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Lieber Kai,

Auch ich habe jetzt schon eine Woche ausgelassen und nicht von mir hören lassen. Pardon! Es ist eine hektische Zeit bei mir. Ich bin gerade mitten in Dreharbeiten, was in meiner Position als 1. Regieassistenz ungefähr bedeutet, dass ich mindestens 12 Stunden pro Tag für den Drehtag unterwegs bin, manchmal komplett am Tag, manchmal komplett in der Nacht, quer durch Berlin und Umgebung, fast jeden Tag woanders - und da ist die Home Office Zeit zuhause nicht einberechnet!

Es ist eine hektische Zeit, in der ich jeden Tag aufstehe und zwar weiß, was wir jeweils drehen werden, aber der Kopf gespickt ist mit offenen To-Do's, um die nächsten Tage auch adequat mit den unterschiedlichen Departments abzusprechen und vorzubereiten. Sind die Kostüme für den Stunt mehrfach da? Welche kleinen Sprechrollen sind noch offen? Sieht das Stunt Double den Schauspieler ähnlich? Wird es bei der Pool Szene regnen? Es sind solche Fragen, die mich umtreiben, jeden Tag aufs Neue, mit denen ich aufwache und schlafen gehe und zwischendurch drehe ich die Szenen des Tages, über die ich danach, glücklicherweise, nicht mehr als To-Do nachdenken muss, sondern nur noch als abgehakt. Diese Aufgaben beanspruchen sowohl physisch als auch psychisch, da es einfach wahnsinnig viele Dinge gibt, an die man denken muss und meine Rolle beinhaltet, diese Dinge möglichst gut im Kopf zu behalten. 

Das klappt nicht immer. Jeden Tag passieren Fehler, mache ich Fehler. Ich könnte Bücher darüber schreiben, was ich schon alles mir für Fuck Ups geleistet habe. Aber ich habe mittlerweile ein fast therapeutisches Verhältnis dazu entwickelt, weswegen ich insgesamt ein hohes Verständnis für Fehlbarkeit entwickelt habe. Ich würde jetzt gerne dir ein paar Fotos vom Dreh zukommen lassen, aber das ist mir vertraglich leider untersagt. Deswegen hier ein Bild von einem wunderschönen Sonnenaufgang, den ich an einem unserer Lieblingsorte vor zwei Wochen erleben durfte. 

Das Bild ist nach einer langen Drehnacht entstanden, nach Szenen mit Regen, Stunt und allem drum und dran. Anstatt in die Stadt zu fahren sind der dir bekannte Regisseur, die Kamerafrau und ich eben an den See gefahren und haben dort übernachtet. Eine wahnsinnig tolle Idee, die ein bisschen Ruhe reinbrachte nach der Hektik des Drehs.

Ich habe deinen Brief recht spät gelesen. Und daraufhin habe ich auch meinen letzten Brief nochmal gelesen, wo auch ich ja schon über das Thema Fehlbarkeit sprach. Das Interessante ist, dass ich mittlerweile in einer anderen Position bin, als noch am 24. April. Diesmal bin ich weniger an der Klagende, als der Angeklagte. Tatsächlich habe ich live mit angesehen, wie ich, in meiner Situation als gestresster Arbeitnehmer, immer weniger von dem vorgelebt habe, was ich im Privaten doch so sehr beherzigen möchte. 

Bei einer Filmproduktion wird tagtäglich ein Fuhrpark aufgefahren, der einen nur staunen lässt. Mobile für Maske, Garderobe, Schauspieleraufenthalte, Teamaufenthalte, mobile Toiletten, mobiles Catering, dazu Sprinter und LKWs der einzelnen Abteilungen - es sind locker 20-30 PKW und LKW, die Teil dieser kleinen Filmstadt sind. Und die täglich sich bewegen. Wie sonst will man sonst jeden Tag woanders drehen können? Wie soll man sonst teilweise im Nirgendwo die Filme und Serien drehen, mit denen wir gemütlich zuhause einschlafen, oder die uns im Kino in den Sitz fesseln?

Es gibt auch hier natürlich Bestrebungen, Produktionen grün zu machen. Green Shooting nennt sich das. Und auch die Filmbranche hat einen eigenen "For Future" (Öffnet in neuem Fenster)-Ableger. Doch je größer die Produktion ist, je größer die Maschinerie ist und die Geschwindigkeit, in der man drehen soll, desto weniger ist es bisher die Realität (zumindest ist dies meine Wahrnehmung). 

