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Guten Morgen Kai,

Ich hoffe, dir geht es gut. 

Was waren das für sieben Tage? Die Zeit dreht sich wieder so schnell, dass die Wahrheiten vergangener Tage heute schon nicht mehr gelten müssen. Es ist fast genau zwei Jahre her, als wir schon einmal in so einer Situation steckten - am 16. März ging Deutschland in seinen 1. Lock-Down. Jetzt herrscht schon wieder dieses Gefühl von Ungewissheit, von Unsicherheit, von Angst. Diesmal geht es aber nicht um Krankheit, diesmal geht es um Krieg.

Der letzte Sonntag war dann so ein Tag, an dem alte Wahrheiten plötzlich ungültig wurden. Als Olaf Scholz während seiner dreißig minütigen Rede die unumstößlich wirkende deutsche militärische Zurückhaltung vom Tisch fegte, begleitet von stehenden Ovationen im Reichstag.

https://www.youtube.com/watch?v=1T8VtNxBWWA (Öffnet in neuem Fenster)

Scholz wurde sehr gelobt für diese Rede. Endlich ein Schritt aus dem Stillstand, endlich auf der Höhe der Zeit, endlich, endlich, endlich... Ein Befreiungsschlag. So kommentierte fast durchgehend die Presse von links bis konservativ. Ich hingegen fand die Bundestagsdebatte und gerade diese allgegenwärtige Begrüßung des neuen deutschen Militarismus doch sehr erschreckend, sehr beängstigend. Und ich würde lachen, wenn es nicht so erschreckend, nicht so grotesk wäre, dass mich der obige Ausschnitt sofort an eine Szene aus Star Wars: Revenge Of The Sith erinnerte, auch wenn Olaf Scholz nicht mit Darth Sidious zu vergleichen ist.

https://www.youtube.com/watch?v=su0XwTvqkDA (Öffnet in neuem Fenster)

Ich verstehe, warum Olaf Scholz diesen Schritt gehen musste (Öffnet in neuem Fenster). Ich verstehe, dass die Sicherheit Deutschlands so stark gefährdet ist, wie seit dem Ende der Kuba Krise nicht mehr. Dabei geht es nicht nur um Putin, dessen Rolle als Aggressor nun nicht mehr von der Hand zu weisen ist.
Es geht auch darum, dass sich Deutschland nicht sicher sein kann, wie bündnistreu eine französische Armee im Falle einer Präsidentin Le Pen oder eine amerikanische Armee im Falle eines erneuten Präsidenten Trumps 2024 sein würde. Würde Trump in einen Krieg gegen Russland ziehen, wenn NATO-Mitglied Polen angegriffen werden würde? Oder Le Pen? Die alten Wahrheiten, sie gelten nicht mehr. 

Ich verstehe auch, dass diese parlamentarische Geschlossenheit am letzten Sonntag ein wichtiges Signal war für die Welt, um zu zeigen, dass Deutschland mehr kann, als weiche Diplomatie. Dass Deutschland Kante gegen Russland zeigen kann. Selbst die CDU sprang von ihren Sitzen auf, auch einige AfDler applaudierten dem Kanzler (ob man das als gutes Zeichen sehen will, sei mal dahingestellt).

Dennoch trifft mich diese Top-Down Zeitenwende. Denn abgesehen von der Abschreckung gegenüber zukünftigen Invasoren sorgt ein besser ausgestattetes Militär für internationale Begehrlichkeiten. Begehrlichkeiten, die Deutschland zu mehr internationalen Einsätzen bringen könnte, für mehr deutschen Fußabdruck in der Welt. Habe ich eine bessere Idee? Ich habe sie nicht. Aber der Marschschritt, mit dem wir uns hier bewegen, hinterlässt bei mir ein mulmiges Gefühl.
Dass so ein fundamentaler Bestandteil unserer deutschen Außenpolitik an einem Sonntagvormittag von vier größten Parteien einfach so weggewischt wird, zeigt mir, wie fragil auch politische Überzeugungen sein können.
Das beunruhigt mich bei gleichzeitigem vollsten Verständnis durch die jetzige Situation und gepaarter Unkenntnis einer besseren Lösung. 

In deinem Brief schriebst du:

"Deshalb möchte ich daran glauben, dass wir in ein paar Jahren auf diesen Moment im Februar 2022 zurückblicken und sagen werden: Bis dahin haben wir nur davon gesprochen. Aber danach haben wir uns wirklich auf den Weg gemacht." 

