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Lieber Sven,

ich habe in den vergangenen Tagen viele vergiftete Glückwunsch-Telegramme zum ersten Geburtstag der Pandemie gelesen. Sie handelten von der enttäuschten Hoffnung, die Menschheit würde sich vom Überspringen des Virus daran erinnern lassen, dass Solidarität aus mehr besteht als aus scheppernden Töpfen auf dem Balkon. Und davon, dass es dem progressiven Lager nicht gelungen sei, sich zu emanzipieren vom „Das haben wir immer schon so gemacht.“ Die Verantwortung dafür liegt für viele beim Versagen der handelnden politischen Klasse. (Öffnet in neuem Fenster) Das stimmt, ist aber andererseits auch keine Überraschung: Das Virus ist auch eine intellektuelle Herausforderung und wir werden nicht innerhalb weniger Monate die Perspektive auf unsere Welt verändern, die sich über Jahrzehnte eingeschliffen hat.

Ich habe mich bei der Lektüre oft gefragt, was ich für fataler halte: dass wir vor einem Jahr eine Hoffnung formuliert haben, für die schon damals jede Grundlage fehlte, oder dass wir nun eine enttäuschte Hoffnung zum Anlass nehmen, uns von uns selbst bestürzen zu lassen, weil wir merken: Die Welt hat sich ja gar nicht von selbst umgebaut. Ich kann ja auch nicht darauf hoffen, dass mir ein Schnupfen dabei hilft, weniger Wodka zu trinken. Die laufende Nase geht, der Durst bleibt. Wenn wir wirklich etwas verändern wollen, müssen wir dem Wodka auf den Grund gehen, nicht dem Schnupfen.

Insofern war es für mich erhellend, mir eine Reportage anzusehen, die im Januar im österreichischen Fernsehen lief. Der ORF-Reporter Ed Moschitz war dafür an den Ort zurückgekehrt, den er im Winter 2020 schon einmal besucht hatte: Ischgl. Damals hatte Moschitz ursprünglich eine Reportage darüber drehen wollen, wie sich ein kleines Dorf, das noch in den fünfziger Jahren die ärmste Sau Österreichs gewesen war, zu einem Ort entwickelt hat, in dem es die Menschen zu unvorstellbarem Reichtum gebracht haben. Vor 60 Jahren belief sich das Vermögen einer Ischgler Familie auf zwei Schweine und ein Huhn. Heute hat das 1604 Einwohner zählende Dorf (Stand: 1. Jänner 2020) die höchste Dichte an Vier-Sterne-Hotels in ganz Österreich. Aus der Lust der Menschen am besinnungslosen Rausch – tagsüber auf Skiern, abends auf Jägermeister – ein Vermögen zu machen, an dem alle, wirklich alle in Ischgl teilhaben – das ist die wahre Magie der Tiroler Hüttenzauberer.

Dann kam Corona und das ganze Dorf versuchte, vor dem drohenden Kater davon zu rennen, mit den bekannten verheerenden Folgen für ganz Europa.

Das Versagen der Ischgler ist aber nur die eine Hälfte der Geschichte. Die andere ist, dass sich ihre Gäste so lange die Lust am Rausch nicht nehmen lassen wollten, bis sie selbst Opfer davon wurden – und dann mit dem Finger auf die Trottel aus Tirol zeigen konnten. Relax if you can – so lautet die Botschaft, mit der Ischgl seine Besucherinnen und Besucher lockt. Eigentlich aber muss es heißen: Realitätsflucht so lange you can.

Jetzt war Moschitz wieder vor Ort, um mit den Leuten darüber zu plaudern, wie sie sich auf den nächsten Winter vorbereiten. Und natürlich hatte niemand Lust, sich von ihm befragen zu lassen. Für sie ist Moschitz der Mensch gewordene und zu Unrecht erhobene Vorwurf. Eine Frau sagt in der Reportage, sie habe schon zwei Zeitungen abbestellt – so, als könne man der Realität einfach kündigen, wenn man sie nicht mehr erträgt. Der Chef des örtlichen Tourismusverbands steigt in seinen Luxus-Wagen und fährt vor laufender Kamera einfach davon. (Öffnet in neuem Fenster)

Zur entscheidenden Szene des Films aber kommt es kurz vor Schluss. Derselbe Ischgler Tourismus-Obmann, wie es im Österreichischen so schön heißt – Alexander von der Thannen –, erklärt sich dann doch noch bereit zu einem Gespräch. Den Tränen nah sagt er da:

„Unsere Eltern, unsere Großeltern haben mit sehr viel Herzblut und sehr viel Weitblick etwas geschaffen und uns in der zweiten, dritten Generation ein Vermächtnis hinterlassen, auf das wir stolz sind. Und dass wir jetzt die erste Generation sind, die mit leeren Betten da steht zum Saison-Opening, ist emotional nicht lustig.“

Für mich ist das ein symptomatischer Moment, den wir im Blick behalten müssen bei all dem Veränderungseifer, von dem gerade so viele erfasst sind. Es ist ja im Moment total angesagt, (Öffnet in neuem Fenster) auf die depperten Tiroler mit den Eiskristallen im Hirn zu schimpfen, die eher ihre Mütter verkaufen würden als ihre Hütten zu schließen. Aber das Geld ist nicht alles. Worum es den Leuten in Ischgl ganz offenkundig auch geht: Ischgl ist an einer Grenze des Wachstums angekommen. Was in den sechziger Jahren mit dem Bau der längsten Seilbahn Österreich begann, ist ins Stocken geraten. Einzusehen, dass das scheinbar ewige Streben nach Fortschritt, in dem die eine Generation fortentwickelt, was sie von der anderen übernommen hat, an ein Ende gelangen kann bzw. muss, verursacht emotionale Schmerzen, die den finanziellen Verlust weit übersteigen.

Daraus folgt nicht, jede moralische Verfehlung zu entschuldigen. Aber solange wir nicht die Empathie aufzubringen bereit sind für diejenigen, deren Lebenswerk und das ihrer Vorfahren zerbröselt auf dem Weg in eine andere Zukunft, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn sie sich in ihrem Dorf verschanzen und zu uns herüberrufen: Für eure Zukunft werden wir unsere Gegenwart nicht opfern. Wir werden solche Momente ja noch erleben in den kommenden Jahrzehnten. Heute ist es Ischgl, morgen ein Dorf in einem Brandenburger Braunkohlerevier.

Machen wir dann immer noch unsere Witze?

Liebe Grüße,
Kai

https://www.youtube.com/watch?v=_cgiKevlNQo (Öffnet in neuem Fenster)

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