warum also nicht mehr kostenlos testen? Wegen den x-Prozent, die sich nicht impfen lassen wollen? Ich finde das gefährlich, fahrlässig. 

Zu den doch eher herbstlichen Temperaturen in diesem August habe ich am Ende noch eine Filmempfehlung für dich, die den Blick in eine andere Richtung lenkt und dich vielleicht dazu bringt mal wieder ins Kino zu gehen (ja, die gibt's tatsächlich noch).  
Ein Film, det sich seit der Berlinale 2020 tief in mein Herz eingemummelt hat. Der Film Gunda, über das gleichnamige Hausschwein, das hier in diesem Film die Hauptrolle spielt. Wenn du jetzt an Ein Schweinchen namens Babe denkst, würde ich dir zwar gerne lauthals Mäh ihr Schafe!! entgegen rufen, muss aber doch den Kopf schütteln.
Gunda ist aber viel stiller, ruhiger, poetischer. Aber sieh selbst:

https://www.youtube.com/watch?v=1a3dIFbKNb0 (Öffnet in neuem Fenster)

Es ist ein versöhnliches Kinoereignis. Vielleicht genau das Richtige in diesen trüben, bitteren, unsicheren Zeiten. 

Ich freue mich auf deinen nächsten Brief. Und wenn der innere Sturm bei dir durch Afghanistan, Corona und die Klimakatastrophe tobt, dann empfehle ich dir für meinen heutigen Song deine Musikanlage besonders laut aufzudrehen und die Augen zu schließen. Nie war die Tuba für mich rührender, tröstender.

Ich wünsch dir noch einen schönen Sonntag.

Ganz liebe Grüße

Dein Sven

https://www.youtube.com/watch?v=_uM9ks7AhSw (Öffnet in neuem Fenster)

(Daniel Herskedal - The Mistral Noir)

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