Lieber Kai,
Danke für deinen Brief. Ich habe ja die Ungunst der Stunde genutzt und bin vor zwei Monaten umgezogen. So langsam, siehe da, leeren sich auch die letzten Umzugskartons.
Ich ziehe in ziemlicher Regelmäßigkeit um. Bisher liefen alle meine Umzüge nach dem gleichen Schema ab: Alles mitnehmen, nichts wegwerfen und sich denken “Darum kümmer ich mich später.” Dieses Mal wollte ich es anders machen und trennte mich von wirklich einigen Dingen im Vorfeld. Wie erwachsen, oder?! Nichtsdestotrotz hat folgendes Buch den Cut in die neue Wohnung geschafft und kam nun aus einem der letzten vollen Umzugskartons zum Vorschein. Ein echter Survivor.
Es ist ein Buch, das mir eine Lehrerin kurz vor meinem Abitur geschenkt hat. Der Titel: “Die wiedervereinigten Staaten von Amerika”. Ist dieser Titel nicht schon grotesk genug, geht das Buch im Epilog von einem Wahlsieg von Hillary Clinton aus. Dieses Buch entstand nicht letztes Jahr oder 2016, sondern im Frühjahr 2008. Dreizehn Jahre später fühlt sich dieser Titel wie eine Farce an. Vielleicht habe ich aber auch bloß die Pointe nicht verstanden.
Ich bin ganz froh, dass mir dieses Buch in die Hände fiel, beantwortet das für mich doch die Frage Deines letzten Briefs. Das, was du an Ischgl aufgezeigt hast, ist schon länger der Reflex unserer Bubble. Ob gegenüber Hutbürgern oder Aluhüten: Wir, als quasi “Social Media Intelligenzija”, sind recht fest davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen, was uns zu oft dazu empowert, mit entsprechender Selbstgefälligkeit 140-Zeichen-Punchlines zu schreiben und so all den Menschen zu begegnen, die nicht die gleiche progressive, klimaneutrale Haltung an den Tag legen, die wir uns zumindest vormachen zu besitzen. Das ist lustig, das ist unterhaltsam, bringt uns aber keinen Deut weiter.
Grabenkämpfe ohne Austausch, übereinander sprechen, nicht miteinander. Das war schon 2008 so, das ist heute noch viel schlimmer. Und durch Corona zerfallen die einzelnen Gesellschaftsblasen in immer kleinere Teile. Ist überhaupt das große Ganze noch als solches erkennbar? Oder war es schon immer nur ein Schein?
Ich lese derzeit das Buch “Ein Mann seiner Klasse” von Christian Baron. Darin erzählt Baron über seine Lebensgeschichte, in Armut mit prügelndem Vater. Das Buch trägt einen Zauber in sich. Es erinnert mich zudem an meine eigene Kindheit, wirft mich zurück in Situationen als kleiner Steppke im bescheidenen Teil der Hamburger Elbvororte. Eine Kindheit, die zwar im Gegensatz zu der von Baron ziemlich harmonisch war, in der ich aber dennoch merkte, dass es unsichtbare Hürden gab, dass Parallelwelten existierten. Diese Parallelwelten zeigten sich daran, wo man aß, wo man einkaufte, wo man Urlaub machte. Diese Parallelwelten existieren noch immer, klar, mittlerweile sogar digital. Ich glaube, ich habe nur mittlerweile die Seiten gewechselt.
Auch musste ich, warum auch immer, an meine erste wahrgenommene Bundestagswahl denken. Das war die Bundestagswahl 1998. In meinem Bezirk war schon damals auf vielen Plakaten ein Mann zu sehen, dessen Gesicht mich bis heute verfolgt hat.
Quelle: https://twitter.com/FEShistory (Öffnet in neuem Fenster)
Damals gab es ganz klar zwei politische Entwürfe, schwarz-gelb oder rot-grün. Das wusste ich auch damals, ohne zu verstehen, was das eigentlich genau heißt. Meine Mutter hatte auf jeden Fall SPD gewählt und Kohl war blöd.
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber gefühlt war das damals eine heile Welt mit klarer Rollenverteilung. Diese Welt ist ja bekanntlich klar vorbei. Meine Mutter wählt auch, glaub ich, keine SPD mehr. (Öffnet in neuem Fenster)
Heute sieht es nicht nur so aus, als müsse mein ehemaliger Abgeordneter aus Altona wohl der ersten grünen Bundeskanzlerin den Vortritt lassen. Auch die Parteienlandschaft ist gerade stark in Bewegung. Bei den letzten Kommunalwahlen in Frankfurt haben bspw. “weitere Parteien” mit 16,3 % nur 0,7 % weniger Stimmen als die SPD bekommen. In Darmstadt sind jetzt zwölf Parteien im Stadtparlament. Kleinstparteien boomen.
Und obwohl ich mich über den frischen Wind oberflächlich freue, zeigt sich für mich hier die gleiche Zersplitterung politisch, wie wir sie auch gesellschaftlich sehen. Natürlich: Von niederländischen Verhältnisse mit 17 Parteien (Öffnet in neuem Fenster) sind wir im Bundestag durch die Fünf-Prozent-Hürde weit entfernt. Aber ist diese Hürde damit wirklich noch im Sinne des Erfinders? Und überhaupt: Ist diese Zersplitterung Anzeichen einer gesunden Demokratie oder einer bröckelnden?
Es ist wichtig für mich sich darüber auszutauschen, da mich das Gefühl nicht loslässt, dass wir zwar bei der Bundestagswahl einige Überraschungen erleben könnten, wir dann aber, wenn der Rauch verzogen ist und sich eine Koalition gefunden ist, recht schnell wieder ins Tagesgeschäft übergehen und die erstarkten, aber wohl gescheiterten Kleinstparteien oder Direktkandidatinnen als Anomalien wieder in die gedankliche Mottenkiste packen: “Darum kümmern wir uns später”.
Bei so viel Zersplitterung wünsche ich mir gemeinschaftsbildende Momente zurück. Mit x-tausend ZuschauerInnen in einem Stadion zu sein zum Beispiel! Nein, nicht für eine Fußball-WM oder zur politischen Meinungsbildung (Öffnet in neuem Fenster), sondern für ein Konzert. Ich hoffe, Du hoppst ein wenig herum zu meinem Lied, wenn auch nicht schwitzend und schreiend im prall gefüllten Stadion in Buenos Aires, sondern in deinem Wohnzimmer.
Ganz liebe Grüße
Sven