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Brief #90: Vom Ende der Illusion

Mein lieber Sven,

für mich geht ein Jahr zu Ende, das so viele Momente hatte, in denen ich fassungslos aus dem Fenster guckte, dass ich allein damit drei Briefe an Dich füllen könnte.

Ich will es daher bei einem Moment belassen. Es war Ende Juli. Das israelische Parlament hatte gerade seine Justizreform verabschiedet, von der viele Menschen überzeugt sind, dass sie, würde sie Wirklichkeit, Israel in eine Autokratie verwandeln würde. An einem Mittwochabend wurde ich Zeuge einer Gesprächsrunde im Deutschlandfunk, in der zwei Menschen aus Israel zugeschaltet waren. Der eine Schriftsteller und Musiker aus Haifa, die andere Korrespondentin für ZEIT Online in Tel Aviv. In der Diskussion fielen Sätze wie „Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Situation ohne Blutvergießen ausgehen kann.“ und „Die israelische Gesellschaft war noch nie so gespalten.“ Ich kann mich noch sehr deutlich daran erinnern, wie ich nach dieser Stunde lange sitzen blieb und es mit der Angst zu tun bekam.

Für mich war dieses Gespräch nicht nur so beängstigend, weil ich mich fragte, wohin um Gottes Willen dieser seit Jahrzehnten währende Konflikt steuern würde. Sondern auch, weil mir das Stadium, in dem die israelische Gesellschaft angekommen war, erschien wie ein Symbol einer grundsätzlichen Entwicklung, die über Israel weit hinaus weist. Der Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hatte sich, um zum gefühlt 23. Mal eine Regierung bilden zu können, mit Rechtsextremen eingelassen, die noch vor Jahren als Randalierer galten, die man von der Verantwortung so weit fern halten muss wie einen Bullterrier von einem Kinderspielplatz. Sie denken auf der Grundlage kochenden Bluts und sind eine Karikatur des Kategorischen Imperativs von Immanuel Kant. Der hatte einst erklärt, man solle so handeln, dass das eigene Verhalten zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könne. Männer wie der Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir machen dagegen Politik mit der Maßgabe: Agiere so, dass dein Verhalten zu einer Gesetzgebung führt, von der nur du und dein Stamm profitieren – und mache dich blind gegenüber den Folgen. Wir first – der Hermetische Imperativ des Itamar Ben-Gvir. Mit dieser Haltung ist er der Kopf einer imaginären internationalen Partei von Egoisten, Zynikerinnen, Assozialen und Wahrheitsverdreherinnen, die nur sich selbst im Blick haben und nicht wahrhaben wollen (oder können), dass die Welt nicht aufhört, sich zu ändern, wenn man es ihr befiehlt. Die Veränderung kommt dann nur in Form eines Chaos, das sich zunehmend jeder Kontrolle entzieht.

Und dann kam der 7. Oktober.

Der schlimmste Alptraum wurde wahr, den mit seinen Auswirkungen bis auf unsere Straßen auszuhalten schon mir so schwer fällt, dass ich mich nur mit hartnäckig regelmäßigen Meditationsrunden einigermaßen über Wasser halten kann – wie muss es da den Menschen in Gaza gehen, die in einer Hölle leben, aus der es kein Entkommen gibt, oder den Angehörigen jener, die als Geiseln verschleppt wurden, oder den Freunden jener, denen teils in die Vagina geschossen wurde, oder denen, die das Massaker selbst nur knapp überlebt haben. Der Wahnsinn ist aus den Köpfen ausgebrochen und entlädt sich vor unser aller Augen wie ein schweres Gewitter, das Tod und Verwüstung zurücklässt und uns allen die Frage stellt: Wie wollen und wie sollen wir jetzt weiterleben?

