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Brief #91: Świnoujście

Lieber Kai,

Jetzt hat mein Brief wieder auf sich warten lassen. Und das auch noch bei meinem letzten. Das tut mir schrecklich leid, aber es war tatsächlich ein sehr arbeitsreicher Jahresbeginn, der auch für die nächste Zeit in ähnlicher Schlagzahl so weiter gehen wird. So meine Ausrede, die Wahrheit liegt ein wenig tiefer, siehe unten. Und ich will mich über die Arbeit auch nicht beschweren, ich bin froh, einen Job zu haben (bei teilweise fabelhaftem Wetter, trotz der Jahreszeit) - ansonsten geht es der Filmindustrie in Deutschland gerade nicht so gut. Es wird insgesamt viel weniger gedreht, gerade die amerikanischen Produktionen kommen, u.a. durch den SAG / SWGA Streik letztes Jahr (Öffnet in neuem Fenster) , nicht so richtig aus dem Quark. Jetzt also bin ich wieder am Drehen, gerade war ich dafür in Swinemünde. 

Swinemünde ist eine sonderbare Stadt. Erst einmal heißt sie gar nicht so. Sie heißt heute Świnoujście und ist polnisch.Der deutsche Name kommt aber nicht von ungefähr, denn polnisch war die Stadt nicht immer: Bis 1945 gehörte Swinemünde zum Deutschen Reich. Theodor Fontane verbrachte Teile seiner Kindheit dort, die Handlung von Effi Briest findet dort statt.

Dann kam der 2. Weltkrieg, der am 12. März 1945 Swinemünde, einst das drittgrößte Kurbad Deutschlands, in ein Trümmerhaufen verwandelte (Öffnet in neuem Fenster). Innerhalb einer Stunde wurde die Stadt komplett zerstört, sie war nicht wiederzuerkennen. Tausende, auch viele Geflüchtete, die vor der Roten Armee flohen und über den Hafen weiter in den Westen kommen wollten, starben im Bombenhagel.

Das alles, wenige Monate vor Ende des Kriegs. Als das Kriegsende dann eintraf, gab es im Oktober 1945 die nächste Konsequenz für Swinemünde: Eine neue deutsch-polnische Grenze wurde gezogen, womit Swinemünde zum ersten Mal Teil des polnischen Staatsgebiet wurde. Die dort lebenden Deutschen wurden größtenteils aus den Gebieten vertrieben, Menschen aus dem polnischen Inland dazu motiviert, in die leeren Häuser einzuziehen. 

Es gab lange Zeit gar kein kollektives Gedenken an den 12. März. Wie auch: Nicht viel vom alten Swinemünde hat mit dem neuen zu tun. Viele flohen aus Nazi Deutschland. Viele starben. Andere wurden vertrieben. Und außerdem: Zu zerrissen war die Geschichte Swinemündes nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Erst nach dem Fall des eisernen Vorhang begann eine kollektive Auseinandersetzung mit der Geschichte, in der DDR war eine Aufarbeitung mit der Zerstörung der Stadt nicht möglich, die Nennung Świnoujście als Swinemünde quasi verboten.

Das ist alles schon sehr bemerkenswert, finde ich. Heute ist Świnoujście die einzige polnische Stadt auf der Insel Usedom. Die Grenze verläuft fließend, am Strand kannst du von einem Land ins andere spazieren, nebenan gibt es einen sehr gut ausgebauten Fahrradweg. Auch das Fahren über die Grenze ist hier Alltag. Dennoch ist Świnoujście keine Stadt, die einen Zweifel daran lässt, dass sie polnisch ist.  Für mich gibt es zwei Dinge, über die ich hierbei nachdenke:

Einerseits bin ich froh, dass wir knapp achtzig Jahre nach dem 2. Weltkrieg nirgendwo eine ernstzunehmende Diskussion darüber führen, dass Swinemünde mal deutsch war. Und auch der Austausch unter Deutschen und Polen ist hier insgesamt freundlich und von friedlicher Ko-Existenz und kapitalistischer Abhängigkeit geprägt: Während viele Deutsche in Swinemünde Urlaub machen oder tanken gehen, haben viele Restaurants und Hotels auf deutscher Usedom-Seite polnische Angestellte. 

Die andere Sache, über die ich nachdenke, ist die Tatsache, dass für all das gerade einmal achtzig Jahre vergangen sind. Achtzig Jahre, was ist das schon? So schnell kann Geschichte sein. So schnell können alte Gewissheiten nicht mehr zählen.

Dies beschäftigt mich deshalb, weil ich auch jetzt gerade spüre, wie alte Gewissheiten ins Wanken geraten. Es fühlt sich so an, als wären meine alten Gewissheiten ein Jenga Turm,  aus dem jedes Jahr neue Bausteine herausgezogen werden. Corona, Ukraine, Gaza/Israel (in der jetzigen, komplett desaströsen Form), die zerfallende Demokratie in den USA, der Aufstieg der Rechtspopulisten allgemein - das sind alles kleine Bausteine. Und ich frage mich immer mehr: Wie viele Bausteine stecken eigentlich noch in meinem Jenga-Turm? Wann kippt der Turm um? 

