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Lieber Sven,

im Sommer 2014 war ich während der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien. Wir mieteten uns zu dritt ein Auto und fuhren vier Wochen lang durchs Land, auf der Suche nach den Menschen und Geschichten, die uns einen Eindruck vermittelten davon, was über Demokratie und Spaltung, über Gerechtigkeit und Ungleichheit zu lernen ist, wenn man sich die Welt durch die Linse eines Spektakels besieht, das wie kein anderes für die perfekte Symbiose aus "Brot und Spiele" und „Nach mir die Sintflut“ steht.

Etwa zur Hälfte unserer Reise zwischen São Paulo und Rio de Janeiro waren wir an einem Samstag in Belo Horizonte. Es war der Tag des Achtelfinales zwischen Brasilien und Chile, das nachmittags um 2 in derselben Stadt angepfiffen werden würde.

Auf einem großen Platz im Stadtzentrum lief ab dem Vormittag eine Demonstration. (Öffnet in neuem Fenster) Wir sprachen mit aufgebrachten Menschen, deren Angehörige bei Bauarbeiten ums Leben gekommen waren, und mit jenen, die die astronomisch hohen Ausgaben aus dem Staatshaushalt beklagten für ein vierwöchiges Spektakel, das eine kleine Clique noch reicher und die Gräben in der brasilianischen Gesellschaft noch tiefer machen würde.

Irgendwann fiel uns eine ältere Frau auf mit rot manikürten Fingernägeln, als habe sie sich nicht zu einer Revolution aufgemacht, sondern zu einem Rendezvous (mit ihrem Foto beginnt dieser Brief). Sie hielt, verstärkt durch scheppernde Boxen, eine zweiminütige Tirade gegen die Polizei, die sich mit Schlagstöcken, Helmen und Maschinenpistolen um die Ränder des Platzes aufgebaut hatte. Danach sprachen wir sie auf ihre Wut an. Sie stellte sich als Cláudia Simões Santos vor, Geschichtslehrerin in einer Favela, und es platzte aus ihr heraus „Wie viel hat das Stadion in Rio gekostet? Wie viel das hier in Belo Horizonte? Und wir haben noch nicht einmal genug Geld, um den Rasen vor unserer Schule zu wässern geschweige denn unseren Kindern Schulbücher kaufen zu können.“

Irgendwann fragte ich sie, ob sie sich denn das Achtelfinale zwei Stunden später ansehen werde, in dem Stadion von Belo Horizonte nur ein paar Kilometer von dem Platz entfernt, auf dem wir standen. Da starrte sie mir entgeistert ins Gesicht: „Wie kann ich mich mit etwas gemein machen, was ich so sehr verachte?“

Eine Stunde später war der Platz wie ausgestorben. Beinahe das ganze Land saß vor einem Fernseher – und wir auch. Während des Spiels musste ich die ganze Zeit an Cláudia denken. Brasilien gewann das Spiel am Ende im Elfmeterschießen. Es war eine große Aufregung – doch es fühlte sich an wie ein großer Verrat.

Seit in der zurückliegenden Woche das Unvorstellbare wahr geworden ist, zucken ständig Blitze durch meinen Kopf. Ich erinnere mich an Texte, in denen Politikerinnen und Politiker schon vor Jahren von der Unselbstverständlichkeit von Frieden in Europa schrieben. Ich sehe die Mahnungen vor mir jener, die sagten: Beteiligt euch und hört auf, vom Rand der politischen Arena ständig nur alles besser zu wissen. Und ich sehe mich selbst, für den der Kampf für eine andere Welt immer nur ein Teil seines Bewusstseins war – ein anderer war für das eigene Wohlbefinden reserviert, und sei es gekoppelt an ein Vergnügen, dessen Wurzeln ich aus vollem Herzen ablehne. Eine Fußball-Weltmeisterschaft war für mich als Kind und Jugendlicher wie ein vierwöchiger Besuch im Vergnügungspark. Doch auch, als mir als Erwachsener klar wurde, dass hinter den Fassaden dieses Parks Menschen ausgebeutet und beraubt und gerade die Werte verhöhnt werden, die mir die wichtigsten sind – Gerechtigkeit, Achtung, Gemeinsinn –, konnte ich es nicht lassen, in diese emotionale Achterbahn zu steigen.

Heute ist ein Rechtsradikaler Brasiliens Präsident. Natürlich ist es zu einfach zu behaupten, seine Wahl sei die Folge von 2014. Aber wenn ich mir die Müllhalde ansehe, die aus dem Finalstadion bereits drei Jahre nach dem Abpfiff geworden war, (Öffnet in neuem Fenster) finde ich es nicht übertrieben zu sagen: Die kollektive Unfähigkeit, wirklich ernst zu meinen, was wir sagen, die Weigerung, für die eigene Vorstellung von einer gerechteren Welt wirkliche Opfer zu bringen, und bestehen sie auch nur darin, sich von einem Fernseher abzuwenden, auf dem eines der größten und sündenreichsten Kommerz-Spektakel unsere Sinne vernebelt und uns einlullt in einer Illusion, an der sich viele bereichern — diese Unfähigkeit bleibt nicht ohne Folgen. Sie führt die echte Welt an Punkte, die sich anfühlen, als sei alle Hoffnung sinnlos. An einem solchen Punkt fühle auch ich mich nun angekommen.

