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Lieber Sven,

Dein Brief traf bei mir ein zwei Tage, nachdem ich Mission Impossible II gesehen hatte. Ich war zufällig darauf aufmerksam geworden, als der Film gerade live in ZDF Neo lief. Live, Sven! Nix Mediathek, sondern linear. So wie damals zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als ich als Teenie mit meiner Mutter und meiner Schwester im Schlafanzug vor dem Fernseher saß für Wetten, dass…?.

Ungefähr so alt muss Mission Impossible sein. Ich weiß noch, was für eine große Sache es war, als der Film raus kam. Motorradjagden, Schießereien, wildes durch die Gegend Gehüpfe und Tom Cruise über, unter und in allem – Gott, ist das alles banal. Ich war damals auch im Kino und bin eigenartigerweise nicht wild durch die Gegend gehüpft vor Zorn über diesen Quatsch, der da 124 Minuten auf der Leinwand passiert. Ein großes Nichts ohne Handlung und mit dümmlichen Dialogen und lächerlichen Wendungen. Was hat sich mein Mitte 20-jähriges Ich dabei gedacht, als es nicht wild schimpfend aus dem Kinosaal marschiert ist? Nichts wahrscheinlich. War ja immer was los, was einen abgelenkt hat von der Stumpfheit der Handlung, gegen die ein 20 Jahre altes Schlachtermesser, das jeden Tag im Einsatz war, ohne einmal geschliffen worden zu sein, ein Samurai-Schwert ist.

Seit Erscheinen des Films im Jahr 2000 geht das Gerücht, der Film sei ohne Drehbuch entstanden. Nach abermaliger Inaugenscheinnahme bin ich sicher: Das kann kein Gerücht sein. Sollte es doch ein Drehbuch gegeben haben, hat es mit Sicherheit auf die Rückseite eines Kassenbons gepasst. Nach einem Einkauf von drei Produkten. Und eins davon war Klopapier.

Du merkst, ich fühlte mich jetzt eher nicht so gut unterhalten an diesem Abend vor einigen Wochen. Aber die Banalität war gar nicht das Schlimmste daran. Das Schlimmste war, dass ich ständig daran denken musste, was dieser Film an Unmengen von Energie verschlungen haben musste. Ständig fliegen Helikopter durch die Luft und rasen Motorräder durch die Gegend. Und das nur vor der Kamera. Ich will nicht wissen, was für eine Logistik nötig ist, um Tom Cruise aussehen zu lassen, als würde er ohne jede Sicherung allein mit der Kraft seines rechten kleinen Fingers einen 800 Meter hohen Felsen irgendwo im Outback von Australien nach oben klettern. Ich fahr ja schon in Berlin ständig vorbei an riesigen Kolonnen von am Straßenrand geparkten LKWs, weil wieder irgendwas gedreht wird. Da stehen dann aufgereiht Klamotten-Truck, Kantinen-Truck, Licht-Truck, Kaffee-Truck, Kamera-Truck und und und. Und abends ist alles wieder weg, damit es am nächsten Tag irgendwo anders weitergehen kann. Den Fußabdruck einer Hollywood-Produktion kann man gegenüber einem handelsüblichen Tatort wahrscheinlich um den Faktor zehn multiplizieren. Und so saß ich da und fragte mich, ob damals irgendwer darüber nachgedacht hat, was für eine große Sünde ein solcher Film ist. Weil er nicht nur eine Welt schick und sexy zu zeigen versucht, die sich durch ihre ständige Wiederholung die Zukunft nimmt, sondern mit seiner Entstehung selbst Teil dieser Welt ist. Muss man so etwas nicht spätestens jetzt verbieten?

Natürlich nicht. Noch weniger als in der Tom Cruise-Welt will ich in einer leben, in der eine Klisi – ein Ministerium für Klimasicherheit – darüber wacht, woran sich eine Gesellschaft amüsiert, aufwiegelt oder abreagiert. Das müssen wir Menschen schon selbst aushandeln, auch indem sich jede und jeder einzelne fragt: Ist das, was ich hier gerade mache, sinnvoll? Braucht es das, woran ich arbeite? Investiere ich meine Zeit, mein Herz und mein Hirn für eine richtige Sache?