Ich sehe es genau so wie du, dass wir mitten in der Veränderung sind und wir uns entscheiden müssen, ob wir einen Beitrag zur Veränderung leisten. Aber ich gebe zu, dass das, was gerade drum herum passiert, mich überfordert und ich mir auch die Frage stelle, wo das Ganze hingehen wird. So viel Wanken gab es für mich einfach noch nicht. 

Ich hab letztes Wochenende die Gedenkstätte von Golm besucht. Das findest du direkt hinter der südlichsten deutsch-polnischen Grenze auf der Insel, die du mit dem Fahrrad überqueren kannst. Golm ist die höchste Erhebung auf Usedom und heute der Ort des Kriegsgräberdenkmals. Es ist ein sehr friedlicher Ort, der viel Anschauungsmaterial aufgearbeitet hat, um die Opfer des 12. März zu porträtieren. Von hier hast du eine wunderbare Aussicht über den polnischen Teil der Insel.  Früher war hier mal ein beliebter Pavillon. Naja, das war alles einmal.

Es ist für mich unvorstellbar, wie sich hier innerhalb so kurzer Zeit das Leben für immer verändert hat. Was für Entscheidungen diese Menschen innerhalb weniger Minuten treffen mussten, um ihr Leben zu bewahren! Flucht, Auswanderung. Viele, die es nicht wahrhaben wollten, wurden mit dem Tod bestraft. Und natürlich, während ich das hier schreibe, denke ich an Gaza dabei, die Parallelen liegen auf der Hand. Und es macht mich traurig und paralysiert mich, genauso wie der 7. Oktober es tat. Bei all dem Leid, wo bleibt die Hoffnung? 

Ich hoffe, ich kann diese Zeilen schreiben und dieses Beispiel nehmen, ohne geschichtsvergessen zu wirken. Ich möchte in diesem Brief ohne den Passus “Aber die Nazis-” auskommen, ich denke, wir können uns den dazu denken. Ich möchte nicht Leid gegeneinander aufwiegen, sondern von diesem konkreten Beispiel sprechen, das ich jetzt erst erfahren habe. Ich möchte sagen können, dass an diesem Tag viele Menschen starben und das schrecklich ist. Dass ich es mir nicht einmal vorstellen kann, dass die Stadt, in der ich wohne, innerhalb einer Stunde in ein Trümmerfeld verwandelt wird. Diese Konsequenzen vom Krieg kann ich mir nicht vorstellen, so schrecklich finde ich sie. Und genauso geht es mir, wenn ich über den 7. Oktober 2023 nachdenke, genauso geht es mir, wenn ich an Gaza denke. Oder an die Ukraine.

Ich habe mich meinungstechnisch ziemlich zurückgezogen in den letzten Monaten, auch in unseren Gesprächen. Auch dieser Brief fällt mir schwer. Ich möchte mich auch nicht gegen Israel positionieren, weil es für mich unvorstellbar (Öffnet in neuem Fenster) ist, was am 7. Oktober passiert ist. Ich kann nicht begreifen, wie groß die Narbe ist, die dieser Tag hinterlassen hat. Heiße ich deshalb gut, was im Gaza-Streifen gerade passiert? Nein, natürlich nicht. 

Wie ist Versöhnung möglich? Wie können die Gräben überwunden und die Narben endlich heilen? Wird in Gaza jemals das möglich sein, was ich gerade in Swinemünde erlebt habe? Oder in Mariupol? Der Vergleich alleine wirkt schon grotesk. Aber wenn ich sehe, was für Veränderungen in der heutigen Zeit in wenigen Monaten möglich ist, wie stark alte Wahrheiten ihre Gültigkeit verlieren, so möchte ich die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie auch in die andere Richtung wirken kann. 

Laut Nietzsche ist Hoffnung die Büchse der Pandora. Das kann ich nachempfinden. Aber gleichzeitig steckt in jeder neuen Begegnung, in jedem neuen Gespräch die Chance, es ein bisschen besser zu machen. Ich habe vor fast genau einem Jahr die wohl wichtigste Begegnung meines Lebens gemacht, als meine Tochter geboren wurde. Sie ist für mich die Erinnerung, dass die Puzzleteile der Welt noch in Bewegung sind. Also lass uns achtsam umgehen, worauf wir Einfluss haben und trotz unserer Unzulänglichkeiten, Fehler und Rückschläge versuchen, in unserem Mikrokosmos mit Wärme und Liebe dafür zu sorgen. Das bleibt eine stetige Herausforderung ohne Ziellinie, ja, aber wohl das beste Mittel, in einer Welt voller Unheil nicht den Kopf zu verlieren. 

Danke für die schöne Zeit hier und den schönen Austausch. Es hat mir sehr viel Freude bereitet und gab mir dringend benötigtes Seelenfutter. Zum Glück endet unsere Reise nicht damit. Deshalb freue ich mich auf unsere gemeinsamen Abenteuer, die da noch so vor uns liegen. 

Dein Sven

P.S. Andrea Lazlo de Simone - Conchiglie

https://www.youtube.com/watch?v=QbxvpznBMuQ (Öffnet in neuem Fenster)

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