Aber das Erstaunlichste: Auch ich merke, wie ich nachlässiger werde, fast schon ignoriere, was ich anstelle. Ich verbrauche z.B. sicherlich gerade ca. 2-3 To-Go Becher, pro Tag. Bei bisher zwanzig Drehtagen sind das mehr als ich sonst im gesamten Jahr brauche. Und fast jeden Tag landet das Fleischgericht vom Catering auf meinem Teller. Dazu das Benzin, um mit dem Wagen zum Set zu kommen, diese ganze Peripherie - mein CO2 Fußabdruck, wenn man ihn denn zurate ziehen möchte, ist allein in meinem eigenen Verhalten wohl größer, als sonst im gesamten Jahr. 

Ich verstehe mich in meinem Verhalten und gerade ohne den Dienstwagen würde ich den Tag nicht schaffen. Wenn ich anstatt direkt mit dem Auto mir täglich auch noch die BVG Verbindung heraussuchen müsste, um zum Set zu kommen, inkl. einkalkulierter Verspätungen, dann würde mein Arbeitstag nochmal zwei Stunden mehr von mir brauchen, also so ca. bei 14 Stunden landen. Da hören die Möglichkeiten auf, dass dies für mich möglich ist. Genauso gibt es Eltern, die nicht nur einen Job schmeißen müssen, sondern auch noch die Kinderabholung, Einkaufen, etwaiges Freizeitangebot eben jener Kinder - das alles ohne Auto? Irgendwann vielleicht, aber grundsätzlich? Ich verstehe, dass das für viele keine Option ist. Die To Go Becher sind sicherlich vermeidbar, aber dann sehe ich schon, wie ich den Alu Becher überall stehen lasse oder ihn nicht ausspüle, weil mein Kopf und Geist schon irgendwo gefordert ist. Und die Energie zum Kochen habe ich am Ende des Tages auch nicht, also hole ich mir etwas vom Inder nebenan. Könnte ich mir mehr Mühe geben, mache ich es mir zu leicht? Ja, bestimmt. Der Camping Alu-Becher ist auch schon bestellt. Aber es bringt mich zu einem Punkt, der mir nie so richtig klar war.

Erstmal klingt es wie ein alter Hut: Dass man sich ökologisches Handeln leisten können muss. Anstatt aber über die Komponente Geld zu sprechen, meine ich hier die Komponente Zeit. Stell dir mal vor, was alles unproblematischer wäre, wenn man sich die Zeit nehmen könnte. Stattdessen ist Zeit eines der gefühlt knappesten Güter der westlichen Welt, nie hat irgendwer für irgendetwas Zeit. Dieses Hamsterrad fordert von uns ein, produktiver und schneller zu sein. Und um das hinzubekommen, wird es dann der To Go Becher, das gelieferte Essen in Aluschalen oder der Dienstwagen. 

Wir pressen möglichst viel in unsere Zeit rein, versuchen das Meiste daraus zu machen - Freunde sehen, Parties besuchen, immer wieder arbeiten (work hard, play hard), auf Konzerte oder Events gehen - bloß kein Stillstand. Natürlich muss diese knappe Zeit irgendwo eingeholt werden. Das kostet Geld und vor allem Zeit. Solange das der Fall ist, solange Dinge nicht dauern dürfen, sondern wir gefühlt immer weniger Zeit für Dinge haben, kann auch der ökologische Wandel meiner Meinung nach nicht klappen. In diesem Sinne hat die Idee von ma, von der ich dir vor genau einem Jahr schrieb (Öffnet in neuem Fenster), auch irgendwie einen ökologischen Aspekt: Inne halten, die Zeit passieren lassen, die Leere zulassen. Es ist nur eine Theorie, aber ich glaube, wenn wir gesellschaftlich weniger das Gefühl hätten, keine Zeit zu haben, hätten wir mehr Zeit diese Welt in einer weise zu formen, wie sie noch etwas länger bedauern könnte. 

Wie schaffen wir es also, wieder Herrinnen unserer Zeit zu sein? 

Liebe Grüße

Sven

P.S. Ich freu mich aufs Wochenende

https://www.youtube.com/watch?v=eKd_iNZeqS8 (Öffnet in neuem Fenster)

(Shungudzo - It's a good day (to fight the system))

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