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Lieber Sven,

vor ein paar Tagen saß ich mit einem Freund auf einer Parkbank im Schatten einer Kirche, mit zwei Bier und einer Dose Erdnüsse zwischen uns. Irgendwann waren unsere Biere leer, der Freund spazierte zurück zum Späti. Ich war natürlich versucht, zu tun, was sich tief in meine Synapsen gebrannt hat: Telefon aus der Tasche, meine inzwischen vier Messenger-Dienste checken, Instagram, ZEIT Online – irgendwo gibt es immer etwas, was das Gehirn braucht, um mich mit dem kurzen Zucken des Zufriedenheitsglücks zu belohnen.

Was haben wir uns da für ein absurdes Bedürfnis geschaffen. Als würden wir alle fünf Minuten zum Briefkasten flitzen, um zu prüfen, ob ein neuer Brief oder eine Postkarte der Geliebten eingetroffen ist, nur um einmal mehr festzustellen, dass wieder nur ein Umzugshelfer seinen nächsten Flyer eingeworfen hat. Womit ich nicht sagen möchte, dass die Nachrichten meiner Freundinnen und Freunde den Unterhaltungswert von Werbezetteln hätten. Im Gegenteil: Gerade dass mich jede einzelne inspiriert oder interessiert, mich zum Nachdenken oder zum Lächeln bringt, ist ja das Problem.

Der Historiker Yuval Harari beschreibt in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ die Evolution als eine seit Jahrtausenden laufende Abfolge von Fortschrittsillusionen. Wir denken, wir machen einen Schritt nach vorn, und merken nicht, dass wir uns nur deshalb voran bewegen, weil wir auf einem Laufband stehen – wir selbst werden mit jedem Zentimeter moderner, aber keinen Millimeter glücklicher. „Der Traum vom besseren Leben fesselte den Menschen ans Elend“, ist einer der Sätze von Harari, die sich mir ebenfalls eingebrannt haben. Wenigstens sind unsere Synapsen mehrfach entflammbar.

Was Harari meint, illustriert er am Beginn der Landwirtschaft vor 20 000 Jahren. Der Mensch begriff, wie er Wetter und Kartoffeln so aufeinander abstimmen konnte, dass er wusste: Was ich heute pflanze, kann ich morgen ernten. Deshalb hatte er irgendwann mehr zu essen und konnte mehr Menschen versorgen als nur sich selbst und seine Liebsten. Einerseits. Andererseits quälte er sich fortan auf Äckern, die er bewirtschaften und bewachen musste, wo er vorher fröhlich als Nomade umher zog und sich dort niederließ, wo es ihm gefiel. Jeder einzelne Mensch merkte nicht, wie er zu einem winzigen Glied einer Kette wurde, die die Menschheit kollektiv im Unglück verband. Ein Elend, aus dem es bald kein Entkommen mehr gab. Die Vielen, die erst dadurch zur Welt hatten kommen können, dass Gemeinschaften mit der Landwirtschaft sesshaft geworden waren, mussten ja versorgt werden.

Und so ging es immer weiter. Wir erfanden die Dampfmaschine und schufen Fortschritt, aber auch Arbeit, die so unmenschlich war, dass viele unter erbärmlichen Bedingungen zu schuften und unter noch erbärmlicheren Umständen zu leben hatten. Wir ersannen Kunststoffe, um Komfort und Eleganz auch für jene erschwinglich zu machen, die sich keine Seidenstrümpfe und kein Porzellan leisten konnten, und ertranken bald im Plastikmüll. In jedem Wohlstandsversprechen steckte auch eine weitere Verwahrlosung von Glück.

Die Wirtschaftsforschung hat den Begriff „Rebound-Effekt“ erfunden, man sagt auch Bumerang-Effekt dazu: Durch Innovation und Erfindungsreichtum werden unsere Technologien immer effizienter, wir sparen dadurch für Herstellung und Betrieb wertvolle Ressourcen ein. Doch die Einsparungen machen wir dadurch zunichte, dass wir Produkte entwickeln, die umso mehr Ressourcen verbrauchen. Dadurch, dass wir etwa Motoren erfinden, die immer weniger Benzin verbrauchen, aber umso schwerere Karossieren antreiben, schaffen wir materielle Rebound-Effekte. Wir kreiren aber auch metaphysische: Wir haben die Email erfunden, mit der wir in Echtzeit mit der ganzen Welt kommunizieren können und nicht mehr für jede Botschaft einen Brief schreiben müssen. Dafür verbringen wir heute jeden Tag Stunden damit, digitale Stapel abzutragen. Und wir können uns mit dem Smartphone Nachrichten schicken, als wären unsere Gehirne in einem nie mehr endenden Stand-by-Modus für immer miteinander verbunden. Aber umso mehr dürsten unsere Seelen nach Ruhe. Mein Telefon ist nichts anderes als ein formschöner Bumerang, der, egal, wie weit ich ihn wegzuwerfen versuche, mir jedes Mal wieder vors Gesicht fliegt und mich verführt: Fass mich an. Spiel mit mir. Ich bin dein bester Freund.

Als mein wirklicher Freund, der echte vor der Kirche, für neues Bier verschwunden war, erinnerte ich mich aber an Deinen Brief, Sven, und das Ma. Ich hielt inne, ließ das Telefon in der Tasche und sah in die Bäume. So lange, bis einer angerannt kam, sich direkt vor die Kirchenwand stellte und sich bekreuzigte. Um dann gegen die Mauer zu pinkeln. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Mittelstrahls.