Ich mache mir keine Illusionen, Sven. Das Leben, von dem ich selbst geträumt habe, als ich Anfang 20 war, ist vorüber. Genau genommen hatte es nie begonnen. Ich bin groß geworden mit dem trügerischen Versprechen, dass es möglich sei, sich mit Fleiß und Ehrgeiz ein Leben in Wohlstand, Sicherheit und Glück zu erarbeiten. Schon damals, Anfang der neunziger Jahre, gab es Menschen, die warnten, dass so ein Versprechen nur so lange gelte, wie es möglich sei, auch jene miteinzuschließen, die nicht das Glück haben, unter so privilegierten Verhältnissen groß zu werden wie wir in einer der reichsten Industrienationen der Welt. Und schon damals galt dieses Versprechen insgeheim vor allem für jene, die in einer privilegierten Gesellschaft zusätzlich privilegiert sind. Weil sie Männer sind. Weil sie in eine Schicht geboren werden, in der sich materielles und geistiges Vermögen weitervererbt. Weil sie weiß sind. Weil sie in einer Familie groß werden, die über viele Generationen in stabilen Verhältnissen gelebt hat. Kurz: weil sie das Glück haben, die Vorteile einer freien Gesellschaft zu genießen und von den Nachteilen verschont zu bleiben, weil die sich in Stadtteilen, Schichten, Verhältnissen, Ländern weit entfernt abspielen.

1992 fand der sogenannte Erdgipfel in Rio de Janeiro statt. Er war der Versuch, die Ungerechtigkeit zu adressieren, die entstanden war, weil sich der globale Norden auf Kosten des globalen Südens bereichert hatte – mit der Folge, dass gerade diejenigen am meisten unter den Folgen eines Fortschritts zu leiden hatten, der auf dem Verfeuern fossiler Brennstoffe basiert, die am wenigsten dazu beigetragen hatten. Der Gipfel war eine Einladung zum Innehalten, zum Nachdenken und zum Verhandeln darüber, was es braucht, damit Gerechtigkeit entstehen kann, die das Überleben der gesamten Menschheit sicherstellt und nicht nur derer, die sich SUVs leisten können, damit sie auch im Straßenverkehr über dem Rest thronen können.

Drei Jahre später traf sich die Weltgemeinschaft der Warnerinnen und Warner zum ersten Klimagipfel in Berlin. Knapp 30 Jahre später sind wir vor allem insofern weitergekommen, als sich die westliche Vorstellung von Wohlstand weiter über den Planeten verbreitet hat, nicht aber die Vernunft, die eigenen Interessen einzusortieren in eine Idee von Gemeinwohlstand, die alle Menschen gut leben lässt und nicht nur die, die sich taub stellen gegenüber den Interessen der Unterprivilegierten. Deutschland ist Exportweltmeister und eines unser wichtigsten Exportgüter ist der Egoismus. Er findet seine Abnehmer überall auf der Welt.

Für mich steckt in diesem Moment, wenige Stunden vor dem Jahreswechsel, daher auch etwas Hoffnungsvolles. Der Abschied von einer Lebenslüge, der ich selbst hinterher gerannt bin wie der Wanderer der Blauen Blume, macht den Blick frei für ein neues Ziel, eine neue Perspektive. Ich erlebe regelmäßig, wo und wie Menschen überall auf der Welt alternative Ideen zum Egoismus produzieren und sie in die Welt schicken. Ich habe von einer Suppenküche in London gelesen, die aus Supermärkten und Restaurants Essen einsammelt und verteilt – und in einer eigenen Küche können Firmen in teambildenden Maßnahmen gemeinsam kochen und das Essen wird dann ebenfalls ausgegeben. In dem Text (Öffnet in neuem Fenster) gibt es noch weitere solcher Beispiele. Auch aus Israel.

Zu diesen Menschen möchte ich gehören, Sven. Ich will mir mit dem endgültigen Abschied von meinen eigenen Illusionen selbst und anderen Mut machen, nicht zu verzweifeln oder aufzugeben. Ein glückliches Leben besteht nicht darin, keinen Schmerz zu erleben. Sondern darin, Schmerzen als etwas anzuerkennen, was zu uns gehört wie Hunger, Durst oder die Sehnsucht, geliebt und gesehen zu werden. Hat man das verinnerlicht, entstehen die Kraft und die Lust, sich selbst als die Veränderung zu begreifen, die man in der Welt selbst erleben möchte.

Den Schmerz umarmen und dabei das Lachen nicht verlieren – das ist mein Vorsatz für 2024. Und ich freue mich, Dich dabei an meiner Seite zu wissen.

Dein Kai

PS: Das war mein letzter Brief an Dich. Nicht, weil mir unser Austausch nichts bedeutet hätte. Im Gegenteil. Ich werde jetzt kurz innehalten, um mich zu fragen, wie ich diesen Vorsatz am besten in die Tat umsetzen kann.

https://www.youtube.com/watch?v=PivWY9wn5ps (Öffnet in neuem Fenster)

(Michael Jackson: Man in the mirror)

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