Der Gedanke des grundsätzlichen Hinterfragens kam mir auch bei der Lektüre Deines Briefs. Nicht auf das bezogen, woran Du gerade arbeitest. Ich weiß noch nichts darüber und bin sicher, das Ergebnis wird in Anspruch und Ausführung von Tom Cruise so weit entfernt sein wie meine Frisur von der von Mutter Beimer. Aber wenn Du schreibst, dass Du diesen Job nur hinbekommst, indem Du keine Rücksicht nimmst auf das, was Dir selbst wichtig ist, sagt eine leise Stimme in mir: Die Coffee to go-Becher sind doch nicht das Problem, sie sind das Symptom. Das Problem ist, dass wir Sinn- und Handlungssysteme geschaffen haben, deren Erfordernisse das Maß an Rücksichtslosigkeit übersteigen, das wir uns leisten können. Und, zack, sind wir wieder bei der Systemfrage. Wir werden nicht weit kommen, wenn wir in den Strukturen unseres bisherigen Lebens versuchen, zu korrigieren und anzupassen. Wir müssen vielmehr bereit sein, an die Wurzeln der Bäume zu gehen, die seit Jahrzehnten in den Himmel zu wachsen scheinen, der keine Grenzen kennt – und wahrscheinlich müssen wir viele davon fällen.

Aber das schreibt sich natürlich leicht für jemanden wie mich, der für seine Arbeit oft nur einen Computer braucht und eine Steckdose. Und nebenbei Musik hört auf Spotify, was ja auch eine Sünde ist. Du liebst den Film, der Film liebt Dich. Du liebst Menschen und Menschen lieben Dich. Und dann bist Du noch schlau, zuverlässig und gut organisiert. Ich könnte mir keinen besseren Regieassistenten vorstellen als Dich.

Ach, Sven, ich weiß es doch auch nicht. Die Welt, in der wir leben, hat eine Komplexität erlangt, der wir ständig hinterher hecheln. Vor einigen Tagen bin ich durch Berlin gefahren. Es war warm und duftete überall um mich herum nach Sonnencreme. Dazu lief der Song, mit dem dieser Brief heute endet, und ich dachte: Komm, jetzt genieß mal für einen Moment die Sonne und das Privileg, in einem Paradies zu leben, in dem wir immer genug zu essen, lachen und lieben zu haben. Dann bin ich mit einem milden Lächeln durch die Stadt gefahren und habe im Geiste allen, die mir begegnet sind, im Kopf eine Kusshand zugeworfen. Und für Dich: gibts zwei.

Heute Nachmittag bin ich auf meiner Streunerei durch die Stadt neben einer Frau zum Sitzen gekommen, die mir erzählt hat, dass sie vor einigen Wochen aus Kiew nach Berlin kam. Ihre Mutter arbeitet als Ärztin und bleibt so lang in der Stadt, wie sie es aushält. Meine Gesprächspartnerin konnte nicht mehr bleiben – sie sei nur noch nervös gewesen, also habe sie ihre Katze gepackt und sei hierher gefahren. Ich habe wiederum ihr davon erzählt, was im Februar bei uns los war. Wie wir Hilfsangebote zusammengezogen und in großen Runden auf Zoom weitergetragen haben. Wie Menschen am Hauptbahnhof wie an einem Flughafen-Gate in einem riesigen Rudel standen und jeweils schreiend auf sich aufmerksam machten, wenn eine neue Familie durch die Gasse kam, die mit Absperrbändern definiert war. Sie sagte, die Menschen in der Ukraine seien den Deutschen sehr dankbar für das, was wir seit Ausbruch des Kriegs für sie getan haben. Dann haben wir uns verabschiedet und sie fragte, ob sie mal anrufen dürfe, wenn sie jemanden braucht, der sie ein bisschen durch Berlin führt. Klar, sagte ich. In einem Paradies zu leben, beinhaltet für mich auch die Verpflichtung und Bereitschaft, so viele Menschen wie möglich daran teilhaben zu lassen. Wollen wir sie dann ins Open Air-Kino ausführen, Sven? Ich habe gehört, Du kennst Dich mit Filmen ganz gut aus.

Sei gedrückt,
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=O8oUBqyz4q8 (Öffnet in neuem Fenster)

(Hot Chip – Melody of love)

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