Ich bin Dir aber nicht nur für diese Beobachtung dankbar. Ich glaube auch, dass die Perspektive, die Du vorschlägst, auch für etwas Anderes hilfreich ist: Wir müssen noch viel stärker das Politische mit dem Persönlichen verbinden. Nur dadurch können wir nach meiner Überzeugung so über unsere Welt nachdenken, dass wir zu einem Glied der Lösung werden können. In dieser Woche zum Beispiel ist etwas sehr Bemerkenswertes passiert. Annalena Baerbock sprach über die logische Konsequenz eines höheren CO₂-Preises, der seit nunmehr Jahrzehnten in der gesamten Wissenschaftswelt als einziges Instrument und gleichzeitig unsere einzige und letzte Chance gilt, uns zur Besinnung zu bringen. Beim Klimagipfel 2015 in Paris etwa schlich James E. Hansen über die Flure, der große alte Mann der Klimaforschung, heute weit über 80 Jahre alt, von 1981 bis 2013 Direktor des „Goddard Institute for Space Studies“ der NASA und Professor für Erd- und Umweltwissenschaften an der Columbia University. Bereits Anfang der achtziger Jahren warnte Hansen in einer vielbeachteten Science-Studie (Öffnet in neuem Fenster) eindringlich vor den Gefahren der globalen Erwärmung. 35 Jahre später sagte Hansen in Paris: „Wir können noch hundert Jahre mit Klimagipfeln verbringen. Solange es nicht teurer wird, Treibhausgase auszustoßen, wird sich nichts verändern.“ – so wie er es in einem Paper im Jahr 2008 schon beschrieben und gleichzeitig gefordert hatte, dass die Einnahmen durch eine CO₂-Steuer an die Menschen zurückgegeben werden müssen, damit vor allem diejenigen mehr bezahlen müssen, die einen größeren ökologischen Fußabdruck haben. Sie sind in der Regel ja auch diejenigen, die sich schwerere Autos, mehr und längere Flugreisen und größere Wohnungen leisten können.

Die grüne Kanzlerkandidatin Baerbock sagte insofern etwas schrecklich Banales: Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst meinen, muss das Benzin absehbar teurer werden. Was folgte, war eine Heuchelei, (Öffnet in neuem Fenster) die nicht anders zu erklären ist als mit der persönlichen Überforderung unseres politischen Spitzenpersonals. Olaf Scholz (SPD), Amira Mohamed Ali (Linke), Christian Lindner (FDP), Saskia Esken (SPD), Markus Blume (CSU): Einer übergroßen Koalition von FDP bis Links-Partei kam die Gelegenheit gerade recht, die Grünen zum 2871. Mal als die Partei zu präsentieren, der die Nöte jener gleichgültig sind, die auf ihr Auto angewiesen sind. Ungeachtet der Tatsache, dass die scheingroße Koalition erst vor wenigen Wochen in Folge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum teils verfassungswidrigen Klimaschutzgesetz selbst einen höheren CO2-Preis beschlossen hatte und etwa bei FDP oder Union die Nöte auf wundersame Weise da unsichtbar werden, wo sie sich nicht in die Logik der eigenen Wählerwerbung einmassieren lassen: Seit 1986 sind die Kosten für Wohnen um 74 Prozent gestiegen, die für Benzin um 14 und die für Diesel um 16 Prozent gesunken (Öffnet in neuem Fenster). Aber wo das Kalkül spricht, hat die Redlichkeit zu schweigen. Und seien die Folgen auch noch so fatal. Denn absehbar werden nur die radikalen Ränder profitieren und unsere Demokratie zu einer Arena verkommen, die wir nach außen verschotten und nach innen verwüsten. Wer möchte in so einer Gemeinschaft leben?

Ein guter Freund twitterte anschließend:

https://twitter.com/oetting/status/1400783105955401729?s=20 (Öffnet in neuem Fenster)

Ich finde diesen Hinweis hilfreich. Denn wenn nicht einmal die existentiellste Krise in der Geschichte der Menschheit zu einem Moment des Ma führt, der die notorische Lust am Lügen löscht, wird es keine Krise vermögen. Bereits 16 Cent sind eine Herausforderung, an der wir scheitern. Wir sind schlicht nicht in der Lage, uns dieser Krise so zu stellen, dass wir sie aktiv beheben könnten. Wir werden immer nur mit jeder weiteren Katastrophe reagieren können. Aber wie sollen wir darüber nicht verrückt werden vor Verzweiflung, Wut und Sorge?

Heute morgen lagen auf meinem Balkon ein paar vertrocknete Blätter. Sie stammten von einem Baum vor meinem Haus, der mir über die Jahre zu einem guten Freund geworden ist. Ich sah in seine Äste und entdeckte viele weitere Blätter, die bereits abgestorben sind. Wie bei einer Pflanze im Wohnzimmer, die man vergessen hat zu gießen.

Voller Trauer saß ich beim Frühstück. Es fühlte sich an, als hätten wir alle eine schwere Krankheit, bei der wir uns inzwischen schon große Mühe geben müssen, um sie nicht zu sehen. Wir haben uns mit etwas infiziert, was wir mit viel Kraft und Spucke, aber auch nur mit Glück noch werden heilen können. Doch ich kann dabei nicht allen böse sein, die nicht willens oder in der Lage sind, so genau hinzusehen, dass die vertrockneten Blätter vor ihnen sichtbar werden. Sonst werde ich selbst auch noch krank. Damit ist auch niemandem geholfen. Und jetzt klappe ich meinen Computer zu, lege das Telefon weg und höre einen Song, von dem der, der ihn geschaffen hat, selbst sagt: „It’s a song about ending, even if the ending doesn’t necessarily represent finality. I know that might sound paradoxical, but it makes sense to me.“

Auf dass ein Ende ohne Endgültigkeit auch für uns Sinn zu ergeben beginnt,
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=jku9ythSbAM (Öffnet in neuem Fenster)

(Moby: The Last Day – Reprise Version)

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