Ich weiß ehrlich gesagt nicht Kai, in welche Richtung wir gerade gehen - was dieser Konflikt wirklich auslöst. Ich freue mich aber deshalb aber auch schon auf deinen Brief, weil ich ja weiß, dass du da gerade näher an den menschlichen und sozialen Wundern Berlins bist, wie ich sie leider zeitlich gerade nur im Nachgang mitbekomme. Was ich da aber lese (Öffnet in neuem Fenster), macht mich stolz auf meine Freunde hier und die engagierten Bewohner*innen dieser Stadt. Ich glaube, hoffe, dass da mir eine andere Seite aufgezeigt wird, die vielleicht auch meinen Blick in eine freundlichere, optimistischere Richtung drängen. 

Die Weltordnung zerfällt. Das ist nicht neu, das zeigte sich bereits letztes Jahr in Afghanistan. Im Gegensatz dazu scheint sich die westliche Weltgemeinde nun aber wehren zu wollen. Ausgang ungewiss, Konsequenzen ungewiss. Apropos Afghanistan, dem Land, das wir bei all unseren Sorgen gerade, uns nicht leisten können (Öffnet in neuem Fenster), aus den Augen zu verlieren (Öffnet in neuem Fenster): Da gibt es auf Spotify seit kurzem einen neuen Podcast, der die selbstorganisierte, zivile Luftbrücke aus Kabul zum Thema hat. Er heißt "Inside Kabul Luftbrücke" und basiert auf dem selbst aufgenommenen Material von Journalistin Theresa Brauer und Autor Emran Feroz, die im August 2021, vor sieben Monaten, nicht dabei zusehen konnten, wie kopf- und hilflos Deutschland bei der Luftrettung agierte und sich dazu entschlossen ihre guten Kontakte nutzten, um selbst einen Flieger nach Kabul zu chartern und Menschenleben zu retten. Es ist ein krasses Beispiel, was alles möglich ist, was aus der Mitte der Gesellschaft alles entstehen kann.

Und dennoch: Wie erschütternd es ist, dass der Beginn dieser Tragödie gerade einmal ein halbes Jahr her ist. Und nun stehen wir wieder einmal hier im Westen da, sehen wie ein Land von Krieg und Terror heimgesucht wird. Nun sogar auf europäischem Boden. 

In meinem Herzen stürmt es. Und ich frage mich wirklich Kai, wenn ich all dieses Leid sehe: In welche Richtung werden wir nun gehen? 

Auf meiner Joggingstrecke, die ich seit diesem Jahr doch wieder des öfteren besuche, komme ich auf halber Strecke durch den Treptower Park und umkreise dabei das sowjetische Ehrenmal. Es ist immer wieder ein besonderer Augenblick, wenn die meterhohe Kolossalstatue im Wald erscheint, mein eigener, kleiner Blick auf den 12 m hohen Soldat fällt. Auf den "Befreier", wie die Skulptur heißt. Gestern passierte ich sie beim Sonnenuntergang.

In was für einer erstaunlichen Stadt wir doch leben, in der sowjetische und amerikanische Ehrenmonumente nicht nur erbaut, sondern bis zum heutigen Tag geehrt werden. Ich hoffe, dass kein zukünftiger Konflikt dies je ändern wird. 

Zum Abschied und als Gruß an den gerade beginnenden Tag ein Lied einer von mir sehr geliebten ukrainischen Band. DakhaBrahka, die ihre Musik als ethno-chaos bezeichnen, haben mit dem Lied Весна (Vesna) ein Lied geschaffen, das schon häufiger als musikalischer Körper für meine eigene innere Zerrissenheit diente und diese dadurch nicht nur erträglicher, sondern auch tanzbar gemacht hat.  Und so auch hier, so auch heute. 

Der Text von Vesna (ukr. / rus.: Frühling) stammt von einem alten ukrainischen Lied, indem der Frühling beschworen wird, dass er seine Gaben bringt und somit der kalte Winter überstanden ist. Das war ein beliebter Brauch unter Bauern im 19. Jahrhundert, die am 1. März auf den Feldern die Wiederkehr des Frühlings feierten, mit eigenen Liedern und vielen Blumen. 

Als Operation Vesna bekannt wurde auch die Massendeportation litauischer Bauern und Bäuerinnen durch die UdSSR im Jahre 1948. Innerhalb von 48 Stunden wurden über 40.000 enteignet, abtransportiert und zur Zwangsarbeit in die Gulags gesteckt. 

Und dieser Frühling? 

Ich hoffe, du hast einen wundervollen Sonntag. 

Liebe Grüße

Sven

https://www.youtube.com/watch?v=AObDpJ6xQMk (Öffnet in neuem Fenster)

DakhaBrakha - Vesna

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