Lieber Sven,
ich schreibe Dir diesen Brief aus der Vergangenheit. Oder aus der Zukunft? Jedenfalls, während Du diesen Brief liest oder auch nicht, sind bereits zwei Tage vergangen, seit ich an meinem Küchentisch gesessen und Dir geschrieben habe. Und diesmal drehe ich unsere Reihenfolge um. Erst kommt die Musik, dann die Gedanken.
https://www.youtube.com/watch?v=Mj9SzzLPh-w (Öffnet in neuem Fenster)Ich habe dieses Video vor ein paar Wochen zum ersten Mal gesehen und gucke es mir seitdem immer wieder an, weil in ihm alles zum Ausdruck kommt, was mich im Moment davon abhält, mich an der Kante des Tisches zu verbeißen, an dem ich gerade sitze.
Ich wache auf und höre die Nachrichten aus Afghanistan, wo Frauen, Männer und Kinder in der Hölle gestorben sind, während sie darauf gewartet haben, der Hölle zu entkommen.
Ich öffne meinen Computer und sehe Posts der ganzen Schlaumeierinnen und Schlaumeiern, die mir jeden Tag aufs Neue weismachen wollen, dass sie so viele Daten und Fakten in sich hineingefuttert haben, dass sie in Sachen Corona und Impfung besser Bescheid wüssten als die Wissenschaft, die Tag für Tag um Erkenntnis ringt, Risiken abwägt und Entscheidungen zu treffen hat, die notwendigerweise immer unvollkommen sind, weil die Natur und das Leben und vor allem das, was wir daraus gemacht haben, unvollkommen sind.
Ich habe mich bei meiner zweiten Impfung mit meinem Hausarzt unterhalten. Ein Mann, der seine Praxis bei mir in der Nachbarschaft schon seit Jahrzehnten führt, bald in Rente geht und in seiner ganzen gesundheitssandaligen Würde vor mir stand. Der sagte auf meine Frage, wie er die Debatte ums Impfen erlebe: „Ich sehe, wie sich der Korridor an Ansichten und Meinungen in der Öffentlichkeit immer weiter verengt, und das macht mir Sorgen. Aber in einer Demokratie, in der wir Menschen nicht einsperren und ihnen Befehle erteilen können, können wir mit einer solchen Pandemie immer nur unvollkommen umgehen. Es ist ein ständiger Abwägungsprozess, bei dem wir nie die zu hundert Prozent richtige Entscheidung, sondern nur so wenige falsche wie möglich treffen können. Und natürlich spielt dabei eine wesentliche Rolle, wohin sich unsere Zivilisation entwickelt hat. Wir leben zusammen auf zu engen Räumen. Wir haben zu ungesunde Lebensstile entwickelt. Und wir haben damit ideale Voraussetzungen für ein Virus geschaffen, das sich in Windeseile um die ganze Welt verbreiten kann. Solche Wettrennen werden wir künftig nur gewinnen können, wenn wir grundsätzlich unsere Art zu leben und zusammenzuleben verändern. Aber das ist ein Prozess, dessen Dauer nicht zusammenpasst mit der Geschwindigkeit eines Virus.“
Als ich, mit einem Pflaster auf dem rechten Oberarm und dem guten Gefühl, das Richtige getan zu haben, aus seiner Praxis ging, wusste ich einmal mehr: Wir sind der Welt, die wir uns erschaffen haben, einfach nicht mehr gewachsen. Und deshalb habe ich auch keine Lust mehr, mich noch länger mit Männern wie Hubert Aiwanger zu beschäftigen. Sie reduzieren die kollektive Überforderung auf Gedanken, die auf den ersten Blick richtig scheinen mögen, aber schon auf den zweiten zu wackeln beginnen wie ein schlecht verschraubtes Gerüst im Herbstwind.
Ich will stattdessen stundenlang Videos wie das oben sehen und dabei davon träumen, dass es uns gelingen wird, uns kollektiv zu heilen, auch wenn mir klar ist, wie aussichtslos das alles ist. Aber es ist ein Video von Menschen, die dem Auseinanderfallen von Gesellschaften ihren Humor, ihre Trompeten, Tuben und Gitarren und ihre Liebe entgegenhalten. Die einen Song spielen, von dem wir wissen, wie naiv er ist. Heal the world! Von einem Mann, der selbst nie erwachsen wurde und sich so lang in seinem kindlichen Glauben an eine bessere Welt verhedderte, dass er daran zugrunde ging und genau jene mit sich riss, deren Welt er heilen wollte. Aber ich habe mal den klugen Satz gelesen: Die wichtigste Eigenschaft, die wir uns als Erwachsene bewahren müssen, ist unsere Naivität. Ich will mir meine Naivität bewahren bis zum letzten Atemzug.
Mein lieber Sven, wenn dieser Brief in Deinem Postfach landet, stehen wir hoffentlich gerade mit einem Becher Sekt beisammen, umgeben von Menschen, die so viel Liebe in sich haben, dass die bald acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten voll laufen könnten damit. Die Tragik unserer Zeit besteht jedoch auch darin, dass wir so viel Liebe zu geben hätten, aber nicht alle damit erreichen können, weil unter uns auch jene leben, die mit ihrem Hass und ihrem Zynismus, ihrem Egoismus und ihrer Klugscheißerei ebenfalls Menschen zu erreichen imstande sind, und die lassen sich dann davon Sinne und Synapsen vernebeln und ich prophezeie, wir werden bei der Bundestagswahl in vier Wochen erleben, dass die Weltverächterinnen und Weltverächter immer noch genug Mobilisierungspotential haben, um unsere Demokratie mitzugestalten, da können hier bei uns in Deutschland noch so viele Häuser auf eine Weise in sich zusammenstürzen, wie wir das noch tags zuvor für unmöglich gehalten hätten. Aber das ist ja auch eine gute Nachricht. Eine nicht mehr funktionierende Demokratie wäre die viel schlechtere.
Wir sind der Welt, die wir uns erschaffen haben, einfach nicht mehr gewachsen. Und trotzdem bin ich froh, ein Teil davon zu sein, gemeinsam mit Dir und den vielen anderen, denen ich jeden Tag zurufen will, wie sehr ich sie lieb habe. Mit der unerschütterlichen Liebe in uns und der Gewissheit, damit nicht allein zu sein, heilen wir die Welt, in der wir gemeinsam leben, jeden Tag ein bisschen mehr und das macht mich glücklich.
Prost,
Dein Kai
PS:
https://www.youtube.com/watch?v=Mj9SzzLPh-w (Öffnet in neuem Fenster)