Ich frage mich, Sven: Was war mein Beitrag, um die Welt wirklich zu verändern? Habe ich jene wirklich genug unterstützt, die für Demokratie und für Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Solidarität auf die Straße gegangen sind wie Cláudia Simões Santos? Habe ich mich wirklich genug engagiert für das, was um mich herum passiert – und was nicht? Der ehemalige Piraten-Abgeordnete Christopher Lauer hat schon vor sechs Jahren das Desinteresse beklagt, mit der Menschen die Politik begleiten. Unter der Überschrift "Interessiert euch gefällgst für Landespolitik!" schrieb er: (Öffnet in neuem Fenster)

Gehen Sie ins Parlament! Schreiben Sie einen Abgeordneten an, fragen Sie ihn, was er den ganzen Tag macht! Interessieren Sie sich, bringen Sie sich ein – vielleicht ja sogar ganz altmodisch, indem Sie in eine Partei eintreten.

Ich habe den Text damals gelesen und gefeiert. Bin ich seinem Auftrag gefolgt? Nein. Etwas anderes war immer wichtiger. Und jetzt lese ich Texte von Menschen, die mit sich selbst hart ins Gericht gehen. Die Schriftstellerin Nora Bossong beschreibt in einem Essay, wie sich unsere Generation der Geschmeidigen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ins Private zurückgezogen haben. Sie attestiert meiner Generation ein großes Versagen – zurecht. (Öffnet in neuem Fenster)

In den neunziger Jahren hieß es, der Zusammenbruchs des Ostblocks sei „das Ende der Geschichte“. Der freie Markt und der Kapitalismus hätten gesiegt – es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die westliche Vorstellung von Fortschritt und Wohlstand über die ganze Welt ausbreite. Bis sich am vergangenen Montag der russische Präsident Wladimir Putin wie ein Halbstarker mit schütterem Haar an seinen Tisch im Kreml setzte, neben sich die Telefone, an denen er über Wochen, Monate, Jahre die westliche Welt zum Narren gehalten hatte, und uns wissen ließ: Ende der Geschichte ist, wenn ich es euch sage.

Auch die Menschen in der Ukraine wollten nichts anderes als unserem westlichen Vorbild zu folgen. Jetzt verbringen sie ihre Nächte in U-Bahn-Schächten, weil sie sonst nicht wissen, ob sie am nächsten Tag noch leben. Und Deutschland finanziert mit seinen Rechnungen für Gas aus Russland den ersten Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg mit. Auch, weil die drängenden Bitten über Jahrzehnte ungehört blieben, den Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben – nicht nur, um die Atmosphäre nicht weiter aufzuheizen, sondern auch, um nicht jene Regime weiter zu unterstützen, die sich für ihre eigenen Zwecke unserer Bequemlichkeit bedienen – auf den kurzfristigen Ertrag bedacht und dabei jene Vernunft opfernd, die es bräuchte, um eine Welt wirklich umzugestalten. Nicht in Absichtserklärungen, sondern in konkretem, echtem Handeln. Mit dem Verkauf fossiler Rohstoffe verdient Russland 700 Millionen Dollar – am Tag. Habe ich mich wirklich genug dafür eingesetzt, meinen Teil dazu beizutragen, Russland um diese Einnahmen zu bringen und die Welt nicht nur ökologisch vor dem Untergang zu bewahren, sondern auch moralisch?

Vier Jahre nach unsrem Ausflug nach Brasilien fand die Fußball-WM in Russland statt. Zu Beginn nahm ich mir vor, diesmal durchzuhalten. Keine Sekunde Fußball. Und dann fand das zweite Gruppenspiel der Deutschen am Abend eines Tages statt, an dem eine Seenotrettung-Organisation zu einem Moment des kollektiven Gedenkens eingeladen hatte. Zum Schluss saßen wir alle im Keller vor einer Leinwand und als Toni Kross kurz vor Spielende einen Freistoß ins Tor der Schweden zimmerte, war ich wieder am Jubeln. 

Und Cláudia Simões Santos saß still neben mir und weinte.

Woraus ich nun aber Hoffnung schöpfe, Sven, ist, dass uns der Schock, in dem wir alle stecken, wach schütteln wird. Ich weiß aus meinem eigenen Leben, dass ich immer dann am meisten gelernt habe, wenn ein Schmerz in mich fuhr, der mich erbeben ließ. Der, der ich heute bin, bin ich geworden, weil ich mich jedes einzelne Mal fragte: Was will mir diese Erschütterung sagen? Welche Botschaft ist darin versteckt, die ich nur entschlüsseln muss, um daran zu wachsen? Ich wollte, so tief die Schläge auch waren, nie die Hoffnung aufgeben, weil ich mir immer sicher war: Das Leben wird ein besseres sein, wenn ich mich vor dieser Herausforderung nicht drücke. Ich habe jedes Mal Recht behalten. Deshalb möchte ich daran glauben, dass wir in ein paar Jahren auf diesen Moment im Februar 2022 zurückblicken und sagen werden: Bis dahin haben wir nur davon gesprochen. Aber danach haben wir uns wirklich auf den Weg gemacht.

Damit diese Reise mit der richtigen Fanfare beginnt, beende ich diesen Brief mit dem Song einer Band, die für ihre Musik eine eigene Sprache erfunden hat: vonlenska. Übersetzt heißt sie Hoffnungsländisch.

Was machst Du eigentlich im Dezember während der Fußball-WM in Katar?    

Liebe Grüße,
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=E0wOV-w1ObI (Öffnet in neuem Fenster)

(Sigur Rós – Festival)

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